Text:Michael Hoffmann – Verzicht auf Wahrheit, Existenz von Tatsachen und die Frage nach der “Radikalität” der “Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie”
Verzicht auf Wahrheit, Existenz von Tatsachen und die Frage nach der “Radikalität” der “Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie”
Michael Hoffmann
((1)) Die “Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie”, wie sie Ernst von Glasersfeld im hier zu kritisierenden Hauptartikel zusammenfassend darstellt, soll im folgenden vor allem im Blick auf die verwandte Begrifflichkeit betrachtet werden.
((2)) "Herkömmliche" versus "radikal-konstruktivistische" Erkenntnistheorie. Gleich in Abschnitt ((1)) definiert von Glasersfeld die radikal-konstruktivistische Erkenntnistheorie, indem er sie von einer traditionellen abgrenzt, welche Wissen als “Widerspiegelung oder 'Repräsentation’ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Weit betrachtet”. Stattdessen solle Wissen “unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” verstanden werden. Diese scharfe Entgegensetzung scheint jedoch allzu schematisch zu sein, wenn wir bedenken, daß zwar z.B. Platon durchaus von einer “rational strukturierten Welt” ausgegangen ist, aber keineswegs Erkenntnis als “Widerspiegelung” begriffen hat. Wenn er auch keinen entfalteten Subjektbegriffhat, so zeigt sein Bemühen um die “Dialektik” als wissenschaftliche Methode doch - wie auch schon seine Konzentration auf das menschliche Lernen in den frühen, aporetischen Dialogen daß Erkenntnis nicht ohne Aktivität zu haben ist. Und Kants “Konstruktivismus”, der ja einer der Ausgangspunkte der Piagetschen Epistemologie war, kann durchaus als “herkömmlich” gelten, ohne dem genannten Bild von “herkömmlicher” Erkenntnistheorie im geringsten zu entsprechen.
((3)) Im Vergleich zu Kants “Konstruktivismus” unterscheidet sich Piagets Ansatz vor allem dadurch, daß es sich bei letzterem um eine genetische Epistemologie handelt, welche den Apriorismus Kants in eine Theorie der Entwicklung kognitiver, insbesondere logisch-mathematischer Strukturen zu transformieren versucht. Von Glasersfelds Konstruktivismus ist insofern “radikaler” als der kantische, als er auf “objektive Wahrheit” verzichten will ((60; vgl. 57, 37)), während Kant alles daran gesetzt hatte, bei seiner berühmten “Wende” auf die konstitutive Rolle des Subjektes jeden "Subjektivismus zu vermeiden und die Möglichkeit objektiver Erkenntnis zu garantieren. Damit wären wir beim nächsten Problem:
((4)) Was heißt es, den “Begriff der ontischen Wahrheit" aufzugeben und "auf objektive Wahrheit“ zu verzichten? Es ist nicht einfach zu sehen, was von Glasersfeld mit diesen Begriffen genau meint. Vielleicht helfen hier die Argumente weiter, die er für diesen Verzicht aufführt. Wenn ich das richtig sehe, nennt von Glasersfeld zwei Argumente, eines, das sich aus der Geschichte des Skeptizismus ergibt, und eines, das man ein “moralisches” nennen könnte; “Mit dem Verzicht auf objektive Wahrheit verliert alles Rechthaberische seinen Sinn” ((60)); der Konstruktivismus fordert ‘Toleranz” und er unterstützt Kants kategorischen Imperativ, indem er zum einen feststellt, “daß alle Individuen für ihr Handeln und Denken verantwortlich sind, und zweitens zeigt er, indem er jede Berufung auf eine absolute Wahrheit grundsätzlich widerlegt, daß die Viabilität von Gesetzen und Beschränkungen der individuellen Freiheit in der Gesellschaft ausgehandelt werden muß” ((63)). Obgleich dies begrüßenswerte Ziele sind, und diese Ziele möglicherweise aus einer konstruktivistischen Lebenshaltung resultieren mögen - wenn es so etwas geben sollte -, so bleibt doch das Verhältnis der von Glasersfeldschen “Wissenstheorie” und ihren möglichen “Anwendungen” in lebensweltlichen Kontexten ganz unklar.
((5)) Vorrangig für von Glasersfeld ist jedoch das auf den Skeptizismus bezogene Argument. Aus einer - um das Mindeste zu sagen - etwas pointiert formulierten Paraphrase eines Xenophanes-Fragmentes (DK B 34) zieht er die Schlußfolgerung, “daß die Richtigkeit oder ‘Wahrheit’ eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist” ((12)). Hier wird deutlich, daß von Glasersfeld einen Wahrheitsbegriff verabschieden will, der traditionel! als veritas est adaequatio rei et inteliectus definiert wird, also als Übereinstimmung oder Korrespondenz von Aussage und Sache. In der Philosophie sind schon lange gute Argumente gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit entwickelt worden, u.a. daß sie zirkulär ist, insofern die Feststellung der adaequatio bereits einen Zugang zur “Wahrheit” der Sache selbst voraussetzt, oder daß sie in einen infiniten Regreß fuhrt, da die Wahrheit der adaequatio-Relation selbst wiederum nur dann erkennbar ist, wenn eine weitere adaequatio-Relation zwischen der Sache und der ersten adaequatio-Relation gegeben ist, usw. All das ändert aber nichts daran, daß es in der Philosophie noch genügend andere, natürlich genauso kontrovers diskutierte Wahrheitsbegriffe gibt, zu denen der radikale Konstruktivismus sich in irgendeiner Weise verhalten müßte, wenn er als Erkenntnistheorie ernst genommen werden will. Dazu gehören z.B, die Kohärenztheorie der Wahrheit oder die Wahrheitstheorie des Peirceschen Pragmatismus, die es beide erlauben, zumindest an einem Wahrheitsbegriff festzuhalten, der die Möglichkeit von Wissenschaft als sinnvoll erscheinen läßt.
