Text:Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie

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Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie

Ernst von Glasersfeld

Zusammenfassung: Die epistemologische Stellungnahme, die ich in meinen Büchern ausgeführt habe, wird hier kurz zusammengefaßt. Die Herkunft der konstruktivistischen Wissenstheorie aus vier Quellen die Tradition des Skeptizismus, Piagets Genetische Epistemologie, Ideen der Kybernetik und operationale Analyse der sprachlichen Kommunikation wird erläutert und die konstruktivistische Orientierung im grundlegender Begriffe wird an Hand von einigen Beispielen gezeigt.

Summary: The paper is a brief exposition of the epistemological position I have presented in a number of books. The four sources of the constructivist theory of knowing are explained: The tradition of scepticism, Piagel's Genetic Episiemology, cybernetical ideas, and the operational analysis of linguistic communication. The constructivist method of conceptual analysis is demonstrated with some basic examples.

((1))Das Wort 'Erkenntnis' deutet daraufhin, daß etwas, das bereits vorhanden ist, wahrgenommen wurde und von nun an als bekannt, gewußt und darum als unabänderlich betrachtet wird. In der herkömmlichen Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um die Erkenntnis einer Welt an sich, das heißt einer Welt, so wie sie ist, bevor der Erkennende sie berührt und durch seine Erkundung gestört oder verändert hat. Das Wissen, das solche Erkenntnis hervorbringt, soll von den Eigenschaften und Vorurteilen des Subjekts unabhängig und darum im ursprünglichen Sinne des Wortes 'objektiv' sein. Der radikale Konsruktivismus bricht mit dieser Auffassung und schlägt vor, den traditionellen Begriff des Erkennens aufzugeben. Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder 'Repräsentation' einer vom Erlebenden und abhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.

((2)) Es ist klar, daß die Annahme dieses Vorschlags einen tiefgreifenden Umbau herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge erfordern würde, und daß darum nicht nur eine solide Begründung, sondern auch eine plausible Darstellung der zu erwartenden Vorteile nötig ist.

((3)) Ich habe versucht, diesen Ansprüchen in meinem Buch Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme (1996) einigermaßen gerecht zu werden. im Umfang eines Artikels kann ich bestenfalls einige der Hauptpunkte darstellen und die wichtigsten Aspekte der konstruktivistischen Denkweise skizzieren. In den folgenden Seiten will ich die vier Quellgebiete anführen, aus denen mein Denken erwuchs, und zum Abschluß einige der Anwendungen erwähnen, die mich überzeugt haben, daß die gewonnene Orientierung tatsächlich brauchbar ist.

Epistemologischer Untergrund

((4)) Wer eine Theorie oder ein erklärendes Modell bauen will, muß Voraussetzungen machen, und diese Voraussetzungen liegen und bleiben außerhalb des Erklärungsbereichs, des theoretischen Baus. Man kann die Geschichte der Wissenschaft als eine schrittweise Einführung neuer, bewußter Voraussetzungen betrachten, die anstelle der vorherigen unbewußten eingesetzt wurden.

((5)) Als die ersten Menschen in den Himmel schauten, taten sie es nicht als Wissenschaftler. In ihrem Denken gab es keine Konventionen der Beobachtung, kein Weltall, und sie empfanden sich nicht als unabhängige Beschauer. Sie lebten und schauten ohne Voraussetzungen. Erst als sie anfingen Erlebtes im Rückblick reflektierend zu betrachten, begannen sie, Unterschiede und Gleichheiten festzustellen, So kamen sie darauf, gleichförmige Erlebnisse als eigenständige, körperliche 'Dinge' zu isolieren, Beziehungen zwischen ihnen zu denken und Bewegungen zu vermerken. Sie sahen Sonne und Mond an bestimmten Punkten des Horizonts aufgehen und steigen, und dann an entgegengesetzten Punkten sinken und untergehen. Alle 'Himmelskörper' schienen eine ähnliche Runde zu machen - die Sonne bei Tag, der Mond und die Sterne bei Nacht. So lag die Annahme nahe, daß sie einen Kreis beschrieben und daß die wahrnehmenden Zuschauer auf dem festen Boden der Erde im Mittelpunkt einer Himmelskugel standen. Das schien so selbstverständlich. daß es keiner ausdrücklichen Erwähnung bedurfte.

