Text:Marco Bettoni – Dialog über Wissenstheorie

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Dialog über Wissenstheorie[1]

Marco C. Bettoni

Toi kcüUo iwrvra Ta kdka [yiyvetat) KaXa Plato, Phaidon, [1006]

((1)) Vor den Toren Athens, auf dem Weg nach Megara] ROBERT: O lieber Rolf, woher denn und wohin[2]? ROLF: Vom Marktplatz, o Robert, und ich gehe lustwandeln hinaus vor die Stadt mit diesem Fremden. ROBERT Ganz gut tust du daran, lieber Freund. Und du, willkommen unter uns, Fremder. Woher kommst du, und wie heisst du? FREMDER: Ich heisse Marco, komme aus Abdera, und bin ein Freund derer, die sich zu Emst von Glasersfeld und Silvio Ceccato halten. ROBERT: Was habt ihr denn nun vor? ROLF: Du sollst es erfahren, wenn du Müsse hast, mitzugehen und mitzureden. [Sie gehen zu drin weiter) ROBERT: So redet nun.

ROLF: ((2)) Wir sprachen soeben über Ernst von Glasersfelds (EvG) kurze Zusammenfassung seiner Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie. Von unserem Fremden, der seit 13 Jahren mit ihm befreundet ist, möchte ich gern vernehmen, wie er diesen Text verstanden hat. Mir ist nämlich vorerst vieles unklar geblieben, am allermeisten was mentale Operationen sind.

FREMDER: ((3)) Dein Wunsch freut mich sehr, o Rolf, denn unter den 4 Quellgebieten aus denen Emst von Glasersfeld wohl vertraute Stelle des Konstruktivisten Maturana, der da sagt, dass jeglicher Versuch, ein Phänomen wissenschaftlich zu erklären, in der Tat darin bestehen muss(te), einen Mechanismus zu entwickeln, der das zu erklärende Phänomen erzeugt(e)“[3]. Diese Äusserung scheint zunächst mit dem von Rolf Gesagten übereinzustimmen, nämlich, dass nicht Operationen, sondern Konstruktionen oder - in der Redeweise Maturanas - Mechanismen als Erklärungen dienen. Nun wissen wir, dass Maturana als Biologe sich nicht mit artefaktischen Mechanismen, sondern mit natürlichen Organismen beschäftigt. Dies zeigt sich auch in seinem Wortgebrauch, denn er will einen Mechanismus entwickeln, der ein „Phänomen erzeugt“. Ein Artefakt aber, erzeugt keine Phänomene, wenn “Phänomen” erfahrene Wahrnehmung bedeutet. Wir sind es, die Phänomene erzeugen, wobei der Ausdruck „erzeugen“ sehr genau passt, weil er auf das natürbche, nicht-artifizielle jeder Zeugung verweist. Wir aber können unsere Phänomene, genauso wie unsere Kinder nur mit ausgedachten Mechanismen (er- )zeugen, und es wird uns nie gelingen, dafür echte Erklärungen im Sinne von konstruierten, also trivialen Maschinen zu haben.

