Jutta Weber - Angepasste Monologe. Über die Konsequenzen radikaler De-Ontologisierung und konventioneller Performanz

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Jutta Weber - Angepasste Monologe. Über die Konsequenzen radikaler De-Ontologisierung und konventioneller Performanz
Title Jutta Weber - Angepasste Monologe. Über die Konsequenzen radikaler De-Ontologisierung und konventioneller Performanz
Author Jutta Weber
Date of Publication 1998
Published in Ethik und Sozialwissenschaften
Location Opladen
Jutta Weber - Angepasste Monologe. Über die Konsequenzen radikaler De-Ontologisierung und konventioneller Performanz



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Jutta Weber – Angepaßte Monologe? Über die Konsequenzen radikaler De-Ontologisierung und konventioneller Performanz

((0)) ….. und die Geschichten in der Wissenschaft sind nicht gleich gut.... Ich meine vielmehr, daß das Bemühen, gute Geschichten zu konstruieren, ein wesentlicher Teil des Handwerks selbst ist.“ (Haraway 1995,139)
((1)) Der Nutzen und Nachteil der Epistemologie des Radikalen Konstruktivismus ist in den letzten Jahren ausführlich diskutiert worden. Da ich in dem vorliegenden Artikel von v. Glasersfeld keine grundlegenden Revisionen des »epistemologischen Untergrunds« dieser Theorie erkennen kann, werde ich meine Kritik auf drei zentrale Punkte beschränken.

((2)) Wichtig erscheint mir eine (nochmalige) Auseinandersetzung mit dem Postulat der De-Ontologisierung sowie mit dem folgenreichen methodischen Individualismus dieser Wissenstheorie. Abschließend möchte ich auf ihre performativen und rhetorischen Strategien eingehen, welche mir auf weiten Strecken dem eigenen relationistischen Geltungsanspruch zuwidersprechen scheinen.

Entmaterialisierung als kopernikanische Wende

((3)) Von Glasersfeld leitet sein Essay mit der Frage nach der Erkennbarkeit von Welt bzw. von Realität - verstanden als den ontologischen Bereich - ein und versucht eine agnostische Haltung zu formulieren: „Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, daß wir sie nicht rational erfassen können.“ ((58)) bzw. „»Realität« hingegen ist... eine Fiktion ... [Es] gibt... für uns keine Möglichkeit herauszufinden, ob unsere Vorstellungen »Dinge« repräsentieren, die in einer realen Welt »existieren«, geschweige denn, ob sie diese »wahrheitsgetreu« wiedergeben.“(von Glasersfeld 1997,47)

((4)) Nun ist gerade die Behauptung einer vom Erkenntnissubjekt unabhängigen, aber a priori unerkennbaren Welt sowohl eine höchst metaphysische als auch ontologische Aussage (Lenk 1995, Rödig 1994, Weber 1996). Mit der Behauptung des Hiatus zwischen Erkenntnissubjekt und Objekt – der nicht einmal durch ein Als-Ob gemildert wird - versucht v. Glasersfeld einen zentralen Dualismus theoretischen Denkens stillzustellen und durch einen subjektzentrierten Monismus zu ersetzen: „Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder »Repräsentation« einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.“ ((1))

((5)) Zur Akzentuierung und Legitimierung des eigenen Ansatzes wird auf nicht weiter spezifizierte naiv-realistischeTheorien verwiesen, die sich höchstens in vulgären und altbackenen Varianten des Marxismus, Behaviourismus oderFunktionalismus finden. Aktuelle Theorieansätze betonen bei der Frage nach der Produktion von Wissen eher den Stellenwert diskursiver Praktiken (Foucault), der Effekte symbolischer Ordnung (Derrida), der Situiertheit des Wissens (Haraway) oder der epistemischen Gemeinschaften (Longino). Diemeisten erkenntnis- bzw. wissenstheoretischen Ansätze des20. Jahrhundert zeichnen sich gerade durch einen hohen Gradan Reflexivität bezüglich der Frage der Repräsentation bzw. Referenz aus. Die »Überwindung« des simplen Korrespondenzmodells durch v. Glasersfeld kann nur deshalb als eine zweite kopernikanische Wende (sic!) zelebriert werden, weil zuvor pauschal fast die komplette Philosophiegeschichte des naiven Realismus verdächtigt wurde.