((6)) In der Tat dauerte es viele Jahrtausende, bis diese Annahme als fraglich betrachtet und durch das heliozentrische Weltbild ersetzt werden konnte. Und nach knapp vierhundert Jahren wurde dann auch der Sonne ihre zentrale Stellung im Weltraum abgesprochen.

((7)) Das ist nur ein Beispiel aus einer langen Folge aufgegebener Voraussetzungen. Doch erst in unserem Jahrhundert, das nun zu Ende geht, haben Wissenschaftler einzusehen begonnen, daß ihre Erklärungen der Welt stets auf Begriffen beruhen, die der menschliche Beobachter formt und seinen Erlebnissen aufprägt.

((8)) Albert Einstein hat das in einer frappanten Metapher ausgedrückt:

Physikalische Begriffe sind freie Schöpfungen des Geistes und ergeben sich nicht etwa, wie man sehr leicht zu glauben geneigt ist, zwangsläufig aus den Verhältnissen in der Außenwelt. Bei unseren Bemühungen, die Wirklichkeit zu begreifen, machen wir es manchmal wie ein Mann, der versucht, hinter den Mechanismus einer geschlossenen Taschenuhr zu kommen. Er  sieht das Zifferblatt, sieht, wie sich die Zeiger bewegen, und hört sogar das Ticken, doch er hat keine Möglichkeit, das Gehäuse aufzumachen. Wenn er scharfsinnig ist, denkt er sich vielleicht einen Mechanismus aus, dem er alles das zuschreiben kann, was er sieht, doch ist er sich wohl niemals sicher, daß seine Idee die einzige ist, mit der sich seine Beobachtungen erklären lassen. Er ist niemals in der Lage, seine Ideen an Hand des wirklichen Mechanismus nachzuprüfen. (Einstein & Infeld, 1950)

((9)) Die Idee, daß menschliche Beobachter die Begriffe, mit denen sie Erlebnisse und Erfahrungen erfassen, nicht entdecken, sondern erfinden, ist keineswegs neu. Protagoras, im 5. vorchristlichen Jahrhundert, erklärte bereits, „der Mensch sei das Maß aller Dinge"- Fünfzehnhundert Jahre später formulierte der irische Mystiker Briugena den Gedanken ausfilhrlicher:

Denn ebenso wie der weise Künstler seine Kunst von sich und in sich selbst schafft, so bringt der Verstand seine Vernunft von sich und in sich selbst hervor, in welcher er alle die Dinge, die er machen will, voraussieht und verursacht.(Periphyseon, Bd.2, 577a-b)

((10)) Eine derartige Auffassung konnte sich nicht entwickeln, solange die Menschen ausschließlich im gegenwärtigen Erleben lebten und das Bemühen, im Strom des Sehens, Hörens und Fühlens nicht völlig unterzugehen, für abstraktere Betrachtungen keinen Spielraum ließ. Erst als das Aufreten von Unstimmigkeiten oder Widersprüchen in den Versuchen, das Erleben zu steuern, Zweifel an der Verläßlichkeit der Sinne hervorrief, ist vermutlich die Frage aufgetaucht, ob hinter der Erfahrung eine 'Realität' läge und welcherart die Verbindung zwischen ihr und der Wahrnehmung sein könnte. Darum nehme ich an, daß es skeptische Erwägungen waren, die den ersten Anlaß zu epistemologischen Überlegungen gaben.

((11)) Wir wissen nicht wann das geschehen ist, doch es war jedenfalls lange vor Protagoras. Hunden Jahre vor ihm, hatte Xenophanes das schreckliche logische Problem bereits klar dargelegt. Selbst wenn es jemandem gelänge, schrieb er, sich die Welt so vorzustellen, wie sie wirklich ist, so könnte er doch nicht wissen, daß es ihm gelungen ist (vgl. Diels, 1957, Xenophanes Fragment 34).

((12)) Die Schlagkraft dieser Aussage beruht auf der Einsicht, daß die Richtigkeit oder 'Wahrheit' eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist. Wir können unser Weltbild nur nit anderen Vorstellungen vergleichen, die wie die erste auf unserem Erleben beruhen und somit durch unsere Art und Weise des Wahrnehmens und Begreifens gebildet wurden. Alles Wissen unterliegt dieser Bedingung, denn was immer wir auch tun, wir können aus unseren Formen des Erlebens und Denkens nicht aussteigen.

