Text:Rolf Todesco – Genetische Wissenschaftsgeschichte, Kollaboratives Lernen und Hyperkommunikation

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Rolf Todesco – Genetische Wissenschaftsgeschichte, Kollaboratives Lernen und Hyperkommunikation

((1)) Der Radikale Konstruktivismus kann aus immanenten Gründen nicht an einem ontologischen Wahrheitsgehalt gemessen werden. Er muss sich in seinen Anwendungen als viabel erweisen. Ernst von Glasersfeld demonstriert die Viabilität seines Konstruktivismus anhand einiger Beispiele der Begriffsanalyse (EvG ((43ff))). Abschliessend schreibt er, „konstruktivistische Ansätze sind heute ein Gemeinplatz in der Didaktik (...)", und relativiert, dass die Leser seines „Artikels selbst entscheiden müssen, inwieweit sie (diese Ansätze) mit den hier (im Artikel) beschriebenen Grundsätzen übereinstimmen“ (EvG ((59))). Ernst von Glasersfeld’s Formulierung „für mich liegt das wichtigste Anwendungsgebiet des Konstruktivismus im alltäglichen Leben“ (EvG ((60))) ist treffend und ausweichend zugleich, denn was, was Menschen beschäftigt, findet nicht im alltäglichen Leben statt?

((2)) Der Radikale Konstruktivismus muss sich (auch) im alltäglichen Gebrauch von Wissenschaftlern und Lehrern als viabel erweisen. Zur Diskussion steht seine Brauchbarkeit. Ich will diese im folgenden in drei Gebrauchsanweisungen diskutieren.

1. Gebrauchsanweisung: Genetische Wissenschaftstheorie

((3)) Ernst von Glasersfeld stellt sich und seinen Konstruktivismus, obwohl er dessen Subjektivität betont, in die Tradition der Wissenschaften. Man kann, und ich tue es, den Radikalen Konstruktivismus auch radikaler verstehen, nämlich nicht als Paradigmenwechsel innerhalb der Wissenschaft, sondern als Paradigma nach der Wissenschaft. Aus der Sicht des Radikalen Konstruktivismus lässt sich die Wissenschaft insgesamt als Paradigma der Diskussion um objektive Wahrheit interpretieren. Im für die Sache von Piaget recht seltsam gewählten Ausdruck „Konstruktion“ deutet sich unmissverständlich an, was wir heute Engineering nennen: wir konstruieren die Welt nicht unter Gesichtspunkten von Wahrheit, sondern von Viabilität.

((4)) Ernst von Glasersfeld schreibt, dass sein Denken und mithin der Radikale Konstruktivismus sich aus vier Quellgebieten genährt haben (EvG ((3))). Diese Quellgebiete werden von ihm extrem selektiv (re-)konstruiert: die als erste seiner Quellen angeführten, skeptischen Zitate sind innerhalb der Wissenschaften überhaupt nicht begreifbar und haben dort auch keinerlei Konsequenzen (gehabt). Erst im Konstruktivismus lassen sich diese innerhalb der Wissenschaften abweichenden Formulierungen als Signale eines immer schon antizipierten Paradigmen Wechsels zur Konstruktion verstehen. Das paradigmatische Selbstverständnis der Naturwissenschaften ist dagegen notwendigerweise bei Popper stehengeblieben. Theoreme der allgemeinen Relativität, der Unschärfe, der Wellen-Korpuskel-Zweiheit usw. beherrschen nur esoterische Diskurse. Innerhalb der Naturwissenschaften wird nach wie vor die Welt vermessen, wie sie wirklich, resp. an sich ist.

((5)) In den weicheren Naturwissenschaften lässt sich kaum jemand finden, der die Evolutionstheorie - die immer noch Darwin statt Wallace zugeschrieben wird - als halbwegs sinnvolle Konstruktion auffasst und nicht mit der einzig möglichen Realität gleichsetzt. Ernsthafte Zweifel an der Evolutionsgeschichte sind innerhalb der Wissenschaft nicht „viabel“, wie kontrovers die Details der Evolution auch behandelt werden.

((6)) Dass man Piaget keineswegs radikal konstruktivistisch lesen muss, und dass er gemeinhin auch nicht so gelesen wird, ist wie Ernst von Glasersfeld ausdrücklich schreibt, sogar die Begründung des Labels „Radikaler Konstruktivismus“, Vielmehr wird Piaget nicht nur in der angelsächsischen Psychologie auch heute noch vorwiegend innerhalb mehr oder weniger naiv realistischer Konzeptionen rezipiert. Auch Bruners Argumentation über Piagets Selbstverständnis (EvG, ((Anmerkung 3)))lässt sich ohne „Radikale“ Auswahl von Textstellen, wie Ernst von Glasersfeld zugibt, nicht leicht verwerfen: Piaget ist vor allem in den Augen der Radikalen radikal, er selbst hat sich sehr stark um wissenschaftliche Wahrheit bemüht.

