Text:Richard Schantz – Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus - eine Kritik aus realistischer Sicht

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Richard Schantz – Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus - eine Kritik aus realistischer Sicht

((1)) In seinem Artikel Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie schlägt Ernst von Glasersfeld vor, die traditionellen Begriffe des Wissens und Erkennens aufzugeben. Nach der klassischen, auf Platon zurückgehenden Analyse ist Wissen wahre, gerechtfertigte Überzeugung. Auf diese Analyse geht von Glasersfeld nicht direkt ein, obwohl wir seine Position so verstehen können, daß sie die Wahrheitsbedingung fallenläßt. Was ihn an der gesamten traditionellen Erkenntnistheorie vor allem stört, ist, daß sie, wie er glaubt, auf inakzeptablen realistischen Prämissen beruht. So sagt er gleich eingangs: ln der herkömmlichen Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um die Erkenntnis einer Welt an sich, das heißt einer Welt, so wie sie ist, bevor der Erkennende sie berührt und durch seine Erkundung gestört oder verändert hat. ((1))

((2)) Er nimmt insbesondere Anstoß daran, daß Wissen, so wie es traditionell verstanden wurde, “objektiv”, “von den Eigenschaften und Vorurteilen des Subjekts unabhängig” sein sollte ((1)). Sein radikal-konstruktivistischer Gegenvorschlag lautet: Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder ‘Repräsentation’ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts. ((1))

((3)) Ich habe in meinen beiden Büchern Der sinnliche Gehalt der Wahrnehmung (München 1990) und Wahrheit, Referenz und Realismus. Eine Studie zur Sprachphilosophie und Metaphysik (Berlin & New York 1996) einen realistischen Standpunkt entwickelt und verteidigt, einen Realismus hinsichtlich der physischen Außenwelt Ich habe für die Auffassung argumentiert, daß es eine objektive Welt gibt, eine Welt interagierender physischer Gegenstände in Raum und Zeit die kontinuierlich und völlig unabhängig von unseren Wahrnehmungen, unseren Gedanken und unserer Sprache existieren und die unabhängig von uns gewisse Eigenschaften haben und in gewissen Beziehungen zueinander stehen. Erkenntnistheoretisch habe ich eine Form des direkten Realismus vertreten. Dies ist die Sichtweise, daß wir äußere Gegenstände und Tatsachen direkt wahmehmen, d.h. ihre Existenz und Natur nicht auf der Basis grundlegenderer sinnlicher Gegebenheiten allererst erschließen müssen.

((4)) Zu behaupten, daß ein Gegenstand unabhängig von unseren epistemischen Fähigkeiten existiert, heißt nicht, zu behaupten, daß er unerkennbar ist, oder daß wir keine wahren Überzeugungen über ihn haben können. Es heißt nur, daß er durch unsere Überzeugungen oder durch die Begriffe, die wir gebrauchen, nicht konstituiert wird. Anders als für die verschiedenen Formen des Antirealismus gibt es für den Realismus - den Standpunkt des reflektierten Common sense - keinen Konflikt zwischen der Unabhängigkeit eines physischen Gegenstandes, seiner Autonomie, und seiner epistemischen Zugänglichkeit, der Möglichkeit, Wissen über ihn zu erwerben. Deshalb muß der Realist weder äußere Gegenstände zu bloßen Konstruktionen aus den Materialien der subjektiven Erfahrung degradieren, noch muß er bei der skeptischen Behauptung Zuflucht suchen, daß die objektive Realität jenseits unseres Erkenntnisvermögens liegt, daß sie unsere Fähigkeiten, sie zu erkennen, prinzipiell überschreitet. Wir werden sehen, daß von Glasersfelds Position eine eigentümliche Mixtur aus Konstruktivismus und Skeptizismus ist.

