Text:Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie
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Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie (Ernst von Glasersfeld)
in: Ethik und Sozialwissenschaften 9 (1998), Heft 4, hrsg. v. Frank Benseler, Bettina Blanck, Rainer Greshoff, Reinhard Keil-Slawik, Werner Loh. © Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1998
Zusammenfassung
Die epistemologische Stellungnahme, die ich in meinen Büchern ausgeführt habe, wird hier kurz zusammengefaßt. Die Herkunft der
konstruktivistischen Wissenstheorie aus vier Quellen die Tradition des Skeptizismus, Piagets Genetische Epistemologie, Ideen der Kybernetik und operationale Analyse der sprachlichen Kommunikation wird erläutert und die konstruktivistische Orientierung im grundlegender Begriffe wird an Hand von einigen Beispielen gezeigt.
Summary
The paper is a brief exposition of the epistemological position I have presented in a number of books. The four sources of the constructivist theory of knowing are explained: The tradition of scepticism, Piagel's Genetic Episiemology, cybernetical ideas, and the operational analysis of linguistic communication. The constructivist method of conceptual analysis is demonstrated with some basic examples.
((1))Das Wort 'Erkenntnis' deutet daraufhin, daß etwas, das bereits vorhanden ist, wahrgenommen wurde und von nun an als bekannt, gewußt und darum als unabänderlich betrachtet wird. In der herkömmlichen Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um die Erkenntnis einer Welt an sich, das heißt einer Welt, so wie sie ist, bevor der Erkennende sie berührt und durch seine Erkundung gestört oder verändert hat. Das Wissen, das solche Erkenntnis hervorbringt, soll von den Eigenschaften und Vorurteilen des Subjekts unabhängig und darum im ursprünglichen Sinne des Wortes 'objektiv' sein. Der radikale Konsruktivismus bricht mit dieser Auffassung und schlägt vor, den traditionellen Begriff des Erkennens aufzugeben. Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder 'Repräsentation' einer vom Erlebenden und abhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.
((2)) Es ist klar, daß die Annahme dieses Vorschlags einen tiefgreifenden Umbau herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge erfordern würde, und daß darum nicht nur eine solide Begründung, sondern auch eine plausible Darstellung der zu erwartenden Vorteile nötig ist.
((3)) Ich habe versucht, diesen Ansprüchen in meinem Buch Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme (1996) einigermaßen gerecht zu werden. im Umfang eines Artikels kann ich bestenfalls einige der Hauptpunkte darstellen und die wichtigsten Aspekte der konstruktivistischen Denkweise skizzieren. In den folgenden Seiten will ich die vier Quellgebiete anführen, aus denen mein Denken erwuchs, und zum Abschluß einige der Anwendungen erwähnen, die mich überzeugt haben, daß die gewonnene Orientierung tatsächlich brauchbar ist.
Epistemologischer Untergrund
((4)) Wer eine Theorie oder ein erklärendes Modell bauen will, muß Voraussetzungen machen, und diese Voraussetzungen liegen und bleiben außerhalb des Erklärungsbereichs, des theoretischen Baus. Man kann die Geschichte der Wissenschaft als eine schrittweise Einführung neuer, bewußter Voraussetzungen betrachten, die anstelle der vorherigen unbewußten eingesetzt wurden.
((5)) Als die ersten Menschen in den Himmel schauten, taten sie es nicht als Wissenschaftler. In ihrem Denken gab es keine Konventionen der Beobachtung, kein Weltall, und sie empfanden sich nicht als unabhängige Beschauer. Sie lebten und schauten ohne Voraussetzungen. Erst als sie anfingen Erlebtes im Rückblick reflektierend zu betrachten, begannen sie, Unterschiede und Gleichheiten festzustellen, So kamen sie darauf, gleichförmige Erlebnisse als eigenständige, körperliche 'Dinge' zu isolieren, Beziehungen zwischen ihnen zu denken und Bewegungen zu vermerken. Sie sahen Sonne und Mond an bestimmten Punkten des Horizonts aufgehen und steigen, und dann an entgegengesetzten Punkten sinken und untergehen. Alle 'Himmelskörper' schienen eine ähnliche Runde zu machen - die Sonne bei Tag, der Mond und die Sterne bei Nacht. So lag die Annahme nahe, daß sie einen Kreis beschrieben und daß die wahrnehmenden Zuschauer auf dem festen Boden der Erde im Mittelpunkt einer Himmelskugel standen. Das schien so selbstverständlich. daß es keiner ausdrücklichen Erwähnung bedurfte.
((6)) In der Tat dauerte es viele Jahrtausende, bis diese Annahme als fraglich betrachtet und durch das heliozentrische Weltbild ersetzt werden konnte. Und nach knapp vierhundert Jahren wurde dann auch der Sonne ihre zentrale Stellung im Weltraum abgesprochen.
((7)) Das ist nur ein Beispiel aus einer langen Folge aufgegebener Voraussetzungen. Doch erst in unserem Jahrhundert, das nun zu Ende geht, haben Wissenschaftler einzusehen begonnen, daß ihre Erklärungen der Welt stets auf Begriffen beruhen, die der menschliche Beobachter formt und seinen Erlebnissen aufprägt.
