Annotationen:Gerhard Vollmer – Wo bleiben die Argumente

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((3)) Von dieser Unsicherheit springt von Glasersfeld nun aber gleich zu der Behauptung ((21)), Wahrheit und Wissen seien uns versagt, ein (Fehl-)Schluss, den Einstein sich natürlich niemals erlaubt hätte. Dieser Schluß wäre nur dann zulässig, wenn Wahrheit und Wissen auf Sicherheit angewiesen wären. Tatsächlich wurde ‘Wissen’ oft als ‘wahre und fundierte Überzeugung’ (‘justified true belief’) aufgefaßt. Aber schon Platon kritisiert diese klassische Explikation im Theaitetos, ohne jedoch eine haltbare Alternative anzubieten. Sein Hauptargument ist die Schwierigkeit, die erhoffte oder geforderte Fundierung nun auch zu liefern, ohne in einen Zirkel oder in einen unendlichen Regreß zu geraten. Eine gründliche Diskussion dieses Problems findet sich in von Kutschera (1982, Kap. 1.3).
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((4)) Letztlich bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder geben wir den Anspruch auf Wissen vollständig auf, oder wir geben uns mit einem Wissensbegriff zufrieden, der Fundierung, Rechtfertigung, Sicherheit weder fordert noch bietet. Haben wir den Sicherheitsanspruch aber erst einmal aufgegeben, dann können wir offenbar guten Gewissens behaupten, daß wir etwas wissen, daß wir Wahrheit erkennen, Außenwelt rekonstruieren können. Dann ist es sogar möglich, objektive Erkenntnis zu erlangen; denn auch Objektivität ist auf Sicherheit nicht angewiesen.
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((5)) Richtig bleibt, daß unser Wissen, unsere Rekonstruktionen, unsere Weltbilder in unserem Kopf entstehen. Wollte der Konstruktivismus nur betonen, daß unsere Erkenntnis eine konstruktive Leistung unseres Gehirns ist, dann sind fast alle Philosophen, Psychologen, Neurobiologen Konstruktivisten: Empiristen wie Rationalisten, Kant, Einstein, Piaget, Popper. Die entscheidende Frage ist natürlich, ob diese unsere Konstruktionen Re-Konstruktionen sind, ob es zwischen unseren Konstruktionen und der Welt da draußen Strukturgleichheiten, Isomorphien gibt und ob wir darüber etwas sagen können.
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((6)) Der radikale Konstruktivist wirft die Flinte ins Korn, erhebt keinerlei Wahrheitsansprüche mehr und ist auch noch stolz darauf. Rechthaberei vertiere ihren Sinn, wie schön. Trotzdem könne man noch "darüber diskutieren, ob eine Handlungsoder Denkweise voraussichtlich zu dem gemeinsam erwünschten Ziel führen wird oder nicht” ((60)). Aber wie soll das gehen? Stellen dabei nicht beide Vermutungen über die Zukunft an? Und wenn ihre Überzeugungen einander widersprechen, ist dann nicht die eine wahr, die andere falsch? Worüber sollen sie überhaupt diskutieren, wenn es selbst in der Frage, was zielführend ist, keine Wahrheit gibt? Und warum sollten sie sich über ihre Ziele einig sein? Wie sollten sie sich einigen, wenn es auch und gerade über die Angemessenheit von Zielen nur noch persönliche Meinungen gibt?
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((7)) Der radikale Konstruktivist gibt den Realismus auf, weil er ihn nicht beweisen kann. Aber er geht davon aus, daß es andere Subjekte gibt, mit denen man kommunizieren kann. Das ist ebenfalls eine metaphysische Annahme, und eine durchaus anspruchsvolle. Wenn er schon radikal sein will, warum verzichtet er dann nicht gänzlich auf Metaphysik und wird Solipsist? Das wäre wenigstens konsequent. Wer aber nicht Solipsist sein will, der sollte wiederum konsequent sein und hypothetischer Realist werden! Der radikale Konstruktivist dagegen schwebt unentschlossen irgendwo zwischen Solipsismus und Realismus. Und weil dabei jede Festlegung willkürlich ist, sind sich die radikalen Konstruktivsten auch untereinander keineswegs einig. So gibt es gemäßigte Radikale wie Gerhard Roth und radikale Radikale wie Siegfried J. Schmidt.