((5)) Ich verteidige nicht nur eine realistische Metaphysik und einen direkten Realismus in der Erkenntnistheorie, sondern auch einen realistischen Wahrheitsbegriff. Eine Aussage ist meines Erachtens genau dann wahr, wenn es sich in der Welt so verhalt, wie die Aussage sagt, daß es sich in ihr verhält. Ich habe auf diesem Grundgedanken aufbauend, die Konespondenztheorie der Wahrheit zu rehabilitieren versucht, der zufolge, grob gesprochen, eine Aussage genau dann wahr ist wenn es einen Sachverhalt gibt dem sie korrespondiert Korrespondenz wiederum erkläre ich durch Referenz - durch Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken und außersprachlichen Entitäten.

((6)) Es dürfte also klar sein, daß von Glasersfelds Position und meine diametrale Gegensätze bilden. Das heißt jedoch nicht, daß ich genau die Sichtweise akzeptiere, die er über Bord werfen will. Meine Sichtweise schließt z.B. nicht die Behauptung ein, daß unsere Sprache oder Gedanken die Welt widerspiegeln, oder daß die Welt, bevor wir sie erkennen, bereits rational strukturiert ist. Von wessen Ratio sollte sie denn strukturiert worden sein?

((7)) Von Glasersfeld leugnet die Objektivität der Wahrheit, des Wissens und der Erfahrungswelt. Er räumt jedoch erstaunlicherweise die Existenz einer “ontologischen Realität” ein ((58)), die wir allerdings, wie er hinzufugt, rational nicht erfassen können. Dieser ontologischen Realität stellt er die “Wirklichkeit” gegenüber ((58)), die Welt, die wir erleben, die “Lebenswelt” ((22)). Es ist diese Welt, die Welt unserer Praxis, der sein eigentliches philosophisches Interesse gilt. Manchmal läßt von Glasersfeld die nötige begriffliche Sorgfalt vermissen. So proklamiert er, daß der radikale Konstruktivismus keinerlei ontologische Behauptungen aufstellt. Aber seine Behauptung, daß es eine ontologische Realität gibt, ist natürlich, wie jedes einzelne Wort unterstreicht, eine ontologische Behauptung. Schließlich ist die Ontologie schlichtweg die Lehre von dem, was es gibt. Und auch die Lebenswelt scheint es ihm zufolge doch zu geben. Ferner sagt er, daß der radikale Konstruktivismus nicht als Beschreibung einer “realen Welt” verstanden werden darf ((64)). Damit impliziert er jedoch, daß die wirkliche Welt und die reale Welt auseinanderfallen. Ist das begrifflich zumutbar?

((8)) Wahrheit. Wissen und die Erfahrungswelt sind laut von Glasersfeld abhängig von den Aktivitäten denkender Subjekte; sie sind mentale Konstruktionen. Aber was heißt das? Er betont, daß wir die Begriffe, die wir in unseren Beschreibungen und Erklärungen der Welt benutzen, nicht entdecken, sondern erfinden. Es ist sicherlich richtig, daß wir die Begriffe, mit denen wir die Dinge um uns klassifizieren, selbst gemacht haben. Aber die Konsequenz, die von Glasersfeld daraus zieht, ist, daß die Existenz und die Natur von Gegenständen von unserem Begriffssystem abhängig ist. Betrachten wir Sterne. Ihre Existenz und Natur ist von unserer Sprache und unserem Denken kausal völlig unabhängig. Wir haben nicht die Sterne gemacht, sondern lediglich den Begriff “Stern”. Wir sind nicht die Ursache dafür, daß es Sterne gibt. Es würde Sterne auch dann geben, wenn wir nicht existierten. Und ebensowenig ist die Existenz von Sternen logisch von der Sprache abhängig, in der wir Beschreibungen von ihnen geben. Die Existenz von Sternen ist mithin weder logisch noch kausal von unserem Begriffssystem abhängig. In welchem Sinn sind also die Sterne von unserer mentalen Konstitution abhängig? Es gibt keinen Sinn von “abhängig” - zumindest keinen Sinn, den ich verstehe -, in dem die Welt von unserem begrifflichen Repertoire abhängig ist.