FREMDER: ((12)) O liebe Freunde, eure Rede klingt sehr subtil und durchdacht, aber ich für mich sehe vieles ganz anders. So wie ich den Text von EvG verstehe, geht es der Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie darum, Wissen als "interne Konstruktion” aufzufassen ((1)) sowie brauchbare Modelle der Vorgänge (der Mechanismen) des internen Konstruierens von Begriffen zu entwickeln ((56)) und nicht darum, diese Wissensmodelle als materielle Konstruktionen zu bauen oder „Operationen mittels einer Blackbox zu erklären”. Die Blackbox „kognitives System“ dient nicht dazu, Operationen des Konstruierens zu „erklären“ sondern umgekehrt: die von EvG beschriebenen Vorgänge (mentale Operationsfolgen) des internen Konstruierens von Begriffen sind Erklärungen (der Arbeitsweise) des “kognitiven Systems”. Erklärungsbedürftig sind also zuerst Begriffe - und somit Wortbedeutungen ((56)) - und diese werden in EvGs „Begriffsanalyse“ ((43-56)) mit generativen Mechanismen erklärt, deren Operieren die zu erklärenden Phänomene - nämlich jene formalen Begriffe, „die nicht direkt aus Elementen der Wahrnehmung gewonnen werden können“ ((43)) - erzeugen. In diesem Sinne ist z.B. der von EvG entwickelte Mechanismus der Mehrzahl eine Erklärung für den formalen Begriff “Mehrzahl” ((43)): erst durch die mentalen Operationen der Mehrzahl werden Dinge für uns mehrzahlig, so wie erst durch die mentalen Operationen des Schönen die - für uns - schönen Dinge schön werden[4]. So kann die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie mit Maturanas naturwissenschaftlicher Theorie des Wissens mühelos kombiniert werden und dabei eine fundamentale Lücke füllen, nämlich erklären, wie der Beobachter seine “Unterscheidungen” (z.B. etwas als Mehrzahl zu betrachten) macht. Erst nachdem Begriffe als generative Mechanismen entwickelt worden sind, verfügen wir über Erklärungen des Verhaltens der Blackbox „kognitives System“: Deshalb ist eine Begriffsanalyse, wie sie EvG vorschlägt, die Voraussetzung dafür, dass „konstruktive Wissenschaften ... Maschinen konstruieren“ können, „die das Verhalten der Blackbox erklären“, wie Rolf sagte. Um eine Maschine oder ein Organ zu bauen oder zu analysieren, muss nämlich immer zuerst die Funktion (der Funktionsbaum der generativen Mechanismen) spezifiziert werden. Da ist nun aber etwas, worüber ich zweifelhaft bin und was ich im Text von EvG nicht hinreichend ergründet finde: diese generativen Mechanismen - Operationsweisen ((46)) -, deren Operieren die Begriffe erzeugen, wie weit (wie detailliert, wie umfassend) sollen und können wir sie entwickeln, bevor wir damit anfangen, sie in einem Artefakt zu realisieren?

ROLF: ((13)) Beim Zeus, o Fremder, deine Frage und deine vorangehende Rede wundem mich sehr! Wo wollt ihr nun, dass wir uns setzen, um darüber weiter zu reden? ROBERT: Hier, lass uns ablenkend am llissos hinuntergehen und dann, wo es uns gefallen wird, uns einsam niedersetzen. [Sie verlassen die Hauptstrasse nach Megara, gehen den llissos entlang und legen sich auf dem Rasen unter einer grossen Platane nieder] FREMDER: Bei der Here! Dies ist ein schöner Aufenthalt. Denn die Platane selbst ist prächtig belaubt und hoch und des Gesträuches Höhe und Umschattung gar schön, und so steht es in voller Blüte, dass es den Ort mit Wohlgeruch ganz erfüllt. Doch, o liebe Freunde, warum schweigt ihr nun?

Anmerkungen und Literatur

3 H.R. Maturana, Biologie der Realität, Suhrkamp, Frankfurt a/M, 1998.

Adresse

Dr. Marco C. Bettoni, Fachhochschule beider Basel, St. Jakobstr. 84, CH4132 Muttenz; e-mail: m.bettoni@fhbb.ch

  1. Marco C. Bettoni (m.bettoni@fhbb.ch) im Gespräch mit Robert Ottiger (ortiger@swissonline.ch) und Rolf Todesco (todesco@compuserve.com)
  2. Ich danke Friedrich Schleiermacher für seine einfühlsame Übersetzung der Platonischen Dialoge, aus denen ich einige Wendungen des täglichen Lehens („die Quelle all unserer Erfahrungen", Maturana, 1998) Übernommen habe
  3. H.R.Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 16.
  4. M C. Bettoni, Fedone 1991, Working Papers Nr. 20, 31.5.1991, S. 7. SCMO, Milano (siehe: www.dellacosta.com/methodologia)