Text:Marlis Krüger – Über einige Schwierigkeiten des Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld

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Marlis Krüger – Über einige Schwierigkeiten des Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld

((1)) Die Lektüre des Artikels über „Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie“ von Ernst von Glasersfeld hat bei mir eine gewisse Hilflosigkeit hinterlassen. Es ist mir nicht klar geworden, warum und wozu der Autor dies geschrieben hat: Eine reine PR-Aktion für sein Buch, wie sie in der Zusammenfassung impliziert ist, möchte ich ihm nicht unterstellen. Warum aber dann?

((2)) Seit längerer Zeit haben konstruktivistische Ansätze in der Philosophie und Wissenschaftstheorie neue Perspektiven eröffnet und die gemeinhin akzeptierten Standards der ‘Wahrheit’, ‘Objektivität’ und ‘wissenschaftlichen Methoden’ in den Sozial- und Geisteswissenschaften und z.T. auch in den Naturwissenschaften herausgefordert oder wie im französischen Poststrukturalismus ganz ad acta gelegt.

((3)) In Einzelwissenschaften wie z.B. Neurobiologie, Psychologie, Kulturwissenschaften, Soziologie, Ökonomie gibt es konstruktivistische Ansätze z.T. schon seit mehr als 30 Jahren, wenngleich sie in der Soziologie und Ökonomie nur bei der Analyse von Mikroprozessen relevant geworden sind.

((4)) Vertreter des sog. ‘strong Programme in the sociology of knowledge’ haben in Untersuchungen zur Geschichte der Naturwissenschaften die Behauptung aufgestellt, daß unendlich viele andere Theorien hätten erfunden (“konstruiert”) werden können, um bestimmte Daten zu interpretieren. Die “Unterdetermination” der Theorien durch Daten in den Naturwissenschaften mache Wissenschaft zu einem Unternehmen der Überredung, der Rhetorik und der Verfolgung und Durchsetzung von Machtinteressen.

((5)) Philosophen wie z.B. Christopher Noms (1997) und Naturwissenschaftler wie z.B. der Embryologe Lewis Wolpert (1993) haben sich kritisch mit den Herausforderungen des sozialen Konstruktivismus auseinandergesetzt und den privilegierten Status wissenschaftlichen Wissens verteidigt. Im Feminismus - um einen anderen relevanten Diskurs zu nennen - wird engagiert über die Konstruktion des “Geschlechts” und die Gefahren einer “Entleiblichung” diskutiert.

((6)) Es ließen sich viele andere Beispiele von Diskursen anführen, in denen die Fragen diskutiert werden, die der Autor in seinem ersten (philosophischen) Teil (((4)) - ((22))) anspricht: Merkwürdig ist, daß Glasersfeld in dem von ihm propagierten Radikalen Konstruktivismus nicht auf eine (oder mehrere) der gegenwärtig ablaufenden Debatten über sein Thema Bezug nimmt. Hält er alle diese Diskussionen für überflüssig oder für seine eigene Arbeit irrelevant? Warum ignoriert er den (sozialen) Kontext von miteinander kommunizierenden Philosophlnnen bzw. Wissenschaftlerlnnen, die z.B. über den Status von ‘Realität’, die Möglichkeiten einer ontischen Wahrheit sowie Kriterien von Wissenschaftlichkeit heftig streiten? Wie unterscheidet er seine konstruktivistische Position von den vielen anderen, die heute auf dem Markt sind?

((7)) Der Autor argumentiert auf drei Ebenen: 1. auf der Ebene der Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie, 2. auf der Ebene einzelwissenschaftlicher Theorien, Modelle, Befunde, wobei Piagets Entwicklungspsychologie im Zentrum steht; 3. benennt er in der Zusammenfassung mögliche Praxisfelder seines Konstruktivismus wie z.B. Familientherapie und Didaktik (vgl. ((59))).

((8)) Glasersfeld erklärt nicht, wie diese drei Ebenen zusammenhängen (sollen). Ich habe den Eindruck, daß er seine konstruktivistische Erkenntnisteorie durch Piagets ‘Genetische Epistemologie’ begründen will. Das halte ich für problematisch, da dies der Hypostasierung einer einzelwissenschaftlichen Theorie gleichkäme, einer Theorie, die vielfältigen Kritiken ausgesetzt war und ist.

((9)) Was die praktische Anwendung seiner konstruktivistischen Position betrifft, so überrascht mich, daß der Verfasser dabei primär an das ‘tägliche Leben’ ((60)) denkt, denn die von ihm diskutierten ‘Handlungen’ weisen sich primär dadurch aus, daß sie tendenziell un-sozial, d.h. rein individualistisch, a-kulturell und unhistorisch gedacht werden. Es fehlen außerdem jegliche Formen von Objektivationen, die für die Dialektik des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in der Alltagswelt konstitutiv sind (vgl. Berger/Luckmann 1966).

Literatur

Peter Beiger/Thomas Luckmann 1966: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. New York
Feministische Studien, Kritik der Kategorie 'Geschlecht', 11. Jg„ Nov. 1993. Nr . 2
Christopher Nortis 1997: Against Relativism. Philosophy of Science, De- construction and Critical Theory, Oxford
Lewis Wolpert 1993: The Unnatural Nature of Science, London