((9)) Von Glasersfelds Hauptargument gegen das traditionelle, realistische Bild geht von Xenophanes’ Bemerkung aus, daß, selbst wenn es einem Subjekt gelänge, die Welt so zu repräsentieren, wie sie wirklich ist, es dennoch niemals wissen könnte, daß es ihm gelungen ist. Von Glasersfeld fährt dann fort: Die Schlagkraft dieser Aussage beruht auf der Einsicht, daß die Richtigkeit oder ‘Wahrheit’ eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist. ((12))

((10)) Das skeptische Prinzip, daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne nicht erkennen können, akzeptiert er bereitwillig ((14)). Argumente dieser Art sind in der zeitgenössischen Philosophie sehr populär. Der realistischen Auffassung zufolge müssen wir, um den Wahrheitswert einer Überzeugung zu bestimmen, feststellen, ob sie mit den Tatsachen übereinstimmt oder nicht. Aber, so wird eingewandt es ist für uns unmöglich, aus dem Zirkel unserer Erfahrungen und Überzeugungen auszubrechen, um die Welt an sich zu untersuchen. Da alle unsere Erkenntnisse der Welt durch unsere Vorstellungen vermittelt sind, können wir niemals an die externen Tatsachen herankommen, um zu sehen, ob sie unseren Überzeugungen korrespondieren. Der angebliche Vergleich einer Überzeugung mit der Realität stellt sich zu guter Letzt als lediglich ein Vergleich einer Überzeugung mit anderen Überzeugungen heraus. Überzeugungen, so lautet die Konklusion, können nur durch die interne Kohärenz in einem System von Überzeugungen gerechtfertigt werden.

((11)) Dieses Argument verdient eine sorgfältigere Untersuchung, als ich sie hier geben kann. (Vgl. meinen Artikel: The role of sensory experienee in epistemic justification: a problem for coherentism, erscheint demnächst in Erkenntnis). Mein wesentlicher Einwand beruht auf der besonderen Rolle, die die sinnliche Wahrnehmung im Prozeß des Erwerbs und der Rechtfertigung von Wissen spielt. Die Verfechter des Arguments weisen den natürlichen Gedanken, daß uns die Wahrnehmung einen direkten Zugang zu den externen Tatsachen verschafft, als naiv zurück. Die Wahrnehmung, zumindest die Wahrnehmung von Tatsachen, so argumentieren sie, beinhaltet die Anwendung von Begriffen und mithin beinhaltet sie Urteile. Deshalb sind wir in der Wahrnehmung nicht direkt mit den Tatsachen konfrontiert. Die Tatsachen sind uns nicht einfach gegeben. Die Welt präsentiert sich unserem passiven Bewußtsein nicht bereits als in Tatsachen zerlegt. Der Versuch, einen Zugang zu einer externen Tatsache zu finden, um zu sehen, ob sie mit einem Urteil übereinstimmt, endet letztlich mit einem weiterem Urteil, einem Wahrnehmungsurteil.

((12)) Aber selbst wenn es keine Wahrnehmung einer Tatsache ohne ein Urteil gibt, so folgt daraus doch nicht, daß ich, wenn ich z.B. sehe, daß ein Apfel rot ist, bloß urteile, daß er rot ist. Das Wahmehmungsurteil beruht auf der sinnlichen Erfahrung. Die visuelle Präsentation des Apfels ist ein wesentliches Element meines perzeptiven Bewußtseins; sie ist es, die mein Sehen des Apfels von einem bloßen Denken an ihn oder einer Erinnerung an ihn unterscheidet. Deshalb vermag der Umstand, daß die Wahrnehmung von Tatsachen wesentlich Urteile beinhaltet, keineswegs zu zeigen, daß wir durch die Wahrnehmung kein Wissen von etwas erwerben können, das nicht selbst wiederum ein Urteil ist. Mein Standpunkt ist just, daß unsere durch begriffliche Tätigkeit strukturierte sinnliche Erfahrung uns einen kognitiven Zugang zu den objektiven Tatsachen verschafft.