((6)) Doch gerade vielen zeitgenössischen kritischen Theorien ist das Motiv der Denaturalisierung (vgl. Jardine 1985) zentral, an das die von v. Glasersfeld geforderte De-Ontologisierung erinnert. Das Verfahren der Denaturalisierung kritisiert den reifizierenden und naturalisierten Gebrauch von Kategorien und betont ihre soziale wie kulturelle Konstruktion und ihre sprachliche Verfaßtheit - im Versuch, keine ontischen Aussagen zu machen. Von Glasersfelds epistemologische Konzeption überschreitet dieses Programm der De-naturalisierung, insofern er trotz des Anspruchs auf De-Ontologisierung sich nicht der Aussagen über die Verfaßtheit der Welt enthält, indem er u.a. ihre Unerkennbarkeit postuliert. Das legt die Schlußfolgerung nahe, daß die Welt nicht rational strukturiert ist - anderenfalls wäre sie für uns erkennbar. Die ontologische Aussage der Irrelevanz von Welt, Natur oder Realität und der alleinigen Produktion von Wirklichkeit durch die jeweilig subjektiven Konstruktionen und Konstrukte mündet in die theoretische Figur der Entmaterialisierung, die sich in vielen zeitgenössischen Theorien als »Lösungsvorschtag« für das Referenzproblem erdet (Weber 1998):

((7)) Leider wird damit keine dritte Stellung des Gedankens bzw. des Subjekts zur Gegenständlichkeit exemplifiziert, sondern jener Pol der klassischen epistemologischen Diade eliminiert, der in Spielarten des Idealismus schon immer als das Mindere, Vemachlässigbare und Lästige galt: die Seite des Objekts, des Materialen, des Nicht-Ichs (Adorno 1982).

((8)) Doch auch der Radikale Konstruktivismus kommt nicht ganz ohne Bezug auf »Realität«, auf Objektivität aus, kann diese allerdings nicht als historisch gewordene und kontingente fassen. Über das naturalistische (und universale) Argument der kognitiven Anpassung an die Tatsachen ((24)) und der „natürlichen Auslese“ des Nichtangepaßten ((26)) wird Performanz diese durch die Hintertür wieder eingeführt. Da aber Anpassung an die »Tatsachen« kein aktiver Prozeß ist ((26)) und ergo auch nicht »erfahrbar« ist, bleibt es ein Rätsel, wie wir von dieser Anpassung wissen können.

((9)) Konsequente Schlußfolgerung dieser naturalistischen These von der kognitiven Anpassung wäre zudem, daß unser heutiges Wissen Produkt eines intemalistisch vermittelten und zugleich evolutionären Fortschritts ist - der zunehmenden Anpassung der kognitiven Prozesse an die Anforderungen unserer Lebenswelt: Wie beruhigend, daß wir in der bestmöglichen der von uns konstruierbaren Welten leben.

Angestrengte Äquilibration fungibler Subjekte

((10)) Um genauer zu sein: Ein jeder von uns lebt in der bestmöglichen, von ihm konstruierbaren Welt. Durch die Konzentration auf individuelle kognitive Prozesse gerät v. Glasersfeld in den Verdacht des Solipsismus, denn nicht nur der lästige Bezug auf die nicht-menschliche, gegenständliche Welt, sondern auch die nicht zu vermeidende intersubjektive Verständigung scheint nicht mehr zu sein als monologische Projektion: „In meiner Erfahrungswelt komme ich nicht zurecht, wenn ich unter meinen Konstrukten nicht auch Wesen konstruiere, die ähnlich wie ich wahrnehmen... Will ich nun das Verhalten dieser »Anderen« vorhersagen - was im Hinblick auf mein Äquilibrium... schlechthin notwendig ist, dann muß ich mir die Gedankengänge ausmalen, die ihr Verhalten bestimmen." (von Glasersfeld 1997,59)