((8)) Albert Einstein hat das in einer frappanten Metapher ausgedrückt:
Physikalische Begriffe sind freie Schöpfungen des Geistes und ergeben sich nicht etwa, wie man sehr leicht zu glauben geneigt ist, zwangsläufig aus den Verhältnissen in der Außenwelt. Bei unseren Bemühungen, die Wirklichkeit zu begreifen, machen wir es manchmal wie ein Mann, der versucht, hinter den Mechanismus einer geschlossenen Taschenuhr zu kommen. Er sieht das Zifferblatt, sieht, wie sich die Zeiger bewegen, und hört sogar das Ticken, doch er hat keine Möglichkeit, das Gehäuse aufzumachen. Wenn er scharfsinnig ist, denkt er sich vielleicht einen Mechanismus aus, dem er alles das zuschreiben kann, was er sieht, doch ist er sich wohl niemals sicher, daß seine Idee die einzige ist, mit der sich seine Beobachtungen erklären lassen. Er ist niemals in der Lage, seine Ideen an Hand des wirklichen Mechanismus nachzuprüfen. (Einstein & Infeld, 1950)
((9)) Die Idee, daß menschliche Beobachter die Begriffe, mit denen sie Erlebnisse und Erfahrungen erfassen, nicht entdecken, sondern erfinden, ist keineswegs neu. Protagoras, im 5. vorchristlichen Jahrhundert, erklärte bereits, „der Mensch sei das Maß aller Dinge"- Fünfzehnhundert Jahre später formulierte der irische Mystiker Briugena den Gedanken ausfilhrlicher:
Denn ebenso wie der weise Künstler seine Kunst von sich und in sich selbst schafft, so bringt der Verstand seine Vernunft von sich und in sich selbst hervor, in welcher er alle die Dinge, die er machen will, voraussieht und verursacht.(Periphyseon, Bd.2, 577a-b)
((10)) Eine derartige Auffassung konnte sich nicht entwickeln, solange die Menschen ausschließlich im gegenwärtigen Erleben lebten und das Bemühen, im Strom des Sehens, Hörens und Fühlens nicht völlig unterzugehen, für abstraktere Betrachtungen keinen Spielraum ließ. Erst als das Aufreten von Unstimmigkeiten oder Widersprüchen in den Versuchen, das Erleben zu steuern, Zweifel an der Verläßlichkeit der Sinne hervorrief, ist vermutlich die Frage aufgetaucht, ob hinter der Erfahrung eine 'Realität' läge und welcherart die Verbindung zwischen ihr und der Wahrnehmung sein könnte. Darum nehme ich an, daß es skeptische Erwägungen waren, die den ersten Anlaß zu epistemologischen Überlegungen gaben.
((11)) Wir wissen nicht wann das geschehen ist, doch es war jedenfalls lange vor Protagoras. Hunden Jahre vor ihm, hatte Xenophanes das schreckliche logische Problem bereits klar dargelegt. Selbst wenn es jemandem gelänge, schrieb er, sich die Welt so vorzustellen, wie sie wirklich ist, so könnte er doch nicht wissen, daß es ihm gelungen ist (vgl. Diels, 1957, Xenophanes Fragment 34).
((12)) Die Schlagkraft dieser Aussage beruht auf der Einsicht, daß die Richtigkeit oder 'Wahrheit' eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist. Wir können unser Weltbild nur nit anderen Vorstellungen vergleichen, die wie die erste auf unserem Erleben beruhen und somit durch unsere Art und Weise des Wahrnehmens und Begreifens gebildet wurden. Alles Wissen unterliegt dieser Bedingung, denn was immer wir auch tun, wir können aus unseren Formen des Erlebens und Denkens nicht aussteigen.
((13)) Die Frage, wie unsere Wahrnehmungen und unsere Begriffe mit einer von uns unabhängigen Welt zusammenhängen, ist darum rational unbeantwortbar. Wir können freilich versuchen, die unergründliche Lücke durch metaphysische Postulate zu schließen - wie etwa Descartes, als er vorschlug, Gott könne nicht so boshaft gewesen sein, uns mit trügerischen Sinnen auszustatten. Doch metaphysische Annahmen sind Sache des Glaubens und nicht der vernunftnäßigen Überzeugung. Auch Argumente der Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit sind im Bezug auf metaphysische Annahmen wirkungslos, denn es gibt keinen Grund, weswegen das, was uns plausibel oder wahrscheinlich dünkt, einer objektiven Realität angemessen sein sollte.
((14)) Das logisch unanfechtbare Prinzip der Skeptiker, nämlich daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht 'erkennen' können, war ein peinliches Hindernis in der Suche nach einem 'wahren' Weltbild. Doch gerade die Verneinung trug dazu bei, solche Erkenntnis anziehender zu machen und den Wert des praktischen Wissens, das wir tagtäglich benützen, herabzusetzen.
((15)) Diese Entwertung der Praxis ist meiner Ansicht nach auch der Grund, weswegen Einsichten der Empiristen Locke, Berkeley und Hume von den meisten nachfolgenden Philosophen mißachtet und übergangen wurden. Alle drei haben wichtige Aspekte eben jenes Wissens beleuchtet, das der handelndeMensch auf Grund der Erfahrung autbaut und täglich benützt.
((16)) John Locke führte die Entstehung unserer Ideen auf zwei Quellen zurück: Einerseits die Sinne, andererseits die aktive Reflexion des Subjekts über seine eigenen mentalen Operationen (Locke, 1690, Book 11, Chapter I , 4). Von den ersten sagte er, es sei nur „unsere Einbildung, daß diese Ideen etwas abbilden, das in den Dingen an sich tatsächlich existiert" (ibid. Chapter 8, 25). Von der zweiten Gruppe, also von den Ideen, die der Reflexion entspringen, gab er eine Liste (Masse, Fom, Zahl, räumliche Lage, Bewegung, Ruhe) und behauptete, daß sie im eigentlichen Sinn reale, ursprüngliche oder primäre Eigenschaften genannt werden können, weil sie den Dingen an sich angehören, gleichgülüg ob wir die Dinge wahrnehmen oder nicht (ibid. 23).