((13)) Die Frage, wie unsere Wahrnehmungen und unsere Begriffe mit einer von uns unabhängigen Welt zusammenhängen, ist darum rational unbeantwortbar. Wir können freilich versuchen, die unergründliche Lücke durch metaphysische Postulate zu schließen - wie etwa Descartes, als er vorschlug, Gott könne nicht so boshaft gewesen sein, uns mit trügerischen Sinnen auszustatten. Doch metaphysische Annahmen sind Sache des Glaubens und nicht der vernunftnäßigen Überzeugung. Auch Argumente der Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit sind im Bezug auf metaphysische Annahmen wirkungslos, denn es gibt keinen Grund, weswegen das, was uns plausibel oder wahrscheinlich dünkt, einer objektiven Realität angemessen sein sollte.

((14)) Das logisch unanfechtbare Prinzip der Skeptiker, nämlich daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht 'erkennen' können, war ein peinliches Hindernis in der Suche nach einem 'wahren' Weltbild. Doch gerade die Verneinung trug dazu bei, solche Erkenntnis anziehender zu machen und den Wert des praktischen Wissens, das wir tagtäglich benützen, herabzusetzen.

((15)) Diese Entwertung der Praxis ist meiner Ansicht nach auch der Grund, weswegen Einsichten der Empiristen Locke, Berkeley und Hume von den meisten nachfolgenden Philosophen mißachtet und übergangen wurden. Alle drei haben wichtige Aspekte eben jenes Wissens beleuchtet, das der handelndeMensch auf Grund der Erfahrung autbaut und täglich benützt.

((16)) John Locke führte die Entstehung unserer Ideen auf zwei Quellen zurück: Einerseits die Sinne, andererseits die aktive Reflexion des Subjekts über seine eigenen mentalen Operationen (Locke, 1690, Book 11, Chapter I , 4). Von den ersten sagte er, es sei nur „unsere Einbildung, daß diese Ideen etwas abbilden, das in den Dingen an sich tatsächlich existiert" (ibid. Chapter 8, 25). Von der zweiten Gruppe, also von den Ideen, die der Reflexion entspringen, gab er eine Liste (Masse, Fom, Zahl, räumliche Lage, Bewegung, Ruhe) und behauptete, daß sie im eigentlichen Sinn reale, ursprüngliche oder primäre Eigenschaften genannt werden können, weil sie den Dingen an sich angehören, gleichgülüg ob wir die Dinge wahrnehmen oder nicht (ibid. 23).

((17)) Fünfzehn Jahre später zeigte George Berkeley, daß die selben Argumente, die Locke benützt hatte, um die sinnlichen Eindrücke als illusorisch aufzuweisen, ebenso die Realität der primären Eigenschaften untergruben. Und in seinem philosophischen Tagebuch fügte Berkeley ein weiteres Argument hinzu, das mir noch gewichtiger erscheint:

Ausdehnung, Bewegung und Zeit schließen jeweils die Idee der Aufeinanderfolge ein. Die Zahl besteht in Aufeinanderfolge und dinghafte Wahrnehmung auch; denn gleichzeitig wahrgenommene Dinge werden im Geiste durcheinander geworfen und vermischt. Zeit und Bewegung können ohne Aufeinanderfolge nicht verstanden werden, und auch die Ausdehnung kann nur so vorgestellt werden, daß sie aus Teilen besteht, voneinander geschieden und hintereinander wahrgenommen.(Berkeley, 1706-08, § 460)

((18)) Diese Bedingung der Aufeinanderfolge ist besonders wichtig, denn sie bringt die grundlegende Tatsache ans Licht, daß eine Folge nur gewußt werden kann, wenn wir ein Ding nach dem anderen erleben. Mit dieser Feststellung lieferte Berkeley bereits eine Grundlage für das dann von David Hume formulierte allgemeine Prinzip, daß alle Beziehungen, die den Zusammenhang in unserem Denken bilden, „durch die Verbindung oder Assoziation von Ideen" entstehen (Hume, 1742, Essay III). Hume führte aus:

Wenn wir sagen, daß ein Ding mit einem anderen verbunden ist, meinen wir nur, daß wir in unserem Denken eine Verbindung gebildet haben, und das bewirkt die Schlußfolgerung, daß jedes der beiden Dinge der Beweis für die Existenz des anderen sei.(Hume, 1742, Essay vrr, Part 1)

