Text:Marco Bettoni – Dialog über Wissenstheorie

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Marco Bettoni – Dialog über Wissenstheorie[1]

τω καλω παντα τα καλα [γγνεται] καλα
Plato, Phaidon, [100δ]

((1)) Vor den Toren Athens, auf dem Weg nach Megara] ROBERT: O lieber Rolf, woher denn und wohin[2]? ROLF: Vom Marktplatz, o Robert, und ich gehe lustwandeln hinaus vor die Stadt mit diesem Fremden.
ROBERT Ganz gut tust du daran, lieber Freund. Und du, willkommen unter uns, Fremder. Woher kommst du, und wie heisst du?
FREMDER: Ich heisse Marco, komme aus Abdera, und bin ein Freund derer, die sich zu Emst von Glasersfeld und Silvio Ceccato halten.
ROBERT: Was habt ihr denn nun vor?
ROLF: Du sollst es erfahren, wenn du Musse hast, mitzugehen und mitzureden. [Sie gehen zu dritt weiter)
ROBERT: So redet nun.

ROLF: ((2)) Wir sprachen soeben über Ernst von Glasersfelds (EvG) kurze Zusammenfassung seiner Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie. Von unserem Fremden, der seit 13 Jahren mit ihm befreundet ist, möchte ich gern vernehmen, wie er diesen Text verstanden hat. Mir ist nämlich vorerst vieles unklar geblieben, am allermeisten was mentale Operationen sind.

FREMDER: ((3)) Dein Wunsch freut mich sehr, o Rolf, denn unter den 4 Quellgebieten aus denen Emst von Glasersfeld Denken erwuchs ((3)), ist jenes der Analyse mentaler Operationen dasjenige, welches ihn am engsten mit seinem (und meinem) kürzlich verstorbenen Freund und Meister Silvio Ceccato verbindet ((46)). Weiter sind EvGs Begriffsanalysen ((43-56)) vorzüglich dazu geeignet, eine fundamentale Lücke in Maturanas Biologie der Kognition[3] zu füllen: die Entwicklung von generativen Mechanismen, deren Operieren Unterscheidungen hervorbringt. So wie ich den Text verstehe, betrachtet EvG mentale Operationen als Handlungen auf der BEGRIFFLICHEN Ebene (bzw. im begrifflichen Bereich auf der Ebene der kognitiven Funktionen) welche, zusammen mit physischen Handlungen auf der SENSOMOTORISCHEN Ebene (bzw, im sensomotorischen Bereich auf der Ebene der physischen Funktionen) alles Wissen hervorbringen ((44)). Dabei versteht er Wissen nicht als enzyklopädisches Archiv, sondern durchaus dynamisch, nämlich als „Repertoire von Handlungen und Operationen“ ((57)). Er präzisiert weiter, dass „mentale Operationen uns in unserer täglichen Erfahrung Begriffsstrukturen liefern“ ((45)) und beschreibt als Beispiele die mentalen Operationen der Begriffe Mehrzahl ((43)), Objektpermanenz ((45)), Identität ((45-47)), Änderung ((52)), Dauer und Ausdehnung ((54)).

ROLF: ((4)) Du siehst, lieber Robert, unser Freund aus der Fremde ist sich der Sache so gut bewusst, dass er sie noch mehr zusammenfassen kann. Wir aber, die wir den Anschluss an die Schule der italienischen Operationalisten noch nicht haben, müssen wohl hartnäckig fragen, bis auch wir klarer sehen. Oder sind diese Redeweisen in Deinen Ohren bereits viabel?

ROBERT ((5)) Zunächst bin ich dankbar für die zusammenfassenden Äusserungen unseres Freundes auf Deine so gewichtige Frage, lieber Rolf. Dann bleibt auch mir in dieser Rede vieles unklar, doch der rechte Weg zur Klarheit scheint mir ungewiss. Hartnäckiges Fragen ist nicht meine Sache, dies überlasse ich gerne Dir. Ich kann die Redeweise, mentale Operationen könnten analysiert werden, nicht so auffassen, als ob es so etwas wie mentale Operationen tatsächlich gäbe. Was es für mich gibt, sind unsere Äusserungen. Der Ausdruck Operation für sich genommen und als formaler Begriff betrachtet, gehört zu meinem Wortgebrauch. Für mich, der ich nicht weiss, was das Mentale ist, bleibt aber unerhört, dass eine Operation mental sein kann. Da helfen mir auch die Ersatzreden nicht, wie beispielsweise die, mentale Operationen könnten als Handlungen auf der begrifflichen Ebene betrachtet werden. Zwar ist mir der Ausdruck Handlung so vertraut, wie der des Begriffs oder der Ebene, doch wozu die Äusserung begriffliche Ebene passt, ist mir schleierhaft. Was fragen wir unseren Freund?

ROLF: ((6)) Die Fragen - scheint mir - sind nach Deiner Rede gestellt. Ich bin sehr gespannt, wie unser Freund aus Thrakien im von uns vorgeschlagenen Sprachspiel operiert.
FREMDER: O Rolf, eine gewisse Scham ergreift mich doch, dass ich, zum ersten Male unter euch, bereits über derart grundlegende Fragen, wie sie Robert formuliert hat - die einer gar langen Auseinandersetzung bedürfen - mich ausbreitend reden darf. ROBERT: Tu also so, o Fremdling, und du wirst, wie Sokrates sagte, „allen gefällig sein“.