((17)) Fünfzehn Jahre später zeigte George Berkeley, daß die selben Argumente, die Locke benützt hatte, um die sinnlichen Eindrücke als illusorisch aufzuweisen, ebenso die Realität der primären Eigenschaften untergruben. Und in seinem philosophischen Tagebuch fügte Berkeley ein weiteres Argument hinzu, das mir noch gewichtiger erscheint:
Ausdehnung, Bewegung und Zeit schließen jeweils die Idee der Aufeinanderfolge ein. Die Zahl besteht in Aufeinanderfolge und dinghafte Wahrnehmung auch; denn gleichzeitig wahrgenommene Dinge werden im Geiste durcheinander geworfen und vermischt. Zeit und Bewegung können ohne Aufeinanderfolge nicht verstanden werden, und auch die Ausdehnung kann nur so vorgestellt werden, daß sie aus Teilen besteht, voneinander geschieden und hintereinander wahrgenommen.(Berkeley, 1706-08, § 460)
((18)) Diese Bedingung der Aufeinanderfolge ist besonders wichtig, denn sie bringt die grundlegende Tatsache ans Licht, daß eine Folge nur gewußt werden kann, wenn wir ein Ding nach dem anderen erleben. Mit dieser Feststellung lieferte Berkeley bereits eine Grundlage für das dann von David Hume formulierte allgemeine Prinzip, daß alle Beziehungen, die den Zusammenhang in unserem Denken bilden, „durch die Verbindung oder Assoziation von Ideen" entstehen (Hume, 1742, Essay III). Hume führte aus:
Wenn wir sagen, daß ein Ding mit einem anderen verbunden ist, meinen wir nur, daß wir in unserem Denken eine Verbindung gebildet haben, und das bewirkt die Schlußfolgerung, daß jedes der beiden Dinge der Beweis für die Existenz des anderen sei.(Hume, 1742, Essay vrr, Part 1)
((19)) Als grundlegende mentale Verbindungen bezeichnete Hume drei: Ähnlichkeit, unmittelbare Nachbarschaft in Zeit oder Raum, und Ursache-Wirkung. Zweifellos war ihm klar, daß diese Kategorien weiter analysiert und unterteilt werden konnten. Er schrieb:
Dürfen wir nicht erwarten, daß die Philosophiet sofern sie gewissenhaft betrieben und von öffentlichem Interesse gefördert wird, diese Untersuchungen fortsetzen und somit zumindest in gewissem Grad die versteckten Quellen und Prinzipien entdecken wird, die den Operationen des menschlichen Geistes zugrundeliegen?(Hume, 1742, Essay I)
((20)) Bs hat lange gedauert, bis empirische Untersuchungen dieser Art wieder aufgenommen wurden. Kant gestand, daß Humes Schriften ihn aus „dogmatischem Schlummer" erweckt hatten, und obgleich er ein gewaltiges theoretisches Gerüst zur Erkundung des rationalen Verstandes lieferte, befaßte er sich doch kaum mit den tatsächlichen Mechanismen der mentalen Operationen. Und nach Kant, im 19. Jahrhundert, verschob sich das Interesse der Philosophen hauptsächlich in die Metaphysik. Wer sich auf die britischen Empiristen berief, tat dies im Zusammenhang mit der Sinneswahrnehmung. Die Tatsache, daß alle drei die unerläßliche Rolle der mentalen Operationen betont hatten, wurde so vollkommen vergessen, daß schließlich eine Bewegung wie der amerikanische Behaviorismus, die alles Geistige als Aberglauben verwarf, sich als Fortsetzung des Empirismus wähnen konnte. So wird auch heute noch in vielen Lehrbüchern der Psychologie der Eindruck erweckt, empirische Forschung sei der goldene Weg zur Erkenntnis der realen, objektiven Welt.
((21)) Als Einstein schrieb, der scharfsinnige Forscher könne niemals wissen, daß der Mechanismus, den er sich ausgedacht hatte, die einzige (und somit „wahre") Erklärung seiner Beobachtungen sei, bestätigte er einen radikalen Umschwung in Bezug auf den Zweck und die Praxis der Forschung. Der Glaube, daß die wissenschaftliche Wahrheit uns ein mehr oder weniger getreues Bild geben könnte, wie eine von uns unabhängige Welt tatsächlich funktioniert, war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Forschung bezog sich nunmehr auf die Welt, die wir erleben, und Aufgabe des Wissenschaftlers war es, Modelle zu erfinden, die sich mit den jeweiligen Beobachtungen als vereinbar erwiesen.
((22)) Dieser Umschwung in der Wissenschaftsphilosophie war eine längst fällige Reaktion auf die Lehre der Skepsis. Da der Zweifel nicht rational entkräftet werden konnte, hatten die meisten Denker sich in die Metaphysik geflüchtet. Für die Wissenschaft jedoch war dieser Ausweg ebenso unbefriedigend wie Platons Vorschlag, die eigentliche Quelle wahren Wissens in der ererbten Seele zu suchen, statt in der Erfahrung. Wissenschaftliches Wissen bedurfte einer neuen Definition. Es mußte nicht nur in der Lebenswelt brauchbar sein, es mußte auch in ihr gefunden werden. Was nun nötig war, war ein weitgehender Umbau der begrifflichen Grundlagen.
Der Begriff der Anpassung
((23)) Erst mit dem Erscheinen der Darwinschen Evolutionstheorie wurde ein Begriff zugänglich, der es ermöglichte, dem Wissen eine andere Rolle zuzuschreiben. Es war der Begriff der 'Anpassung', und kurz vor der Jahrhundertwende führten William James, Georg Simmel, Ernst Mach, Alexander Bogdanov, Hans Vaihinger und andere ihn in den Bereich der Kognition ein.
((24)) Einsteins metaphorische Anekdote hilft uns, diese Übertragung zu erhellen. Der wissenschaftliche Beobachter der geheimnisvollen Uhr wird für scharfsinnig und erfolgreich gelten, wenn es ihm gelingt, seinen hypothetischen Mechanismus so zu konstruieren, daß er zu sämtlichen beobachtbaren Einzelheiten paßt. Das heißt, das Modell muß die bisher festgestellten Verhaltensphänomene der Uhr verläßlich wiedergeben. Ernst Mach hat das Wesen der kognitiven Anpassung kurz und genau formuliert: „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und an einander" (Mach, 1917, p. 164)
((25)) Die doppelspurige Anpassung bildet auch die Grundlage von Piagets 'Genetischer Epistemologie'. In dieser Kognitionstheorie hat Wissen nicht den herkömmlichen Zweck, eine vom Wissenden unabhängige Welt zu repräsentieren, sondern dient dem Organismus dazu, so zu Handeln und zu denken, daß er mit der Lebenswelt nicht in Konflikt kommt.