((6)) Problematisch scheinen jedenfalls Formulierungen wie: “Das logisch unanfechtbare Prinzip der Skeptiker, nämlich daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht ‘erkennen* können, war ein peinliches Hindernis in der Suche nach einem ‘wahren’ Weltbild” ((14)). Und: “Da die Argumente der Skeptiker die naturgetreue Spiegelung oder Repräsentation einer Realität logisch ausschließen,...” ((57)). Der Rekurs auf “Logik” macht hier keinen Sinn, denn erstens hat die Formulierung von Prinzipien nie etwas mit Logik zu tun, und zweitens läßt sich eine extensionsorientierte Behauptung “logisch” weder ausschließen noch bestätigen, denn die Logik hat es allein mit der Form von Sätzen zu tun, nicht aber mit deren Inhalt. So sind die oben genannten Zirkel- und Regreßargumente nicht “logisch” anstößig, sondern allein erkenntnistheoretisch, insofern sie uns darauf verweisen, daß bestimmte Definitionen uns keinen Erkenntnisgewinn bringen. In bezug auf die Skeptiker ist daraufhinzuweisen, daß diese sich wohl ins eigene Knie geschossen hätten, wenn sie alles angefochten hätten, nur ihre eigenen “Prinzipien” nicht. Die Selbstanwendung der skeptischen Position ist z.B. gerade das Kennzeichen der sog. pyrrhonischen Skepsis im Gegensatz zur akademischen Skepsis: Die These, Wissen sei unmöglich, muß selbst der Skepsis ausgesetzt werden. Die Rede von “Prinzipien” macht hier so wenig Sinn wie die von “Logik”.
((7)) Der Verweis auf die Geschichte der Skepsis führt zu einem weiteren problematischen Begriff, dem des Ontischen oder der ontologischen Gegebenheiten ((57-58)). Denn in der Geschichte des Skeptizismus, auf die sich von Glasersfeld beruft ((10-14,57)), wurde ja nicht nur die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt kritisiert, sondern auch die der “Realität” einer solchen Welt. So behauptet Gorgias (483-376 v.Chr.) in seinen berühmten drei Thesen, “daß erstens und vor allem nichts existiert, zweitens, daß wenn es auch existieren würde, es dem Menschen unerfaßbar wäre, und drittens, daß wenn es erfaßbar wäre, es dennoch dem Mitmenschen nicht mitteilbar und für ihn unverständlich wäre” (DK B 3). Und Descartes weist in seinem “Traum-Argument” daraufhin, daß selbst die scheinbar evidente Tatsache, "daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze”, falsch sein könnte, denn “Wachsein und Träumen können niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden” (Descartes Med. 1,4-5); denn, wie Barry Stroud 1984 das Argument ergänzt, jeder mögliche Test - z.B. sich zu zwicken - könnte selbst Teil eines Traumes sein, und so weiter ad inßnitum. Besonders plastisch wurde das Problem des “Außenwelt-Skeptizismus” von Hilary Putnam 1990 mit seinem Gedankenexperiment geschildert, daß wir alle “Gehirne in einem Tank” wären, deren scheinbare Bezüge zur Außenwelt nichts als Simulationen eines SuperComputers sind. Es scheint unmöglich zu sein, angesichts dieser Vorstellungen Argumente für die Existenz einer Außenwelt zu entwickeln, die nicht auf Positionen aufbauen, die durch die Anlage der skeptischen Vorstellung explizit ausgeschlossen sind - auch wenn das unserem natürlichen Gefühl vom “Dasein in einer Welt” diametral entgegensteht.