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((8)) Für den Realismus sprechen aber noch bessere Argumente als der Verzicht auf Willkür. (Vollmer 1998) Im allgemeinen heißt es, der Erfolg realistischer Theorien sei das beste Argument für den Realismus. (Putnam 1976,177) Es gibt aber ein weit besseres Argument: das Scheitern von Theorien. Wir betrachten eine Theorie als gescheitert, wenn etwas anders läuft, als wir aufgrund der Theorie erwarten. Ob eine Theorie Erfolg hat oder scheitert, können wir feststellen unabhängig davon, ob wir Realisten sind oder nicht. Fragen wir nun aber, woran unsere Theorien eigentlich scheitern, dann hat der Realist eine einfache Antwort: Sie scheitern, weil sie falsch sind, weil die Welt anders ist, als die Theorie unterstellt. Um anders sein zu können, muß die Welt nicht nur existieren; sie muß auch eine spezifische Struktur haben, die man (treffen oder) verfehlen kann.
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((9)) Darüber hinaus erklärt der Realismus, warum es so viel mehr gescheiterte Theorien gibt als erfolgreiche: weil es nämlich viel mehr falsche als wahre Theorien gibt. Nach von Glasersfeld (1981,35) "kann ein assimilierendes Bewußtsein auch in einer völlig ordnungslosen, chaotischen Welt Regelmäßigkeiten und Ordnung konstruieren". Dann dürfte es aber mit keiner Konstruktion scheitern. Tatsächlich scheitern wir aber oft und viel öfter, als uns lieb ist. Warum wohl? Ordnungslos oder chaotisch ist die Welt offenbar nicht. Viel mehr ist sie reich strukturiert; sie hat viele, gar zu viele Ecken und Kanten, an denen wir uns stoßen.
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((12)) Der Realismus erklärt aber noch mehr. In der Entwicklung der Wissenschaft finden wir ein Phänomen, das wir Konvergenz der Forschung nennen können. Es geht dabei um mehrere Arten von Konvergenz: um Konvergenz der Meßwerte, Konvergenz der Meßmethoden, Konvergenz der Theorien. Wichtig ist wieder, daß wir diese Konvergenzen feststellen können, ohne Realisten sein zu müssen. Nun aber fragen wir für dieses Phänomen nach einer Erklärung: Wie kommt es, daß Meßwerte, Meßmethoden, Theorien konvergieren? Wieder bleibt der Anti-Realist jede Antwort schuldig, während der Realist eine einfache Antwort bereit hat: Die Forschung konvergiert, weil es reale Strukturen gibt, die wir entdecken können und tatsächlich allmählich entdecken. Diese Erklärung scheint, wenn wir nicht Transzendentalphilosophen werden wollen, sogar weit und breit die einzige zu sein, die überhaupt angeboten wird.
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((13)) Nun gut, sagt der radikale Konstruktivist, Realität mag es ja geben; leider aber können wir sie nicht erkennen; deshalb sollten wir auch nicht davon reden. Konstruktivsten lieben das Gleichnis vom Kapitän, der bei Nebel eine Meerenge durchfährt und auf die Frage, wie die Küstenlinie verlaufe, nur antworten könne, wo sie nicht sei. Aber das ist ja immerhin etwas. Zu wissen, wie es nicht ist, ist bereits ein Stück Wissen. Und was hindert den Kapitän, so lange in der Meerenge zu kreuzen, bis er auch den Küstenverlauf hinreichend genau kennt? Auch Wissenschaftler erkunden so lange, wie es nicht ist, bis sie hinreichend genau wissen, wie es ist. Wer wird, wenn zwei Menschen sich streiten, daran zweifeln, daß hier zwei Systeme vorhanden sind? Man kann zeigen, warum die Welt, die wir kennen, nicht einoder zweidimensional, aber auch nicht vieroder höherdimensional sein kann. Dann liegt die Vermutung nahe, sie sei dreidimensional. Diese Deutung bewährt sich; alle anderen scheitern. Warum wohl?