Die Suche nach den Mechanismen der biologischen Anpassung und die Analyse des wissenschaftlichen Denkens als ihrer höchsten Form, sowie deren episteologische Interpretation war von Anfang an mein warf, sich als Fortsetzung des Empirismus wähnen konnte.(Piaget* in Gruber & Vonèche, 1977, p.xii)
((26)) Im Bereich der Kognition ist der Begriff der Anpassung wohl analog der Darwinschen Idee der physiologischen Anpassung biologischer Organismen, doch er ist nicht mehr direkt mit Überleben oder Aussterben verknüpft. Diese Verknüpfung hat schon in der Biologie zu Mißverständnissen geführt. Viekle Texte erwähnen 'Umweltdruck', als sei dies eine Ursache, die in Organismen oder Arten Eigenschaften und Handlungsweisen erzeugt, die sich als angepaßt erweisen. Das ist irreführend, denn in der Evolutionstheorie ist es keineswegs die Umwelt, die den Beweggrund zu einer aktiven Anpassung liefert. Die natürliche Auslese schafft weder Eigenschaften noch Verhalten, sie funktioniert lediglich negativ, indem sie jene Individuen aussterben läßt, die unter den gegenwärtigen Bedingungen unfähig sind, zu überleben und sich fortzupflanzen. Anpassung ist nicht eine Tätigkeit der Organismen, sondern eine Beschreibung ihres Zustands. Diejenigen, die überleben, müssen die dazu nötigen Eigenschaften und Verhalten bereits besitzen, wenn der Druck der Umwelt einsetzt. Diese Eigenschaften sind durchwegs das Ergebnis von zufälligen Mutationen oder Fehlern im Vererbungsmechanismus und als solche niemals Reaktionen auf Umstände oder Änderungen der Umwelt.4 Kurz, alles, was überlebt. war schon im Vorhinein an die Bedingungen und Beschränkungen angepaßt, durch die die natürliche Auslese nun das Nichtangepaßte vernichtet.
((27)) Auf der kognitiven Ebene geht es nicht direkt um Über leben, sondern um 'Aquilibration', das heißt um inneres Gleichgewicht, und die Auslese ist darum weniger drastisch. Ziel der Anpassung ist hier das Vermeiden von Hindernissen und das Ausgleichen von Störungen. Wie Mach andeutete, können kognitive Strukturen auf zwei Weisen gestört wer den: Sie können von Tatsachen widerlegt werden oder mit einander in Konflikt geraten. Die begrifflichen Hindernisse und Störungen sind selten tödlich. Die 'Viabilität' von Be griffen und größeren Begriffssttuktuten. wie etwa Hypothe sen oder Theorien, kann normalerweise ohne Lebensgefahr erkundet werden. Gemäß der unterschiedlichen Störungen, gibt es im kognitiven Bereich mehrere Ebenen der Viabilität. Auf der ersten Ebene ist das viabel, was in der jeweiligen Problemsituation zu einer Lösung fütrt (Machs „Anpassung an die Tatsachen"). Auf der zweiten Ebene ist die Viabilität eine Frage der begrifflichen Vereinbarkeit, das heißt Abwe senheit von Widersprüchen im Bezug auf die anderen Denk und Handlungsweisen, die das denkende Subjekt in seiner bisherigen Erfahrung als viabel angenommen hat (Machs „Anpassung an einander"). Auf der dritten und höchsten Ebe ne beruht Viabilität auf dem Einklang der eigenen begriffli Chen Strukturen mit jenen, von denen man vermutet, daß an dere sie als viabel berachten.
((28)) Auf allen drei Ebenen ist das, was ich 'Viabilität' nen ne, der Zustand der Anpassun n. Schranken oder Grenzen der Bewegungsfreiheit und b eutet in keiner Weise eine An gleichung. Diese Beaehung des Hineinpassens läßt sich viel leicht am besten durch die Metapher klar machen, die einige Biologen formuliert haben: Der Vorgang der Auslese, die nur Angepaßtes überleben läßt, ist mit der Funktion eines Siebs vergleichbar, das alles durchfallen läßt, was irgendwie durch die Maschen schlüpft. Was durchfällt 'paßt', besitzt aber keine Eigenschaften des Siebs es ist nur so beschaffen, daß es durch die Beschränkungen des Siebs nicht wird.
Piagets Schematbeorie
((29)) Die wichtigste Anwendung des Anpassungsbegriffs in Piagets Theorie war seine Einfiihrung des Handlungsschemas, das die Prinzipien der Assimilation und der Akkommodation mit sich brachte. Als Biologe war er mit der Bedeutung von Reflexen verEaut und beobachtete die reflexiven Verhalten in seinen eigenen Kindern. In der einschlägigen Literatur heißtes zumeist, daß Reflexe aus zwei Teilen bestehen: Eine auslösende Situation und eine fest mit ihr assoziierte Handlung. Piaget wurde sich klar darüber, daß derartige Verbindungen durch Mutationen entstanden sind und im Erbgut der Arten allgemein wurden, weil die Wirkung der automatisch hervorgerufenen Handlung den Individuen, die eben diese Mutationen besaßen, einen Vorteil im Überleben bot Er sah den Reflex also nicht als zweiteilig, sondern als aus drei Teilen bestehend.
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((30)) Außerdem hatte Piaget auch bemerkt, daß die Reflexe des Säuglings keineswegs so fest und unabänderlich sind, wie die Lehrbücher behaupten. Einerseits verschwinden sie früher oder später im Laufe der individuellen Entwicklung und andererseits ist die Situation, die sie auslöst, vom Gesichts punkt des Beobachters aus nicht immer genau die gleiche. Das, worauf es ankommt, ist, wie der Organismus die gege bene Situation wahrnimmt, Solange sie mit dem Erkennungs muster vereinbar ist, das der Organismus ererbt oder sich gebildet hat, löst sie die assoziierte Handlung aus. Das ist die ontogenetisch erste Manifestation dessen, was Piaget i Assi milation' genannt hat.