((7)) Es ist ein hervorragender Gebrauchswert des Radikalen Konstruktivismus, wissenschaftliche Texte als solche zu durchschauen. Es geht dabei aber nicht um eine Weiterentwicklung der Wissenschaften „durch eine schrittweise Einführung neuer, bewußter Voraussetzungen“ (EvG ((4))), sondern um die hegelsche Aufhebung jener Wahrheitsfindung überhaupt, welche Wissenschaften konstituiert. Die Kybernetik des Konstruktivismus untersucht nicht mehr ontologisch gegebene Realitäten, sondern den Kybernetiker (Beobachter), der solche Realitäten für-wahrnimmt. Genau deshalb nennt Heinz von Foerster, einer der besten Freunde von Ernst von Glasersfeld, denKonstruktivismus Kybernetik der Kybernetik (Second Order Cybernetics). Mit der Systemtheorie von Wiener und Shannon hat das so viel oder so wenig zu tun, wie Marx mit Hegel. Die radikale „Entdeckung“, dass das „operationell geschlossene System“ von Powers (EvG ((37))), das sich nicht mit seiner Umwelt sondern mit sich selbst beschäftigt, insbesondere die Kybernetiker Wiener, Shannon und Powers selbst beschreibt, ist etwas, was sich diese Herren kaum träumen liessen, geschweige denn, jemals auch nur ansatzweise formuliert hätten.

((8)) Als Wissenschaftskritik ist der Radikale Konstruktivismus eine ausführlich dokumentierte Anleitung zur Dekonstruktion von Kommunikations-Metaphern, wie sie in der Systemtheorie 1. Ordnung, die sich mit offenen Systemen beschäftigt, geläufig sind. So ist etwa Maturanas Frage, welche Instanz der Natur denn jenseits der wissenschaftlichen Beobachtern (Gen-Technologen) den vermeintlichen DNS-Code der Gene lese, wissenschaftlich so wenig beantwortbar, wie die Informationstheorie einen brauchbaren Begriff von Information vorlegen kann.

2. Gebrauchsanweisung: Kollaboratives Lernen

((9)) Ernst von Glasersfeld hat seinen Artikel mit „Wissenstheorie" überschrieben. Egal was Wissen ist, ein Teil davon zeigt sich in Texten, oder genauer gesprochen, darin, welcheTexte(teile) durch welche ersetzbar sind. Wenn wir in einemGespräch den andern nicht verstehen, also umgangssprachlich gesprochen nicht „wissen“, was der andere meint, arbeiten wir mit solchen Ersetzungen. Ein Wort wird „erklärt“, indem man andere Wörter dafür angibt, auch wenn zweifelsohne stimmt, dass man Wörter überhaupt so nicht einführen kann(EvG ((38f))). Für „Tisch“ kann man je nach Kontext sagen:ein Möbel; eine Platte mit Beinen; das, was wir gestern gekauft haben; table; desk; das da; usw. Immer wird eine Buchstabenkette durch eine andere ersetzt. Einen anderen Menschen verstehen heisst in diesem Sinne, wissen, welche Ersetzungen er in welchen Situationen machen oder zulassen würde. Was sich der je andere dabei denkt, ist im strengen Sinne des Wortes unerheblich, nicht erhebbar, weil jedes Nachfragen wieder nur durch Worte ersetzt werden kann. „Wörter befördern ihre Bedeutung nicht“ (EvG ((38))). Ich kann nicht wissen, was die andern wissen, ich kann diesbezüglich nur inErfahrungen bringen, welche materiellen Texte und Textersetzungen sie unabhängig von den Bedeutungen, die dieseTexte für mich haben, akzeptieren und welche nicht. JeneSozialpsychologen, von welchen Ernst von Glasersfeld sagt, sie hätten recht „wenn sie sagen, daß die Bedeutungen vonWörtern in der Gesellschaft ‘ausgehandelt’ werden“ (EvG ((42))), haben radikal gesehen überhaupt nicht recht Wir verhandeln nicht die Bedeutung von Wörtern, wir lernen durchAkkommodation (EvG ((35))), welche Wörter wir - unabhängig von ihrer Bedeutung - wann mit Gewinn verwenden können. Das Kleinkind, das in bestimmten Situationen Tasse statt Tassen sagt sieht eben in der Reaktion seiner Umwelt, wozu insbesondere auch seine Mutter gehört, dass es besser Tassen gesagt hätte, und zwar auch jenseits davon, ob es Dinge an sich oder mentale Operationen unterscheidet (EvG ((46))).