((11)) Der methodische Individualismus von v. Glasersfeld, in dessen Epistemologie das autonome Subjekt des Liberalismus Wiederauferstehung feiert, resultiert in seiner gleichzeitigen Hypostasierung wie Nivellierung: Auf der einen Seite sind die Subjekte als Erzeuger ihrer Konstruktion namens Wirklichkeit omnipotent und „letzten Endes für alles verantwortlich, was man in der physischen wie in der begrifflichen Welt konstruiert (von Glasersfeld 1997, 59). Auf deranderen Seite erscheint dieser Zeugungsakt als ängstliches Bemühen und harmonistisches Bestreben, jegliche Widersprüche und Konflikte zwischen der eigenen kleinen subjektiven Welt und den überraschenden oder auch widrigen Erfahrungen mit den »Tatsachen«, dem Nicht-Ich zu glätten.

((12)) Anschaulich scheint mir allerdings diese Kognitionstheorie die Aporien und Widersprüchlichkeiten subjektiver Erfahrung in einer Welt zunehmender Beschleunigung und Komplexität im Zeitalter der Technoscience [1] zu beschreiben. Das angestrengte Bemühen um Äquilibration wird notwendig in einer Welt, in der traditionelle von individueller Erfahrung und Identität in Widerspruch geraten mit den gesellschaftlichen Anforderungen bzgl. der Flexibilität und Fungibilität der Subjekte. Diese Anforderungen machen genau jene Konstruktions- und Projektionsfähigkeiten erforderlich, die im Radikalen Konstruktivismusals Wesen allgemein menschlicher Kognitionsprozesse erklärt werden.

Rhetorischer Realismus? Über Selbstreflexivität und Performanz

((13)) Von Glasersfeld Theorie betont explizit die eigene relationistische Positionierung: „Der Konstruktivismus darf nicht als Beschreibung einer realen Welt betrachtet werden. Er macht keinerlei ontologische Behauptungen, sondern schlägt lediglich ein Denkmodell vor...“ ((64)). Aber das zuvor in seinem Essay vorexerzierte konventionelle Repertoire rhetorischer und performativer Strategien spricht eine ganzandere Sprache: Es werden unter der Hand Aussagen mit uni-versalen Geltungsanspruch formuliert und mit autoritativer Stimme vorgetragen. Eine relationistische Position verwickelt sich aber in heftige Selbstwidersprüche, wenn sie in klassischer Manier auf ihrer wissenschaftlichen Autorität besteht und nicht vermittels Selbstreflexivität den eigenen situierten und spezifischen Ort deutlich macht.

((14)) Hinterrücks wird der Anspruch auf einen archimedischen Punkt des Beobachters bzw. des „god's view“ (Haraway1997) reproduziert Das trockene Versichern am Ende, daß die eigene Theorie auch nur ein Modell unter vielen wäre, kann das wohl nicht wettmachen: „Eine reflexive Haltungimpliziert durchaus, die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf die Konstruiertheit der eigenen Erkenntnisse zu richten ..." (Taschwer 1993, 85)

((15)) Einen Essay in autoritativem oder gar apodiktischem Ton zu verfassen - ich denke dabei an Formulierungen wie „Es gibt... keine Möglichkeit herauszufinden,..." (von Glasersfeld 1997, 47) oder „Will ich nun ... vorhersagen, was ... schlechthin notwendig (!) ist, dann muß ich..." (von Glasersfeld 1997,59) - soll die Evidenz der eigenen Schlußfolgerungen, ihre Stringenz und zwingende Logik suggerieren.