((31)) In der entwicklungspsychologischen Literatur wird der Begriff der Assimilation fälschlich oft so erklärt, als handele es sich dabei um die Abänderung eines Inputs von der Außen¬ welt. Eine angemessene Beschreibung sollte jedoch darlegen, daß es der Beobachter ist, der von Assimilation spricht, wenn der Organismus in seiner Wahrnehmung gewisse Einzelheiten Ubergeht, die dem Beobachter offensichtlich sind. Für das Kleinkind, wie zumeist auch für das erwachsene Individuum, ist eine Situation stets das, was das Subjekt selber wahmimmt
((32)) Diese oberflächliche - wenn man will lückenhafte - Wahrnehmung ist der Schlüssel zur begrifflichen Verallge¬ meinerung und zur Klassenbildung. Sie ist auch ein wichti¬ ger Punkt im Verständnis dessen, was Mach mit den „Tatsa¬ chen“ meinte, an die das Denken sich anpassen muß. „Keine Tatsache der Erfahrung wiederholt sich vollkommen genau“, schrieb er, und wenige Zeilen darauf erklärte er:
Wissenschaft ist nicht möglich ohne eine gewisse, wenn auch nicht vollkommene Stabilität der Tatsachen und eine dieser entsprechende, durch Anpassung sich ergebende Stabilität der Gedanken.(Mach, 1917, p.283-84)
((33)) In Piagets konstruktivistischer Theorie ist es das Prin¬ zip der Assimilation, das die Stabilität hervorbringt.
((34)) Das in den Reflexen vorgeformte dreiteilige Muster, so schloß Piaget, konnte von dem sich entwickelnden Kind selbst aufgebaut werden, wann immer eine angenehme oder irgendwie interessante Erfahrung auf eine Handlung folgt. Er sah darin die allgemeine Struktur des sensomotorischen Handelns und gründete darauf den Begriff des Handlungs¬ schemas. Dieser Begriff erlaubte es ihm dann, eine umfas¬ sende Theorie des praktischen Lernens zu entwickeln.
((35)) Der springende Punkt in dieser Theorie ist das Prinzip der ‘Akkommodation’. Wenn ein Subjekt eine wahrgenom¬ mene Situation als Auslöser einer bestimmten Handlung as¬ similiert, schafft dies die Erwartung, daß die Handlung das gewohnte Ergebnis zeitigen wird. Wenn dann dieses Ergeb¬ nis nicht eintritt, entsteht eine Perturbation, d.h. eine Störung des inneren Gleichgewichts. Es kann dies eine Enttäuschung sein, oder eine positive Überraschung (wenn das unerwartete Ergebnis ein angenehmes ist). In beiden Fällen kann die Per¬ turbation zu einer Überprüfung der Auslösersituation führen • gewissermaßen um herauszufinden, warum das Schema nicht wie erwartet funktioniert hat. Wenn nun ein vorher mißach¬ tetes Element der Situation für den Fehlschlag verantwort¬ lich gemacht werden kann, so besteht die Möglichkeit, das Erkennungsmuster dementsprechend abzuändem. War das un¬ erwartete Ergebnis angenehm, so wird dies zur Bildung eines neuen Schemas neben dem alten fuhren. In beiden Fällen nennt Piaget es eine Akkommodation. (Eine Akkommodation kann selbstverständlich auch stattfinden, wenn die Überprüfung einen Haken im Ablauf der Handlung zutage bringt). Kurz, man kann die allgemeine Regel formulieren, daß Akkommo¬ dationen und somit Lernen dann zustande kommen, wenn ein gewohntes Schema ein unerwartetes Resultat hervorbringt.
Kybernetik: Selbstorganisation und Verständigung
((36)) Mitte der Sechzigeijahre, zwanzig Jahre nachdem Nor¬ bert Wiener sein erstes Buch über Kybernetik (1965) veröf¬ fentlicht hatte, bemerkte Piaget, daß es zwischen dieser neu¬ en Disziplin und seinen eigenen Ideen Parallelen gab. Das grundlegende konstruktivistische Prinzip, daß der menschli¬ che Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget, 1937, p.311), verkörperte zweifellos die kybernetische Idee der Selbstorganisation.
((37)) Zudem gab es auch andere Ähnlichkeiten. Laut Sche¬ matheorie finden Akkommodationen statt, wenn ein erwarte¬ tes Ergebnis, ein Ziel, nicht erreicht wird. Das ist analog mit der Idee des negativen Feedbacks, die in homöostatischen Mechanismen verkörpert ist. Ein Thermostat zum Beispiel bewirkt nur dann eine Tätigkeit (Heizen oder Kühlen), wenn die wahrgenommene Temperatur nicht mehr mit dem festge¬ legten Sollwert (Referenz) Ubereinstimmt. William Powers, ein Pionier der Anwendung kybernetischer Prinzipien in der Verhaltenspsychologie, hat diese Idee im Titel seines Buches
formuliert: Behavior; The Control ofPerception - Verhalten als Steuerung der Wahrnehmung (1973). Auch er sah, daß dieses Prinzip erhebliche epistemologische Konsequenzen mit sich bringt. Wenn der ‘intelligente’ Organismus nicht auf Sti¬ muli der Umwelt, sondern lediglich auf Unterschiede zwi¬ schen Wahrnehmungen und vorbestimmten Sollwerten reagiert, um sein internes Gleichgewicht zu erhalten, dann ge¬ winnt der Organismus kein objektives Wissen von der Au¬ ßenwelt. Er kann bestenfalls lernen, sein Gleichgewicht an¬ gesichts der Perturbationen, die er wahrnimmt, einigerma¬ ßen aufrecht zu erhalten.
((38)) Mit der Kybernetik stimmt der radikale Konstruktivis¬ mus auch in der Einstellung gegenüber Sprache und Verstän¬ digung überein. Die auf Arbeiten von Claude Shannon beru¬ hende Kommunikationstheorie (1948) hat eine technische Analyse des Vorgangs geliefert und einen weitverbreiteten Glauben abgebaut.