((10)) Sprachliches Lernen ist ein kollaborativer Prozess, in welchem es nicht darum geht, dass Wissen von einigen, die es haben, an andere, die es wollen, übermittelt wird, sondern darum, dass die an der Kollaboration Beteiligten gemeinsam erforschen, welche Texte in ihrer gemeinsamen Praxis für alle viabel sind. Dabei geht es darum, einen gemeinsamen physisch-materiellen Text im engen Sinne des Wortes zu konstruieren. Das gemeinsame ist der Text als externes Gedächtnis (Keil-Slawik) und keinesfalls irgendeine Bedeutung des Textes. Das Wissen der Lerngemeinschaft existiert als dynamischer Text, der von den Beteiligten kollaborativ, jenseits vonBedeutungen, die der Text für den Einzelnen bat, weiterentwickelt wird, wiewohl der Einzelne den Text natürlich gemäss den Bedeutungen, die er für ihn hat, erzeugt. Natürlich kann man dann auch nicht an „richtigen“ und „falschen“ Interpretationen des Textes interessiert sein oder daran, dass die am Lernprozess Beteiligten alle das gleiche lernen.

((11)) ln diesem Sinne ist Konstruktivismus auch keine Didaktik, sondern die Aufhebung jeder Didaktik, was wohl in der bereits erwähnten Relativierung von Ernst von Glasersfeld angedeutet ist. Didaktiken sind darauf hin angelegt, das Lehren zu optimieren. Wo in Didaktiken verschleiernd vomLernen die Rede ist geht es immer um das trivialisierende„Lernen“, das der Lehrer kontrolliert nicht um das Lernen, das von Ernst von Glasersfeld mit dem Begriff der Akkommodation beschrieben wird (EvG ((35))).

3. Gebrauchsanweisung: Hypertexte

((12)) In den Studiengängen, die ich an der Fachstelle fürWeiterbildung der Universität Zürich organisiere (http://www.unizh.ch/weiterbildung dort, zB. Hyperkommunikation),gibt es anstelle von Kursunterlagen, in welchen steht was einer schon weiss und jeder andere wissen muss, gemeinsameKursunterlagen, die von den Beteiligten gemeinsam produziert werden. Wie wir nach kurzen Versuchen wissen, ist das gemeinsame Formulieren von sequentiellen Texten eine kaum erlernbare Kunst, ln konventioneller Koautorenschaft formuliert ein Autor, die Koautoren müssen korrigierend mehr oderweniger zufrieden sein. Mit Hypertext haben wir ein Medium, das sinnvolle Kollaboration zulässt, weil darin paralleleFormulierungen möglich sind. Die Autoren stellen ein Vokabular aus Hypertextteilen (häufig Hyperkarten genannt) zurVerfügung, so wie wir Wörter - jenseits ihrer Bedeutung - immer schon zur Verfügung haben. Der Leserautor setzt Textteile zusammen, so wie wir beim Sprechen Wörter zusammensetzen (Todesco, 1998, 1999).

((13)) Wesentlich ist hier: Die Koautoren formulieren selbst. Im Lernprozess geht es uns ausschliesslich darum, Viabilität in kollektiven Formulierungen zu erzeugen, indem wir einen gemeinsamen Hyper-Text produzieren, in welchen die Beteiligten ihr eigenes Wissen zum Thema einbringen und mit den Beiträgen der andern verknüpfen, respektive verlinken. Ein FTP-Server im Internet bietet die Möglichkeit, dass alle Beteiligten jederzeit mitschreiben und mitlesen können.

((14)) Diese Lernform ist kollektives Resultat, das wir in unseren Studiengängen in der Auseinandersetzung mit Ernst von Glasersfeld’s Radikalem Konstruktivismus entwickelt haben. Wir sind nun im Rahmen eines EU-Projektes über Wissensmanagement dabei, Spielregeln für solche (in unseren Augen) konstruktivistischen Lernprojekte zu entwickeln.

Literatur

Todesco. R. (1998). Effiziente Informationseinheiten im Hypertext. In: Stoner, Angelika / Harriehausen, Bettina (Hrsg.): Hypermedia für Lexikon und Grammatik. Gunter Narr, Tübingen
Todesco, R. (1999). Wissensmanagement im Hypertext, ln: Jakobs, Eva- Maria / Knorr, Dagmar (Hrsg ): Textproduktion. Hypertext. Text, Kontext [Textproduktion und Medium; 4]. Peter Lang, Frankfurt/M. u.a.