Annotationen:Josef Mitterer – Der Radikale Konstruktivismus: „What difference does it make“

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((3)) Der Konstruktivist kritisiert vor allem den realistischen Grundsatz einer zumindest prinzipiell erkennbaren Realität. Unsere Vorstellungen von der Realität können nur mit anderen Vorstellungen verglichen werden und nicht mit der Realität selbst. Richtigkeit oder gar Wahrheit von Weltbildern ist nicht feststellbar. Eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe ist nicht erkennbar. Jeder konstruiert seine eigene Wirklichkeit - wenn auch nicht unabhängig von seiner Umwelt und in Abstimmung mit anderen.
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((4)) In seiner Kritik universalisiert der Konstruktivist jedoch die eigenen Grundsätze zu Voraussetzungen, die auch für Realisten gelten. Er kann dem Realisten nicht zubilligen, daß er im Gegensatz zu ihm die Welt tatsächlich erkennt und also zu Recht Realist ist Wenn die Welt zu 100% die Welt meiner Erfahrung und mein Erleben ist, wenn Wissen ausschließlich eine interne Konstruktion des menschlichen Subjekts ist, dann gilt dies auch für den Realisten, ob er dies wahr haben will oder nicht: Der Realist ist in Wirklichkeit ein Konstruktivist. ((5)) Der Realismus wird so zu einem Sonderfalt des Konstruktivismus, der versucht seine Konstruktion der Wirklichkeit zu verabsolutieren, indem er sie mit der unabhängigen Realität gleichsetzt Damit reduziert der Konstruktivismus den Unterschied zum Realismus auf einen Unterschied in der Erkenntnishaltung und Erkenntniseinstellung - also auf eine Attitüde. Da sich die Idee, daß wir alle Konstruktivisten sind, ob wir dies einsehen oder nicht, auf bestimmte biologische und psychologische Voraussetzungen stützt, muß sich der Konstruktivismus hier genau den Vorwurf der Verabsolutierung gefallen lassen, den er gegen den Realisten erhebt.
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((6)) Konstruktivismus und Realismus setzen in der gegenseitigen Kritik einander die jeweils eigene Position voraus. Die Wirklichkeit wird dem Konstruktivisten vom Realisten „realistisch“ vorgegeben und dem Realisten vom Konstruktivisten „konstruktivistisch“ geschaffen. Beide unterstellen, daß die wissenschaftliche Praxis ihre Seite unterstützt. Die Realisten sagen, daß die Wissenschaftler letztlich realistisch Vorgehen; die Konstruktivisten, daß sie konstruktivistisch vorgehen. Die wissenschaftliche Praxis ist sowohl realistisch als auch konstruktivistisch interpretierbar. Ob die Wissenschaftler sich eher als Realisten oder als Konstruktivisten sehen, hängt vor allem davon ab, welche (Wissenschafts-)philosophie gerade in Mode ist. Es gibt keine Anzeichen, daß realistisch orientierte Wissenschaftler erfolgreicher sind als konstruktivistische Wissenschaftler und es macht für die Ergebnisse von Wissens- oder Erkenntnisanstrengungen auch wenig Unterschied, ob sie als Erfindungen oder als Entdeckungen interpretiert werden. Zwar haben nach Glasersfeld ((7)) erst im 20. Jahrhundert „Wissenschaftler einzusehen begonnen, daß ihre Erklärungen der Welt stets auf Begriffen beruhen, die der menschliche Beobachter formt und seinen Erlebnissen aufprägt." Aber auch schon vor dieser Einsicht haben die Wissenschaftler genau das getan, wovon sie inzwischen eingesehen haben, daß sie es tun.