((13)) Das geschilderte Argument, daß wir in der Wahrnehmung ein Bewußtsein nur von einem Urteil erreichen können, ähnelt dem Schluß von der Prämisse, daß Essen Kauen und Schlucken beinhaltet auf die Konklusion, daß die einzigen Dinge, die wir essen können, unsere Zähne und unsere Kehle sind. Urteile fungieren in der gewöhnlichen perzeptiven Erkenntnis nicht als Gegenstände der Wahrnehmung; sie sind vielmehr ein Teil dessen, was es uns ermöglicht, ein propositionales, sinnliches Bewußtsein von externen Tatsachen zu erwerben. Wir können demnach, so scheint es, Tatsachen daraufhin untersuchen, ob sie ein Urteil wahr oder falsch machen. Eine reine, begrifflich und doxastisch unvermittelte Präsentation der Tatsachen ist dazu nicht nötig. Es wird oft übersehen, daß ein Wahmehmungsurteil direkt d.h. nichtinferentiell, und interpretativ zugleich sein kann.

((14)) Einige Bemerkungen noch zum Begriff der Wahrheit. Von Glasersfeld plädiert dafür, diesen Begriff durch den Begriff der “Viabilität” zu ersetzen, den er in pragmatistischer Manier als "Brauchbarkeit angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen" erläutert ((56)). Aber er unterschätzt die Schwierigkeiten, die die Preisgabe des Begriffs der Wahrheit mit sich bringt gewaltig. Wir brauchen Wahrheit z.B. in der Logik, um solch elementare logische Beziehungen wie Implikation und Widerspruch zu kennzeichnen. Eine Aussage impliziert eine andere dann und nur dann, wenn es unmöglich ist daß die erste wahr und die zweite falsch ist. Und eine Aussage steht dann und nur dann im Widersprach zu einer anderen, wenn sie notwendigerweise unterschiedliche Wahrheitsweite haben.

((15)) Auch in der Semantik oder Bedeutungstheorie spielt der Begriff der Wahrheit eine zentrale Rolle. Gottlob Frege, der frühe Wittgenstein, Rudolf Carnap und in jüngerer Zeit Donald Davidson, der an Alfred Tarskis endlich axiomatisierte Wahrheitsdefinitionen für formalisierte Sprachen anschließt, haben alle die These vertreten, daß die Bedeutung eines Satzes aus seinen Wahrheitsbedingungen besteht, daß, anders ausgedrückt, einen Satz zu verstehen, heißt, seine Wahrheitsbedingungen zu kennen. Übrigens klingen von Glasersfelds eigene bedeutungstheoretische Bemerkungen recht obsolet - wie etwa, daß die subjektive Erfahrung das Material ist, aus dem die Bedeutung eines Zeichens besteht ((42)), oder daß Zeichen ihre Bedeutung durch einen “Interpretationsprozeß an beiden Enden des Kommunikationskanals” erhalten ((38)). Der späte Wittgenstein hat ausführlich dargelegt, daß die Erfahrung nicht konstitutiv für Bedeutung und Verstehen ist, und daß ein Zeichen zu verstehen im allgemeinen nicht heißen kann, es in einer bestimmten Weise zu interpretieren. Aber das ist ein weites Feld.

((16)) Und schließlich darf die Funktion der Wahrheit im praktischen Schließen nicht vergessen werden. Offensichtlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir unsere Ziele erreichen, viel größer, wenn unsere Handlungen durch wahre statt durch falsche Meinungen geleitet sind. Ein Chirurg, der eine Herzoperation durchführt, tut gut daran, sich auf wahre statt auf falsche Meinungen über den Aufbau und die Funktionsweise des Herzens zu stützen. Es ist im allgemeinen wichtig für uns, zu wissen, wie es sich in der Welt verhält, damit wir uns erfolgreich in ihr verhalten können. Der Begriff der Anpassung, den von Glasersfeld seinen eigenen konstruktivistischen Zwecken dienlich zu machen versucht ((23)H(28)), kann und sollte besser realistisch verstanden werden - als Anpassung an die objektiven Gegebenheiten, deren Kenntnis die Basis unserer Handlungen ist. Seine oftmals überhasteten Angriffe vermögen die Auffassung, daß Wahrheit eine wesentliche Rolle in unseren theoretischen und praktischen Beziehungen zur Welt spielt, nicht zu erschüttern.