((16)) Auch die Errichtung Potemkinscher Dörfer durch die vehemente Abgrenzung von anderen möglichst reduktionistischen und naiven Theorien und das Verschweigen differenzierter Debatten gehört zu diesem Repertoire. Dieses Vorgehen läßt die eigene Theorie in umso vorteilhafteren Licht erscheinen und ermöglicht es dem Autor, als großer Überwinder jahrhundertealter Irrtümer aufzutreten: „In der... Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um... Der radikale Konstruktivismus bricht mit dieser Auffassung..." ((1)). Wer würde nicht gerne das Rad noch einmal erfinden?

Literatur

Adorno. Theodor W. (1982): Negative Dialektik. Frankfurt a.M. (l.Aufl, 1966)
Foucault, Michel (1972): Die Ordnung des Diskurses. München
Haraway, Donna (1995): Primatologie ist Politik mit anderen Mitteln. In: B. Orland / E. Scheich (Hg.): Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträ-ge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften. Frankfurt a.M., S.136-I98
Haraway, Donna J, (1997): Modest_Witness@Second_Millenium. Female Man‘_Meets_OncoMouseTM. Feminism and Technoscience. New York / London
Jardine, Alice (1985): Gynesis. Configurations of Woman and Modernity. lthaca/ London
Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer sym-metrischen Anthropologie. Berlin
Lenk, Hans (1995): Interpretation und Realität. Vorlesungen Uber Realis-mus in der Philosophie der Interpretationskonstruldc. Frankfurt a.M.
Longino, Helen E. (1990): Science as Social Knowledge - Values andObjectivity in Scientific Inquiry. Princeton
Rödig, Andrea (1994): Ding an sich und Erscheinung. Einige Bemerkun-gen zur theoretischen Dekonstruktionen von Geschlecht. In: Feministische Studien 2/1994, S.91-99
Taschwer, Klaus (1993): Erkenntnisse über die (sozialen) Konstruktionen von Erkenntnissen. Beobachtungen der neueren Wissenschaftsforschung. Unveröffentl. Diplomarbeit, Wien
Glasersfeld, Emst von (1997): Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. Heidelberg
Weber, Jutta (1998): Feminismus & Konstruktivismus Oder Die Verlockungen unendlicher Rekombination. Zur Netzwerktheorie bei Donna Haraway.Das Argument (im Erscheinen)
Weber, Stefan (1996): Die Dualisierung des Erkennens. Zu Konstruktivismus, Neurophilosophie und Medientheorie. Wien