((8)) Ich will hier nicht dafür argumentieren, daß wir alle in einer Nährlösung herumschwimmende Gehirne sind, sondern nur darauf hin weisen, daß skeptische Positionen nicht nur die Erkenntnistheorie immer wieder vorangetrieben haben, sondern auch entscheidendes zur Problematisienmg ontologischer Vorstellungen heigetragen haben. Von Glasersfeld betont, daß der Konstruktivismus zwar wie jede Theorie auf Voraussetzungen beruhe, sich aber davor hüte, “diese Voraussetzungen, seien sie bewußt oder unbewußt, als ontologische Gegebenheiten zu betrachten” ((58)). Gleichzeitig behaupteter jedoch ein paar Zeilen vorher: “Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität...” (ebd.). Sind das miteinander zu vereinbarende Behauptungen? Er will den Begriff der “ontischen Wahrheit” durch einen Begriff ersetzen, den er definiert als “Brauchbarkeit” konstruierten Wissens “angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen” ((vgl. 57-58)). Wie wären aber diese “Hindernisse” ontologisch zu bestimmen? Es ergibt sich folgendes Dilemma: Entweder sind diese Hindernisse keine vorauszusetzenden “ontologischen Gegebenheiten”, die unabhängig von uns “existieren”, dann ist kaum zu sehen, wie sie dazu taugen sollen, die Brauchbarkeit unserer Begriffe und Theorien zu erweisen; oder aber sie sollen unseren Konstruktionen so etwas wie einen “Widerstand” entgegensetzen - was unabdingbar zu sein scheint, wenn der Begriff der “Anpassung”, der hier zentral ist ((23-28)), einen Sinn machen soll - dann müssen sie auf irgendeine Weise unabhängig von unseren Konstruktionen existieren. Der “ontische” Status, die Weise der “Existenz” dieser Hindernisse, stellt ein Problem dar, das zu klären ist, wenn die Theorie aus philosophischer Sicht schlüssig sein soll.
((9)) Für die radikal-konstruktivistische Wissenstheorie, welche die Aufgabe von Erkenntnis darin sieht, “das physische und mentale Gleichgewicht des Organismus durch Anpassung zu erhalten” ((57)) und Wissen durch seine “Brauchbarkeit” angesichts von Hindernissen bestätigt sieht, ist die Existenz von ‘Tatsachen” eine zentrale Voraussetzung. Von Glasersfeld bestimmt mit Emst Mach das Wesen der kognitiven Anpassung als "Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und an einander” ((24)). In seinem BuchRadikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme sagt von Glasersfeld diesbezüglich, daß ein Zusammenstoß mit Hindernissen uns nichts darüber sagt, “welcher Art die Hindernisse sind und wie eine Realität, die aus solchen Hindernissen besteht, strukturiert sein könnte. Die Erfahrung einer Kollision oder eines Scheitems sagt uns bloß, daß das angewandte Schema unter diesen besonderen Erfahrungsumstanden nicht erfolgreich funktioniert hat” (Glasersfeld 1996,130). Die damit gegebene Unterscheidung von existenten, aber unerkennbaren Tatsachen und den begrifflichen oder schematischen Konstruktionen eines Subjektes steht deutlich in der kantischen Tradition, der Begriff der Tatsache oder des Hindernisses erinnert an das Kantische “Ding an sich”. Zu denken wäre auch an Peirce und dessen Unterscheidung von “zweitheitlichem” und “drittheitlichem” Wirklichkeitsbezug, wobei ersterer eine unvermittelte und unreflektierte Beziehung meint, und letzterer eine durch kulturgeschichtlich gewachsene “Zeichen” und “Verhaltensweisen” vermittelte. Die Frage ist aber, ob allein aus dieser Unterscheidung die Schlußfolgerung von Glasersfelds ableitbar ist, daß wir die als existent gedachte “ontologische Realität” “nicht rational erfassen können” ((58)). Was heißt hier “rational erfassen”? Ich würde behaupten, daß der Begriff der Rationalität zumindest insofern unverzichtbar ist, um vollkommen willkürliche “begriffliche und schematische Konstruktionen eines Subjektes” von angemessenen zu unterscheiden. So* wäre für Peirce Rationalität schon dann gegeben, wenn sich die Theorienbildung im Rahmen drittheitlicher - und sich natürlich entwickelnder - Kontexte bewegt. ((10)) Die Konklusion? Der “radikale” Konstruktivismus ist “radikal” nur dahingehend, daß er ohne Not die Rationalität und Objektivität wissenschaftlichen Erkennens für unmöglich erklärt, anstatt sich angesichts der richtig erkannten Probleme des Erkennens um einen Rationalitätsbegriff zu bemühen, der zumindest die Abgrenzung von Irrationalität erlaubt.
Literatur
Descartes, Reat (Med.). Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Meditationes de prima philosophia). 2. cd. (Auf Grund d. Ausg. von Artur Buchenau neu hrsg. von Lödsr Gäbe. Durchges. von Hans Günter ZekL Philosophische Bibliothek 250a). Hamburg 1977: Meiner.
DK Die Fragmente der Vörsokratiker: griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. v. Walter Kranz. 17. cd. 3 vols. Zürich et al. 1989: Weidmann.
Glasersfeld, Emst von (1996). Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme (Radicat Constructivism, 1995). Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw 1326).
Putnam, Hilaiy (1990). Vernunft, Wahrheit und Geschichte (Reason, Truth and History, 1981). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Stroud, Barry (1984), The signiftcance of phitosophical sceptieism. Oxford: Clarendon Pr.
Adresse
Dr. Michael HofFmann, Institut für Didaktik der Mathematik, Universität Bielefeld, Postfach 100131, D-33501 Bielefeld e-mail: raichael.hoffmann ®post.uni-bteiefeld.de