((19)) Als grundlegende mentale Verbindungen bezeichnete Hume drei: Ähnlichkeit, unmittelbare Nachbarschaft in Zeit oder Raum, und Ursache-Wirkung. Zweifellos war ihm klar, daß diese Kategorien weiter analysiert und unterteilt werden konnten. Er schrieb:

Dürfen wir nicht erwarten, daß die Philosophiet sofern sie gewissenhaft betrieben und von öffentlichem Interesse gefördert wird, diese Untersuchungen fortsetzen  und somit zumindest in gewissem Grad die versteckten Quellen und Prinzipien entdecken wird, die den Operationen des menschlichen Geistes zugrundeliegen?(Hume, 1742, Essay I) 

((20)) Bs hat lange gedauert, bis empirische Untersuchungen dieser Art wieder aufgenommen wurden. Kant gestand, daß Humes Schriften ihn aus „dogmatischem Schlummer" erweckt hatten, und obgleich er ein gewaltiges theoretisches Gerüst zur Erkundung des rationalen Verstandes lieferte, befaßte er sich doch kaum mit den tatsächlichen Mechanismen der mentalen Operationen. Und nach Kant, im 19. Jahrhundert, verschob sich das Interesse der Philosophen hauptsächlich in die Metaphysik. Wer sich auf die britischen Empiristen berief, tat dies im Zusammenhang mit der Sinneswahrnehmung. Die Tatsache, daß alle drei die unerläßliche Rolle der mentalen Operationen betont hatten, wurde so vollkommen vergessen, daß schließlich eine Bewegung wie der amerikanische Behaviorismus, die alles Geistige als Aberglauben verwarf, sich als Fortsetzung des Empirismus wähnen konnte. So wird auch heute noch in vielen Lehrbüchern der Psychologie der Eindruck erweckt, empirische Forschung sei der goldene Weg zur Erkenntnis der realen, objektiven Welt.

((21)) Als Einstein schrieb, der scharfsinnige Forscher könne niemals wissen, daß der Mechanismus, den er sich ausgedacht hatte, die einzige (und somit „wahre") Erklärung seiner Beobachtungen sei, bestätigte er einen radikalen Umschwung in Bezug auf den Zweck und die Praxis der Forschung. Der Glaube, daß die wissenschaftliche Wahrheit uns ein mehr oder weniger getreues Bild geben könnte, wie eine von uns unabhängige Welt tatsächlich funktioniert, war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Forschung bezog sich nunmehr auf die Welt, die wir erleben, und Aufgabe des Wissenschaftlers war es, Modelle zu erfinden, die sich mit den jeweiligen Beobachtungen als vereinbar erwiesen.

((22)) Dieser Umschwung in der Wissenschaftsphilosophie war eine längst fällige Reaktion auf die Lehre der Skepsis. Da der Zweifel nicht rational entkräftet werden konnte, hatten die meisten Denker sich in die Metaphysik geflüchtet. Für die Wissenschaft jedoch war dieser Ausweg ebenso unbefriedigend wie Platons Vorschlag, die eigentliche Quelle wahren Wissens in der ererbten Seele zu suchen, statt in der Erfahrung. Wissenschaftliches Wissen bedurfte einer neuen Definition. Es mußte nicht nur in der Lebenswelt brauchbar sein, es mußte auch in ihr gefunden werden. Was nun nötig war, war ein weitgehender Umbau der begrifflichen Grundlagen.

Der Begriff der Anpassung

((23)) Erst mit dem Erscheinen der Darwinschen Evolutionstheorie wurde ein Begriff zugänglich, der es ermöglichte, dem Wissen eine andere Rolle zuzuschreiben. Es war der Begriff der 'Anpassung', und kurz vor der Jahrhundertwende führten William James, Georg Simmel, Ernst Mach, Alexander Bogdanov, Hans Vaihinger und andere ihn in den Bereich der Kognition ein.

((24)) Einsteins metaphorische Anekdote hilft uns, diese Übertragung zu erhellen. Der wissenschaftliche Beobachter der geheimnisvollen Uhr wird für scharfsinnig und erfolgreich gelten, wenn es ihm gelingt, seinen hypothetischen Mechanismus so zu konstruieren, daß er zu sämtlichen beobachtbaren Einzelheiten paßt. Das heißt, das Modell muß die bisher festge