Signale, Wörter oder Symbole befördern ihre Bedeutung nicht von einem Kommunikanten zum anderen. Die Signalzeichen, die von dem jeweiligen Sender zu einem Empfänger kom¬ men, erhalten ihre Bedeutung nur durch einen Interpretati¬ onsprozeß an beiden Enden des Kommunikationskanals. Der Sender setzt die Nachricht in einen bereits festgelegten Kode um (encoding), zum Beispiel in den Morse-Kode der Tele¬ graphie. Es handelt sich da um eine zweispaltige Liste, in der jeder Buchstabe des Alphabets mit einem Signal Zeichen in Form einer Kombination von Punkten und Strichen gepaart ist. Die Empfänger am anderen Ende des Kanals können den empfangenen Signalen nur dann Bedeutungen zuschreiben, wenn sie im Besitz der Kode-Liste sind. Die Liste selbst kann nicht übertragen werden und muß darum auf andere Weise an die zukünftigen Empfänger verteilt werden. Diese Bedin¬ gung muß in allen Kommunikationssystemen erfüllt werden, bevor eine Verständigung stattfinden kann.
((39)) Insofern die natürlichen Sprachen der Verständigung dienen sollen, stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, daß die Sprachbenutzer einander verstehen. Freilich gibt es Wör¬ terbücher und Lexika, in denen Wortbedeutungen erklärt wer¬ den, aber diese Erklärungen bestehen jeweils aus anderen Wörtern und sind deswegen nur denjenigen nützlich, die be¬ reits einen gewissen Wortschatz haben. Kinder eignen sich ihren grundlegenden Wortschatz in der eigenen Sprache nicht durch das Studium von Wörterbüchern an, sondern auf Grund ihrer Erfahrungen im täglichen Leben. Obschon fortlaufend Untersuchungen gemacht und Theorien entworfen werden, wie die Regeln des Satzbaues gelernt werden könnten, hat kaum jemand sich dafür interessiert, wie Wortbedeutungen entstehen. Schuld daran ist die althergebrachte Überzeugung, daß Wörter - zumindest jene, die Kinder lernen - sich auf
Gegenstände der realen Welt beziehen, die für alle Sprecher gleich und darum unproblematisch sind.
((40)) Wenn die epistemologischen Argumente, die ich be¬ reits vorgebracht habe, sinnvoll sind, liegt die Frage der er¬ sten, unerläßlichen Wortbedeutungen jedoch völlig anders. Der Boden, aus dem sie wachsen, kann nur die Erfahrungs¬ welt des Kindes sein. In dieser verschwommenen formlosen Landschaft müssen zunächst wiederholbare Muster gebildet werden, und erst wenn visuelle Komplexe streng von Klang¬ bildern unterschieden sind, kann eines der zweiten Gruppe einem der ersten zugeordnet werden. Selbst wenn die für¬ sorgliche Mutter eine Tasse vom Tisch hebt und zur einjähri¬ gen Tochter sagt: „Schau, Marie, das ist eine Tasse, eine Tas¬ se1.“, muß Marie zuerst den Gegenstand in ihrem Gesichtsfeld isolieren und den Wortlaut von anderen gleichzeitigen Geräuschen trennen, bevor sie zwischen beiden eine seman¬ tische Verbindung hersteilen kann. Was das Kind da isoliert und trennt, sind nicht Dinge an sich, sondern unter allen Um¬ ständen Teile seiner eigenen Erlebenswelt, die im Laufe wei¬ terer Erfahrungen durchwegs mehr oder weniger geändert werden müssen, um mit dem Sprachgebrauch der Erwachse¬ nen einigermaßen übereinzustimmen.
((41)) Michael Tomasello hat auf Grund von ausgedehnten, extrem sorgfältigen Entwicklungsstudien die oft verworre¬ nen Pfade dargelegt, auf denen das Kind seine relative An¬ passung an den allgemeinen Sprachgebrauch erreicht (To¬ masello, 1992). Daß diese Anpassung eine allmähliche ist, sollte niemanden überraschen. Auch in fortgeschrittenem Alter entdecken wir alle von Zeit zu Zeit, daß wir das eine oder andere Wort unserer Sprache bisher stets in einer Weise verwendet haben, die von jener anderer Sprecher abweicht.
Wir haben es vorher nicht bemerkt, weil die Situationen, in denen wir das Wort benutzten oder hörten, unsere Idiosyn¬ krasie nicht zum Vorschein brachten.
((42)) Die Sozialpsychologen haben also völlig recht, wenn sie sagen, daß die Bedeutungen von Wörtern in der Gesell¬ schaft ‘ausgehandelt’ werden. Wichtig ist jedoch die Einsicht, daß das letzte Ergebnis dieses fortlaufenden Handels Verein¬ barkeit ist, d.h. Kompatibilität im Sinne der Anpassung, und niemals eine absolute Gleichheit. Denn selbst wenn ein Leh¬ rer oder ein Wörterbuch uns den Gebrauch eines Wortes er¬ klärt, so beruht die Bedeutung, die wir uns aufbauen, doch auf der Interpretation unseres eigenen Erlebens. Diese Be¬ deutung wird dann zweifellos im Laufe sprachlicher Unter¬ handlungen geschliffen, verfeinert und weiter angepaßt, doch das Material aus dem sie besteht ist und bleibt das Material
der subjektiven Erfahrung.