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((7)) Glasersfeld ersetzt Wahrheit/Richtigkeit durch Viabilitat und Falschheit/Irrtum durch Nicht-Viabilität. (Manchmal tun es statt „wahr“ auch Ausdrücke wie „unbestreitbar“, „unwiderlegbar“ oder „logisch unanfechtbar“.) Die konstruktivistischen Ersatzbegriffe sind jedoch mit den gleichen Problemen behaftet wie jene, die sie ersetzen wollen. Viable Konstruktionen können mit der Realität nicht positiv abgeglichen werden. Merkwürdigerweise kann es gerade dann, wenn unsere (deshalb?) nicht-viablen Konstruktionen mißlingen oder scheitern zu einem direkten Kontakt, zu einer Konfrontation mit der „ontischen Realität“ kommen. Zwar erlaubt uns das Scheitern unserer Konstruktionen eine bloß negative Bestimmung der Realität, ein ,So (geht‘s) nicht!‘: „Die Realität kann nur mit Bezug auf jene Gedanken beschrieben werden, die sich als erfolglos erwiesen haben.“[2] Glasersfeld sagt, daß „für den Konstruktivisten völlig gleichgültig ist, wie das Sein ist.“[3] Aber daß die Realität ein ,Rad ist, das nichts dreht‘ gilt wohl nur solange, als unsere Konstruktionen viabel sind und nicht durch die „natürliche Auslese“ ausgeschieden werden.
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((8)) Die Inkonsequenz des Konstruktivismus gerade dann, wenn Konstruktionen „scheitern“, ist ein Zeichen dafür, daß der Konstruktivismus mit der Voraussetzung einer zumindest negativ erkenntnisrelevanten sprachunabhängigen Realität auch die damit verbundene dualistische Argumentationstechnik übernommen hat. Aber vielleicht ist diese Inkonsequenz vermeidbar? Ein radikaler Konstruktivismus könnte auch argumentieren, daß unsere (theoretischen) Konstruktionen weder positiv noch negativ mit der Realität abgeglichen werden können. Das immer wieder beschworene Argument der Skeptiker gilt wohl nicht bloß für Ansichten oder Vorstellungen, die richtig oder viabel sind.
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((10)) Der Konstruktivismus behauptet häufig, daß die „natürliche Auslese” oder gar die „Realität“ gleich einem „Sieb” über die Viabilität von Konstruktionen entscheidet. Vielleicht wäre der Konstruktivismus stringenter, würde er einräumen, daß hier von der Basis einer zur Voraussetzung für diese Konstruktionen mutierten Evolutionstheorie aus geurteilt wird.
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((14)) Beide Denkmodelle - das realistische wie das konstruktivistische - sind Manifestationen einer Argumentationstechnik, mit deren Hilfe beliebige Auffassungen als wahr, falsch oder gescheitert im realistischen Fall und zumindest als nicht-viabel, gescheitert oder widerlegt im konstruktivistischen Fall ausgewiesen werden können, je nachdem, ob sie vertreten oder abgelehnt werden. Dies geschieht unter Berufung auf eine „unabhängige Realität“ oder andere Instanzen, die durch die Realisierung und Universalisierung von theoretischen Konstruktionen aus der Biologie oder anderen Bereichen erzeugt werden. Dem Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld ist immerhin anzurechnen, daß er sich bei dieser Argumentationsweise nicht wohl fühlt und mit dem Problem kämpft, eine Terminologie zu verabschieden, die zutiefst objektivistisch und realistisch geprägt ist. Wie schwierig solche Versuche sind, zeigt sich in ((60)) und ((61)). „Daß andere ihre Wirklichkeit nicht so sehen müssen, wie man die eigene sieht“ ist trivial, wenn es sich dabei um verschiedene, vom jeweiligen Subjekt abhängige Wirklichkeiten handelt. Wenn aber für den anderen die gleiche Wirklichkeit vorliegt wie für mich und wir sie verschieden sehen, dann geht dem „Sehen“ das konstruktive Moment verloren. Und wenn „alles, was gesagt, gesehen oder gefühlt wird verschieden interpretiert” werden kann, - dann stellt sich wieder die Frage, ob gleiche oder verschiedene Objekte verschieden interpretiert werden, und dann, welche dieser Interpretationen viabel sind und welche nicht.