ArgumentationFremd
((6)) Doch gerade vielen zeitgenössischen kritischen Theorien ist das Motiv der Denaturalisierung (vgl. Jardine 1985) zentral, an das die von v. Glasersfeld geforderte De-Ontologisierung erinnert. Das Verfahren der Denaturalisierung kritisiert den reifizierenden und naturalisierten Gebrauch von Kategorien und betont ihre soziale wie kulturelle Konstruktion und ihre sprachliche Verfaßtheit - im Versuch, keine ontischen Aussagen zu machen. Von Glasersfelds epistemologische Konzeption überschreitet dieses Programm der De-naturalisierung, insofern er trotz des Anspruchs auf De-Ontologisierung sich nicht der Aussagen über die Verfaßtheit der Welt enthält, indem er u.a. ihre Unerkennbarkeit postuliert. Das legt die Schlußfolgerung nahe, daß die Welt nicht rational strukturiert ist - anderenfalls wäre sie für uns erkennbar. Die ontologische Aussage der Irrelevanz von Welt, Natur oder Realität und der alleinigen Produktion von Wirklichkeit durch die jeweilig subjektiven Konstruktionen und Konstrukte mündet in die theoretische Figur der Entmaterialisierung, die sich in vielen zeitgenössischen Theorien als »Lösungsvorschtag« für das Referenzproblem erdet (Weber 1998): ((7)) Leider wird damit keine dritte Stellung des Gedankens bzw. des Subjekts zur Gegenständlichkeit exemplifiziert, sondern jener Pol der klassischen epistemologischen Diade eliminiert, der in Spielarten des Idealismus schon immer als das Mindere, Vemachlässigbare und Lästige galt: die Seite des Objekts, des Materialen, des Nicht-Ichs (Adorno 1982).
ArgumentationFremd
((8)) Doch auch der Radikale Konstruktivismus kommt nicht ganz ohne Bezug auf »Realität«, auf Objektivität aus, kann diese allerdings nicht als historisch gewordene und kontingente fassen. Über das naturalistische (und universale) Argument der kognitiven Anpassung an die Tatsachen ((24)) und der „natürlichen Auslese“ des Nichtangepaßten ((26)) wird Performanz diese durch die Hintertür wieder eingeführt. Da aber Anpassung an die »Tatsachen« kein aktiver Prozeß ist ((26)) und ergo auch nicht »erfahrbar« ist, bleibt es ein Rätsel, wie wir von dieser Anpassung wissen können.
ArgumentationFremd
((13)) Von Glasersfeld Theorie betont explizit die eigene relationistische Positionierung: „Der Konstruktivismus darf nicht als Beschreibung einer realen Welt betrachtet werden. Er macht keinerlei ontologische Behauptungen, sondern schlägt lediglich ein Denkmodell vor...“ ((64)). Aber das zuvor in seinem Essay vorexerzierte konventionelle Repertoire rhetorischer und performativer Strategien spricht eine ganzandere Sprache: Es werden unter der Hand Aussagen mit uni-versalen Geltungsanspruch formuliert und mit autoritativer Stimme vorgetragen. Eine relationistische Position verwickelt sich aber in heftige Selbstwidersprüche, wenn sie in klassischer Manier auf ihrer wissenschaftlichen Autorität besteht und nicht vermittels Selbstreflexivität den eigenen situierten und spezifischen Ort deutlich macht.

((14)) Hinterrücks wird der Anspruch auf einen archimedischen Punkt des Beobachters bzw. des „god's view“ (Haraway1997) reproduziert Das trockene Versichern am Ende, daß die eigene Theorie auch nur ein Modell unter vielen wäre, kann das wohl nicht wettmachen: „Eine reflexive Haltungimpliziert durchaus, die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf die Konstruiertheit der eigenen Erkenntnisse zu richten ..." (Taschwer 1993, 85) ((15)) Einen Essay in autoritativem oder gar apodiktischem Ton zu verfassen - ich denke dabei an Formulierungen wie „Es gibt... keine Möglichkeit herauszufinden,..." (von Glasersfeld 1997, 47) oder „Will ich nun ... vorhersagen, was ... schlechthin notwendig (!) ist, dann muß ich..." (von Glasersfeld 1997,59) - soll die Evidenz der eigenen Schlußfolgerungen, ihre Stringenz und zwingende Logik suggerieren.

