Text:Elke Heise/Peter Gerjets – Welche Konsequenzen hat die radikal-konstruktivistische Wissenstheorie
Elke Heise/Peter Gerjets – Welche Konsequenzen hat die radikal-konstruktivistische Wissenstheorie?
((1)) Die von v. Glasersfeld formulierte radikal-konstruktivistische Wissenstheorie läßt zwei Interpretationen zu: Zum einen kann sie als eine Theorie des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses und damit als eine wissenschaftstheoretische Position verstanden werden. Zum anderen läßt sie sich als eine Theorie des menschlichen Wissens und somit als eine kognitionspsychologische Theorie interpretieren. Für beide Interpretationen stellen sich aus unserer Sicht zwei grundlegende Fragen, denen wir im folgenden zunächst für die wissenschaftstheoretische und anschließend für die kognitionspsychologische Interpretation nachgehen werden: 1. Ist der radikale Konstruktivismus neu und radikal? 2. Welche Veränderungen in der Forschungspraxis bringt er mit sich?
((2))Radikaler Konstruktivismus als Wissenschaftstheorie: In seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen ((1) - (22)) plädiert v. Glasersfeld dafür, die Vorstellung einer objektiv erkennbaren Realität aufzugeben und durch die Vorstellung einer aktiven Konstruktion kognitiver Strukturen zum Umgang mit der Realität zu ersetzen. Er weist darauf hin, daß Beschreibungen und Erklärungen der Welt auf Begriffen beruhen, die von menschlichen Beobachtern erfunden und auf Erfahrungen mit der Realität angewandt werden ((7) - (9)). Wissenschaftliches Wissen sollte nach v. Glasersfeld nicht als Repräsentation der Realität im Sinne einer homomorphen Abbildung interpretiert werden. Diese Sichtweise erscheint vermutlich vor allem dann neu und radikal, wenn man einer naiven realistisch-empiristischen Perspektive anhängt, für die empirische Forschung „der goldene Weg zur Erkenntnis der realen, objektiven Welt“ ((20)) ist. Mit Weiterentwicklungen des Empirismus wie der strukturalistischen Theorienkonzeption (Balzer, Moulines & Sneed, 1987) ist v. Glasersfelds Auffassung dagegen problemlos vereinbar.
((3)) Aus strukturalistischer Sicht setzt sich eine Theorie T aus einem formalen Kern K und einer Menge von intendierten Anwendungen / zusammen: T = (K, I). Der formale Kem präzisiert Begriffe und Annahmen der Theorie durch die Definition verschiedener Mengen von mathematischen Strukturen. Zentral sind dabei vor allem die Menge der potentiellen Modelle und die Menge der (echten) Modelle einer Theorie. Während potentielle Modelle dadurch charakterisiert sind, daß sie die begrifflichen Axiome der Theorie über angenommene Objektmengen und darauf definierte Relationen und Funktionen erfüllen, genügen die Modelle zusätzlich den Gesetzesannahmen der Theorie, in denen die eingeführten Begriffe miteinander verknüpft werden. Eine Theorie auf einen Realitätsausschnitt anzuwenden bedeutet im Strukturalismus, diesen Realitätsausschnitt als potentielles Modell der Theorie zu rekonstruieren, d.h. ihn in der Begrifflichkeit der Theorie zu beschreiben. Mit jedem Realitätsausschnitt, der zur Menge der intendierten Anwendungen einer Theorie gehört, ist die empirische Hypothese verbunden, daß er auch die Gesetzesannahmen der Theorie erfüllt und sich somit als echtes Modell der Theorie erweist. Derartige Hypothesen werden in empirischen Untersuchungen geprüft. Erfüllt eine intendierte Anwendung die Gesetze der Theorie, so wird sie in die Untermenge der erfolgreichen Anwendungen aufgenonunen. Daß sich ein Realitätsausschnitt als erfolgreiche Anwendung einer Theorie beschreiben läßt, ist strukturalistisch gleichbedeutend damit, daß die Theorie diesen Realitätsausschnitt „erklärt“.