FREMDER: ((7)) Zunächst möchte ich hervorheben, dass EvG seinen Ansatz als Denkmodell versteht ((64)). Genauso wie er, betrachte auch ich alles was ich hier sage nicht als Beschreibung einer realen Welt, nicht als Behauptung über das „Sein“ oder die „Essenz“ von etwas, sondern lediglich als geordnetes, kohärentes und konsistentes System von Begriffen. Deshalb kann ich die Fragen „Was ist das Mentale?“ und „Kann eine Operation mental sein?“ so nicht beantworten, wohl aber in der abgewandelten Formulierung „Was betrachtest du als das Mentale?“ und „Was betrachtest du als mentale Operationen?“, Sollen wir uns also auf diese veränderte Form der Fragen einigen oder hast du, o Robert, andere, besser passende Formulierungen für deine Fragen? ROBERT: Die habe ich nicht.

FREMDER: ((8)) Wohlan denn, schreiten wir also gemeinschaftlich zur Untersuchung. Wir Menschen können wahrnehmen (sehen, hören, riechen, schmecken, usw.), merken, denken, erinnern, vorstellen, und vieles derartiges mehr. Manchmal ist es praktisch, all diese Tätigkeiten von den physischen und affektiven Tätigkeiten zu unterscheiden, und sie alle zusammen einer gedachten Einheit als ihre Funktionen zuzuoidnen. Diese Funktionseinheit (System oder Teilsystem) nenne ich dann lateinisch „mens“, Italienisch„mente", auf englisch „mind“ und alles, was ich mit dieser Einheit verbinde, bezeichne ich mit „mental“. Mentale Operationen sind also für mich die Operationen der gedachten Funktionseinheit „mente“. Deutsch und (sinngemäss französisch) kann „mente“ nur mit etwas wie „kognitives System“ übersetzt werden; wir sprechen deshalb häufig von kognitiven Operationen wo wir mentale meinen. Ich gebe zu, dass die Redeweise von den Ebenen keine weitere Erkenntnis bringt, sondern nur der Anschaulichkeit dient - was sich bei eurer lobenswerten Pedanterie gar als kontraproduktiv erweist.

ROBERT ((9)) Es bliebe dann noch zu klären, was EvG unter „begrifflich“ versteht bzw. wie er „begrifflich“ und,mental“ unterscheidet.

ROLF: ((10)) Lass mich zuerst etwas sagen: Einiges sehe ich nun dank der Rede unseres Freundes in ganz neuem Licht. In der naiven Annahme, der Ausdruck „Konstruktivismus“ sei Omen nicht nur Nomen, dachte ich irrigerweise immer, hier sei von materiell konstruierbaren Systemen die Rede. Nun komme ich aber nicht mehr umhin festzustellen, dass EvG offenbar ganz in der Tradition der Artificial Intelligence von funktional differenzierten oder, wie unser Freund aus Thrakien sagt, von (aus-)gedachten Systemen spricht Operationen werden dabei mittels einer gedachten Blackbox „erklärt", während es in den konstruktiven Wissenschaften ja gerade darum geht, Maschinen zu konstruieren, die das Verhalten einer Blackbox erklären. Klärungsbedürftig sind meiner Vorstellung nach nicht die .mentalen“ Operationen, sondern Konstruktionen, die solche Operationen ausführen können. Ich erinnere mich dabei, dass Robert über die Redeweise „Erzeugen von Phänomenen“ schon ganz sinnvoll nachgedacht hat. Vielleicht sollte er seine Erkenntnisse hier anfügen, bevor wir weiterfahren?
FREMDER: Das wäre ja vortrefflich. Also, o lieber Robert, bescheide uns nicht abschlägig, da wir eben diese Gunst von dir erbitten.

ROBERT: ((11)) Ich weiss nicht genau, worauf Rolf hinaus will. Ich erinnere mich lediglich an ein Gespräch über eine uns wohl vertraute Stelle des Konstruktivisten Maturana, der da sagt, dass jeglicher Versuch, ein Phänomen wissenschaftlich zu erklären, in der Tat darin bestehen muss(te), einen Mechanismus zu entwickeln, der das zu erklärende Phänomen erzeugt(e)“[4]. Diese Äusserung scheint zunächst mit dem von Rolf Gesagten übereinzustimmen, nämlich, dass nicht Operationen, sondern Konstruktionen oder - in der Redeweise Maturanas - Mechanismen als Erklärungen dienen. Nun wissen wir, dass Maturana als Biologe sich nicht mit artefaktischen Mechanismen, sondern mit natürlichen Organismen beschäftigt. Dies zeigt sich auch in seinem Wortgebrauch, denn er will einen Mechanismus entwickeln, der ein „Phänomen erzeugt“. Ein Artefakt aber, erzeugt keine Phänomene, wenn “Phänomen” erfahrene Wahrnehmung bedeutet. Wir sind es, die Phänomene erzeugen, wobei der Ausdruck „erzeugen“ sehr genau passt, weil er auf das natürbche, nicht-artifizielle jeder Zeugung verweist. Wir aber können unsere Phänomene, genauso wie unsere Kinder nur mit ausgedachten Mechanismen (er- )zeugen, und es wird uns nie gelingen, dafür echte Erklärungen im Sinne von konstruierten, also trivialen Maschinen zu haben.