((16)) Auch die Errichtung Potemkinscher Dörfer durch die vehemente Abgrenzung von anderen möglichst reduktionistischen und naiven Theorien und das Verschweigen differenzierter Debatten gehört zu diesem Repertoire. Dieses Vorgehen läßt die eigene Theorie in umso vorteilhafteren Licht erscheinen und ermöglicht es dem Autor, als großer Überwinder jahrhundertealter Irrtümer aufzutreten: „In der... Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um... Der radikale Konstruktivismus bricht mit dieser Auffassung..." ((1)). Wer würde nicht gerne das Rad noch einmal erfinden?
ArgumentationFremd
((12)) Anschaulich scheint mir allerdings diese Kognitionstheorie die Aporien und Widersprüchlichkeiten subjektiver Erfahrung in einer Welt zunehmender Beschleunigung und Komplexität im Zeitalter der Technoscience [1] zu beschreiben. Das angestrengte Bemühen um Äquilibration wird notwendig in einer Welt, in der traditionelle von individueller Erfahrung und Identität in Widerspruch geraten mit den gesellschaftlichen Anforderungen bzgl. der Flexibilität und Fungibilität der Subjekte. Diese Anforderungen machen genau jene Konstruktions- und Projektionsfähigkeiten erforderlich, die im Radikalen Konstruktivismusals Wesen allgemein menschlicher Kognitionsprozesse erklärt werden.
ArgumentationFremd
((4)) Nun ist gerade die Behauptung einer vom Erkenntnissubjekt unabhängigen, aber a priori unerkennbaren Welt sowohl eine höchst metaphysische als auch ontologische Aussage (Lenk 1995, Rödig 1994, Weber 1996). Mit der Behauptung des Hiatus zwischen Erkenntnissubjekt und Objekt – der nicht einmal durch ein Als-Ob gemildert wird - versucht v. Glasersfeld einen zentralen Dualismus theoretischen Denkens stillzustellen und durch einen subjektzentrierten Monismus zu ersetzen: „Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder »Repräsentation« einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.“ ((1))
ArgumentationFremd
((10)) Um genauer zu sein: Ein jeder von uns lebt in der bestmöglichen, von ihm konstruierbaren Welt. Durch die Konzentration auf individuelle kognitive Prozesse gerät v. Glasersfeld in den Verdacht des Solipsismus, denn nicht nur der lästige Bezug auf die nicht-menschliche, gegenständliche Welt, sondern auch die nicht zu vermeidende intersubjektive Verständigung scheint nicht mehr zu sein als monologische Projektion: „In meiner Erfahrungswelt komme ich nicht zurecht, wenn ich unter meinen Konstrukten nicht auch Wesen konstruiere, die ähnlich wie ich wahrnehmen... Will ich nun das Verhalten dieser »Anderen« vorhersagen - was im Hinblick auf mein Äquilibrium... schlechthin notwendig ist, dann muß ich mir die Gedankengänge ausmalen, die ihr Verhalten bestimmen." (von Glasersfeld 1997,59) ((11)) Der methodische Individualismus von v. Glasersfeld, in dessen Epistemologie das autonome Subjekt des Liberalismus Wiederauferstehung feiert, resultiert in seiner gleichzeitigen Hypostasierung wie Nivellierung: Auf der einen Seite sind die Subjekte als Erzeuger ihrer Konstruktion namens Wirklichkeit omnipotent und „letzten Endes für alles verantwortlich, was man in der physischen wie in der begrifflichen Welt konstruiert (von Glasersfeld 1997, 59). Auf deranderen Seite erscheint dieser Zeugungsakt als ängstliches Bemühen und harmonistisches Bestreben, jegliche Widersprüche und Konflikte zwischen der eigenen kleinen subjektiven Welt und den überraschenden oder auch widrigen Erfahrungen mit den »Tatsachen«, dem Nicht-Ich zu glätten.
ArgumentationFremd
((5)) Zur Akzentuierung und Legitimierung des eigenen Ansatzes wird auf nicht weiter spezifizierte naiv-realistischeTheorien verwiesen, die sich höchstens in vulgären und altbackenen Varianten des Marxismus, Behaviourismus oderFunktionalismus finden. Aktuelle Theorieansätze betonen bei der Frage nach der Produktion von Wissen eher den Stellenwert diskursiver Praktiken (Foucault), der Effekte symbolischer Ordnung (Derrida), der Situiertheit des Wissens (Haraway) oder der epistemischen Gemeinschaften (Longino). Diemeisten erkenntnis- bzw. wissenstheoretischen Ansätze des20. Jahrhundert zeichnen sich gerade durch einen hohen Gradan Reflexivität bezüglich der Frage der Repräsentation bzw. Referenz aus. Die »Überwindung« des simplen Korrespondenzmodells durch v. Glasersfeld kann nur deshalb als eine zweite kopernikanische Wende (sic!) zelebriert werden, weil zuvor pauschal fast die komplette Philosophiegeschichte des naiven Realismus verdächtigt wurde.
  1. Zum Begriff der Technoscience vgl. Haraway 1997, Latour 1995.