Begriffsanalyse: Mehrheit und Identität
((43)) Auf dem Niveau der Begriffe, die nicht direkt aus Ele¬ menten der Wahrnehmung gewonnen werden können, beruht der Aufbau auf der Reflexion über mentale Operaüonen. Das klarste Beispiel, das ich bisher gefunden habe, ist die Kon¬ struktion der Mehrzahl. Für Erwachsene ist es selbstverständ¬ lich, daß man angesichts einer Tasse den Singular des Wor¬ tes verwendet, und wenn es sich um mehrere handelt, den Plural. Die Unterscheidung der beiden Situationen wird zu¬ meist als einfache Sache der Wahrnehmung betrachtet, das heißt als offensichtlich und ganz unproblematisch. Untersucht man jedoch genauer, wie ein Kind den richtigen Gebrauch von Ein- und Mehrzahl lernen kann, dann findet man, daß das Gewahrwerden einer Mehrheit mehr verlangt, als bloße Wahrnehmungen. Hat das Kind gelernt, eine bestimmte Kom¬ bination sensomotorischer Elemente als „Tasse“ zu bezeich¬ nen, so kann es angesichts mehrerer dieser Gegenstände sa¬ gen: „Tasse, Tasse, Tasse, ...“J. Vielleicht sagt jemand: „Ja, das sind Tassen,“ und das Kind nimmt den phonetischen Un¬ terschied des Wortes wahr. Vielleicht hat es die abweichende Pluralform auch schon im Gespräch Erwachsener bemerkt. - Aber was sagt ihm, wann die eine und wann die andere Form am Platz ist? Die Antwort liegt nicht in den wahrgenomme¬nen Dingen, sondern im Bereich der Operationen, die der Wahmehmende ausführt. Um eine Mehrheit zu konstruieren, muß man merken, daß man ein und dieselbe Erkennungs¬ prozedur, die einem den Gegenstand „Tasse“ liefert, minde¬ stens zweimal ausgeführt hat. Die Pluralform des Wortes be¬ dingt diese Wederholung, denn sie bezieht sich nicht auf Ele¬ mente der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auf die Art und Weise, wie man Wahrgenommenes verbindet.
((44)) Alles Wissen stammt laut Piaget aus Handlungen. Auf der sensomotorischen Ebene sind es physische Aktionen, auf der begrifflichen mentale Operationen, die das Rohmaterial für Reflexion liefern. Was hier als Reflexion bezeichnet wird, schließt jedoch nicht unbedingt Bewußtsein ein.
... Handeln allein schafft ein selbständiges Wissen von erheblicher Macht, denn obgleich es lediglich „Wis- sen-wie“ ist und seiner selbst nicht bewußt im Sinne eines begrifflichen Verstehens, bildet es doch die Quel¬ le dieses zweiten, wenn das stets nachhinkende Be¬ wußtsein dann einsetzt. Doch das anfängliche Wissen ist äußerst wirksam, auch wenn es von sich selbst noch nichts weiß.(Piaget, 1974, p.275)
Piaget belegt dies mit einem treffenden Beispiel:
Im Lauf der Geschichte haben Denker gedankliche Strukturen benützt, ohne sie bewußt erfaßt zu haben. Ein klassisches Beispiel: Aristoteles hat die Logik der Beziehungen benützt, aber in der Konstruktion seiner eigenen Logik völlig ignoriert.(Piaget & Garcia, 1983, p.37)
((45)) Ein integraler Teil des konstruktivistischen Denkens ist die Entwicklung von Modellen, die mentalen Operationen ent¬ sprechen, die uns in unserer täglichen Erfahrung Begriffs¬ strukturen liefern, deren Ableitung uns zumeist unbewußt bleibt Eine der wichtigsten unter diesen ist die Überzeugung der sogenannten ‘Objektpennanenz’, die wir bereits früh in unserer kognitiven Laufbahn aufgebaut haben. Die Herkunft der Idee, daß die meisten Gegenstände, mit denen wir unsere Erlebens weit möblieren, existentielle Dauerhaftigkeit haben, wird zumindest oberflächlich dadurch verschleiert, daß die Ausdrücke „das gleiche“ und „dasselbe“ in der Umgangsspra¬ che austauschbar benützt werden. So kann zum Beispiel eine Frau ihrer Freundin entrüstet von einer Party berichten: „Stell Dir vor, die Irmgard kam in demselben Kleid wie ich!“; und der Sohn kann der Familie auf einer Ferienfahrt erklären: „Das ist das gleiche Auto, das uns schon vor dem Mittagessen vor¬ gefahren ist.“ - Im ersten Fall sind es zwei Kleider, die sich in Bezug auf die Eigenschaften, die da maßgebend sind, nicht unterscheiden; im zweiten Fall hingegen handelt es sich um ein und dasselbe Auto. Anders ausgedrückt: Im ersten Fall wird auf Grund eines Vergleichs die Zugehörigkeit zweier
Gegenstände zu einer bestimmten Klasse behauptet, im zwei¬ ten wird dem Gegenstand zweier zeitlich getrennter Erlebnisse individuelle Identität zugeschrieben.
((46)) Beide Operationsweisen sind wichtige Elemente im Aufbau der Begriffswelt. Indem wir Klassen bilden, ersparen wir es uns, jeden Gegenstand, den wirerleben, als Neuerschei¬ nung zu untersuchen. Die Zuschreibung individueller Identität jedoch hat weiteneichende Anwendungen. Ohne sie könnten wir nicht von ‘Änderung’ sprechen, hätten also keinen Grund, nach Ursachen zu forschen und wären nie auf die Idee von der Erhaltung der Energie gekommen. Noch grundlegender scheint es mir, daß die Struktur der Objektpennanenz auch den Ur¬ sprung unserer Raum- und Zeitbegriffe beleuchtet. Um diese Behauptung zu erklären, möchte ich die Begriffsstruktur der
Identität graphisch darstellen. Die Methode dieser Darstellung verdanke ich meinem jüngst verstorbenen Freund Silvio Cec- cato, der bereits in den Fünfziger] ahren Sequenzen von ‘Mo¬ mentaufnahmen’ in der semantischen Analyse verwendete.
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((47)) In diesem Diagramm bedeutet „f“ jeweils einen ein¬ zelnen Erlebensmoment (auf Englisch ist frame ein einzel¬ nes Bild in einem Filmstreifen) und „X“ bedeutet ein als Ge¬ genstand kategorisiertes Erlebnis. Die Momente sind statisch, und nur ein aktiver Verstand kann durch Reflexion in der Folge der Momente Beziehungen schaffen. Werden X( und X2 nun als Erlebnisse ein und desselben Gegenstandes betrachtet, so ergibt sich die Frage, wo dieser Gegenstand sich von f2 bis fn außerhalb des Aufmerksamkeitsbereichs befunden hat. So¬ mit wird jenseits der Erlebnisfolge ein Bereich geschaffen, in dem permanente Objekte warten können, bis sie im Auf¬ merksamkeitsfeld des Erlebenden wieder auftauchen. Die¬ sen Bereich habe ich ‘Protoraum’ genannt, denn er erhält die Struktur und Meßbarkeit des eigentlichen Raums erst, wenn das denkende Subjekt nicht nur eine Reihe von Objekten dort aufbewahrt, sondern auch die Beziehungen, die es im Erle¬ ben der Objekte zwischen ihnen aufgebaut hat.