FREMDER: ((12)) O liebe Freunde, eure Rede klingt sehr subtil und durchdacht, aber ich für mich sehe vieles ganz anders. So wie ich den Text von EvG verstehe, geht es der Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie darum, Wissen als "interne Konstruktion” aufzufassen ((1)) sowie brauchbare Modelle der Vorgänge (der Mechanismen) des internen Konstruierens von Begriffen zu entwickeln ((56)) und nicht darum, diese Wissensmodelle als materielle Konstruktionen zu bauen oder „Operationen mittels einer Blackbox zu erklären”. Die Blackbox „kognitives System“ dient nicht dazu, Operationen des Konstruierens zu „erklären“ sondern umgekehrt: die von EvG beschriebenen Vorgänge (mentale Operationsfolgen) des internen Konstruierens von Begriffen sind Erklärungen (der Arbeitsweise) des “kognitiven Systems”. Erklärungsbedürftig sind also zuerst Begriffe - und somit Wortbedeutungen ((56)) - und diese werden in EvGs „Begriffsanalyse“ ((43-56)) mit generativen Mechanismen erklärt, deren Operieren die zu erklärenden Phänomene - nämlich jene formalen Begriffe, „die nicht direkt aus Elementen der Wahrnehmung gewonnen werden können“ ((43)) - erzeugen. In diesem Sinne ist z.B. der von EvG entwickelte Mechanismus der Mehrzahl eine Erklärung für den formalen Begriff “Mehrzahl” ((43)): erst durch die mentalen Operationen der Mehrzahl werden Dinge für uns mehrzahlig, so wie erst durch die mentalen Operationen des Schönen die - für uns - schönen Dinge schön werden[5]. So kann die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie mit Maturanas naturwissenschaftlicher Theorie des Wissens mühelos kombiniert werden und dabei eine fundamentale Lücke füllen, nämlich erklären, wie der Beobachter seine “Unterscheidungen” (z.B. etwas als Mehrzahl zu betrachten) macht. Erst nachdem Begriffe als generative Mechanismen entwickelt worden sind, verfügen wir über Erklärungen des Verhaltens der Blackbox „kognitives System“: Deshalb ist eine Begriffsanalyse, wie sie EvG vorschlägt, die Voraussetzung dafür, dass „konstruktive Wissenschaften ... Maschinen konstruieren“ können, „die das Verhalten der Blackbox erklären“, wie Rolf sagte. Um eine Maschine oder ein Organ zu bauen oder zu analysieren, muss nämlich immer zuerst die Funktion (der Funktionsbaum der generativen Mechanismen) spezifiziert werden. Da ist nun aber etwas, worüber ich zweifelhaft bin und was ich im Text von EvG nicht hinreichend ergründet finde: diese generativen Mechanismen - Operationsweisen ((46)) -, deren Operieren die Begriffe erzeugen, wie weit (wie detailliert, wie umfassend) sollen und können wir sie entwickeln, bevor wir damit anfangen, sie in einem Artefakt zu realisieren?

ROLF: ((13)) Beim Zeus, o Fremder, deine Frage und deine vorangehende Rede wundem mich sehr! Wo wollt ihr nun, dass wir uns setzen, um darüber weiter zu reden? ROBERT: Hier, lass uns ablenkend am llissos hinuntergehen und dann, wo es uns gefallen wird, uns einsam niedersetzen. [Sie verlassen die Hauptstrasse nach Megara, gehen den llissos entlang und legen sich auf dem Rasen unter einer grossen Platane nieder]
FREMDER: Bei der Here! Dies ist ein schöner Aufenthalt. Denn die Platane selbst ist prächtig belaubt und hoch und des Gesträuches Höhe und Umschattung gar schön, und so steht es in voller Blüte, dass es den Ort mit Wohlgeruch ganz erfüllt. Doch, o liebe Freunde, warum schweigt ihr nun?

Anmerkungen und Literatur

  1. Marco C. Bettoni (m.bettoni@fhbb.ch) im Gespräch mit Robert Ottiger (ortiger@swissonline.ch) und Rolf Todesco (todesco@compuserve.com)
  2. Ich danke Friedrich Schleiermacher für seine einfühlsame Übersetzung der Platonischen Dialoge, aus denen ich einige Wendungen des täglichen Lehens („die Quelle all unserer Erfahrungen", Maturana, 1998) übernommen habe
  3. H. R. Maturana, Biologie der Realität, Suhrkamp, Frankfurt a/M, 1998.
  4. H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 16.
  5. M. C. Bettoni, Fedone 1991, Working Papers Nr. 20, 31.5.1991, S. 7. SCMO, Milano (siehe: www.dellacosta.com/methodologia)