((48)) Da die individuelle Identität, die Gegenständen zuge¬ schrieben wird, Intervalle überspannt, die für den Erleben¬ den durch eine Folge anderer Erlebnissen gefüllt sind, müs¬ sen diese Identitäten sozusagen dehnbar gedacht werden. Das heißt, sie müssen die jeweiligen Intervalle überdauern. Diese Ausdehnung von Identitäten jenseits der Erlebenswelt schafft eine Dimension, die ich ‘Protozeit’ nenne und die dann durch die Projektion von tatsächlichen Erlebnisfolgen zum eigent¬ lichen Begriff der Zeit wird. Die Projektion von Jahreszei¬ ten, Tag und Nacht, und schließlich der regelmäßigen me¬ chanischen Vorgänge von Uhren, verleihen dieser Dimensi¬ on der Dauer Meßbarkeit.
((49)) Angesichts der vielen Diskussionen und empirischen Untersuchungen, die Piagets Idee der Objektpennanenz her¬ vorgerufen hat, ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß dieses Element der kognitiven Entwicklung einem Subjekt nur dann zugeschrieben werden sollte, wenn es gezeigt hat, daß es sich das Objekt vorstdien kann, auch wenn es im gegenwärtigen Wahmehmungsbereich nicht vorhanden ist. Dieses Vorstel- lungsvermögen habe ich im Englischen re~presentation ge¬ nannt. Der ungewohnte Bindestrich soll andeuten, daß es sich hier um die Rekonstruktion eines Erlebnisses handelt und nicht um die Spiegelung eines Stücks realer Welt. Dieser Un¬ terschied wird besonders relevant, wenn man in philosophi¬ schen Texten oder Berichten der Artificial Intelligence auf das Wort „Repräsentation“ stößt, das fast immer realistische Voraussetzungen impliziert.
((50)) Die Rolle dieser Vorstellungen hat Piaget sehr gut be¬ schrieben:
Durch die Tatsache, daß es in das System der Vorstel¬ lungen und der abstrakten oder indirekten Beziehun¬ gen eingeht, erlangt das Objekt einen endgültigen Grad der Freiheit im Bewußtsein des Subjekts: Es wird jetzt trotz aller Verlagerungen und zeitweiligem Verschwin¬ den aus dem Wahmehmungsfeld als sich selbst iden¬ tisch bleibend begriffen.6 (Piaget, 1937, p.75)
((51)) Die Fähigkeit, sich ein abwesendes Objekt vorzustellen, ist eine Weiterentwicklung der Fähigkeit, ein Objekt als ein be¬ reits erlebtes zu erkennen. Die beiden entstehen nicht mit-, sondern nacheinander. Daß die Folge keineswegs automatisch ist, scheint mir am besten dadurch belegt, daß wir eine ganze Menge von Leuten als Bekannte erkennen, wenn wir mit ihnen Zusammentreffen, aber unfähig sind, sie zu beschreiben, wenn wir sie nicht im Gesichtsfeld haben. (Das, was ich oben ‘Er¬ kennungsmuster’ nannte, ist also bestenfalls eine Vorstufe und wird erst durch wiederholte Reflexion zu jener selbständigen Vorstellung, die zur Objektpermanenz nötig ist.)
((52)) Um auch die anderen Begriffe, die bereits Berkeley als mentale Konstrukte bezeichnete, auf meine Weise zu ana¬ lysieren, möchte ich die Struktur der ‘Änderung’ graphisch darstellen. Auch dieser Begriff entspringt einer Folge von Erlebensmomenten, denn auf Grund einer einzigen Beobach¬ tung kann man keine Änderung konzipieren. Man braucht mindestens zwei, zwischen denen man einen Unterschied fest¬ stellt. Nehmen wir an, ich sehe, daß der Apfel, den meine Frau mir vor zwei Tagen auf den Schreibtisch gelegt hat, nun angefault ist. Das Diagramm dieser Änderung sieht so aus:
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((53)) Um zu sagen, daß der Apfel „X“ sich verändert hat, muß ich annehmen, daß er in beiden Beobachtungen dersel¬ be war; wäre er es nicht, so müßte ich ‘Austausch’ denken, nicht ‘Veränderung’. Ist der Apfel an eine andere Stelle des Schreibtischs gerollt, so setzte ich statt der Eigenschaften im Diagramm die zwei verschiedenen Ortsbestimmungen ein, und dann zeigt es die ‘Ortsveränderung’ an.
((54)) Wenn ein Objekt im Laufe mehrerer Erlebnisse in ge¬ wisser Hinsicht unverändert bleibt, so kann ich die Fortdauer seines Zustands durch zwei einander folgende, aber anson¬ sten gleiche Momentaufnahmen anzeigen und so den Begriff der Dauer nahelegen. Verbinde ich das Element der Fortdau¬ er an einem Ort mit der Beobachtung des identischen Indivi¬ duums an einem anderen, so erhalte ich den Begriff der räum¬ lichen ‘Ausdehnung’.
((55)) Daß die in diesen Diagrammen angedeuteten menta¬ len Operationen zumeist nicht bewußt registriert werden, läßt sich mit Hilfe von zwei ganz banalen Aussagen zeigen. Ein¬ mal sage ich zu einem Besucher: „Der Zug geht direkt von hier nach Boston“, ein andermal,.Diese Straße geht nach Bo¬ ston.“ Normalerweise wird weder mir noch ihm dabei be¬ wußt, daß der Zug nur jeweils an einem Ort sein kann, wäh¬ rend die Straße als an beiden Orten zugleich gedacht wird
((56)) Ich hoffe, diese Beispiele genügen, um zu zeigen, daß diese Art der Zerlegung in der Herstellung von Modellen der Begriffskonstruktion und somit der Wortbedeutungen über¬ aus brauchbar ist.
Zusammenfassung und Gebrauchsanweisung
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