((4)) Aus strukturalistischer Sicht läßt sich jeder Realitätsausschnitt prinzipiell als potentielles Modell verschiedener Theorien rekonstruieren. Ganz im Sinne der Forderung v. Glasersfelds wird somit die Lösung eines Problems „nie als die einzig mögliche betrachtet“ ((58)) und „alles Rechthaberische [verliert] seinen Sinn“ ((60)). Auch der Begriff der ontischen Wahrheit, den v. Glasersfeld durch den der Viabi lität ersetzt wissen möchte ((58)), wird im Strukturalismus nicht benötigt. Aus strukturalistischer Perspektive erweist sich eine Theorie als umso nützlicher („viabler“ in der Terminologie v. Glasersfelds), je mehr erfolgreiche Anwendungen für sie gefunden werden können. Im Einklang mit der strukturalistischen Sichtweise bezeichnet Hetnnann (1983) (kognitions-)psychologische Theorien als „konzeptuelle Entwürfe, die sichHandlungssubjekte in bestimmten historischen Situationen unter bestimmten Zielsetzungen (Problemlösungsperspektiven) von einer Wirklichkeit machen“ (S. 96-97; Hervorhebungen im Original) und unterstreicht damit den konstruktivistischen Charakter von Theorien. Eine Theorie gleicht demnach weniger einem Abbild der objektiven Realität, als vielmehr einem Entwurf, in dem ein Bild der Realität konstruiert wird,
((5)) Um über die Nützlichkeit einer Theorie in einem bestimmten Anwendungskontext entscheiden zu können, ist die empirische Prüfung der mit dieser Theorie verbundenen Hypothesen unerläßlich. Dabei kann auch aus strukturalistischer Sicht die Falsifikationsmethodologie des Popperschen Kritischen Rationalismus nutzbar gemacht werden (Westermann, 1987). Falsifizierhar sind allerdings nach strukturalistischer Auffassung lediglich die mit Theorien verbundenen empirischen Hypothesen und Behauptungen, nicht aber die Theorien selbst, wie es von Popper angenommen wird. Theorien sind vielmehr als abstrakte Strukturen zu betrachten und stellen damit keine Gebilde dar, die sich sinnvollerweise als wahr oder falsch klassifizieren lassen. Dementsprechend zwingt auch im Falle der Falsifikation einer empirischen Hypothese kein logischer Mechanismus dazu, die zugrunde liegende Theorie aufzugeben. Statt dessen können die erfolglosen Anwendungen aus der prinzipiell offenen und nur pragmatisch eingegrenzten Menge der intendierten Anwendungen der Theorie entfernt werden.
((6)) Die strukturalistische Auffassung von Theorien und ihrer Funktion im Forschungsprozeß scheint uns durchgängig gut verträglich mit v. Glasersfelds Position zu sein. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern eine aus radikal-konstruktivistischer Perspektive-betriebene empirische Forschung sich von der Forschungspraxis innerhalb des strukturalistischen Paradigmas unterscheidet. Wendet man v. Glasersfetds Gütekriterium der „Anpassung“ {(23) - (25)) auf wissenschaftliche Theorien an, so stellt auch aus radikal-konstruktivistischer Sicht die Empirie den Prüfstein für die Qualität einer Theorie dar. Nur wenn die mit einer Theorie verbundenen Vorhersagen sich in der Empirie bewähren, kann die Theorie als wirklichkeitsangepaßt gelten. Wenn man die Poppersche Vorstellung einer im Verlauf des Forschungsprozesses zunehmenden „Wahrheitsnähe“ von Theorien durch diesen Anpassungsbegriff ersetzt, steht auch die strokturalistisch interpretierte kritisch-rationalistische Falsifikationsmethodologie im Einklang mit v. Glasersfelds Position. Kritische Rationalisten gehen wie Stnikturalisten vom Primat der Theorien gegenüber der Empirie aus und betrachten Empirie als „theoriegeladene“ Beobachtung, die im Forschungsprozeß benötigt wird, um die Nützlichkeit der vorgeordneten „erfundenen“ Konzepte zu prüfen. Weitergehende, mit der strukturalistischen Position unvereinbare methodologische Implikationen des radikalen Konstruktivismus sind uns aus v. Glasersfelds Erläuterungen nicht ersichtlich.
((7)) Radikaler Konstruktivismus als kognitionspsychologische Theorie: Unter der zweiten möglichen Lesart formuliert v. Glasersfeld nicht eine wissenschaftstheoretische Position, sondern eine allgemeine Theorie des menschlichen Wissens, d.h. eine Theorie über kognitive Strukturen, die Menschen verwenden, um mehr oder weniger erfolgreich mit der Realität umzugehen. Diese Strukturen sollten nach v. Glasersfeld nicht als Repräsentationen der Realität, sondern als “interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” ((1)) aufgefaßt werden. Um diesen Prozeß der Realitätskonstruktion zu beschreiben, zieht er Piagets Konzept des Handlungsschemas und die zugehörigen Prinzipien der Assimilation und Akkomodation heran ((29) - (35)). Aus unserer Sicht ist vor allem die Frage interessant, inwiefern sich die auf diesem Wege entstehenden Realitätskonstruktionen von den Wissensstrukturen unterscheiden, die in gängigen kognitionspsychologischen Theorien angenommen werden. Bedeutsam ist für uns auch, ob sich Unterschiede zwischen radikal-konstruktivistischer und traditioneller Auffassung in forschungspraktischen Konsequenzen niederschlagen.
((8)) Der Begriff der mentalen Repräsentation gilt in der kognitiven Psychologie als zentrales theoretisches Konzept “Mit diesem Begriff wird auf systeminteme Zustände verwiesen, von denen man annimmt, daß sie systemexterne Zustände abbilden” (Engelkamp & Pechmann, 1993, S. 7). Dieser Abbildcharakter mentaler Repräsentationen wird von vielen Autoren betont (z.B. Hermann, 1993; Kluwe & Haider, 1993; Tack, 1987), zugleich aber auch stark problematisiert. Unklar ist beispielsweise, was durch solche Repräsentationen abgebildet wird, die sich nicht auf einfache physikalische Reizkonfigurationen (z.B. grüne Dreiecke), sondern auf psychische (z.B. Emotionen) oder soziale Phänomene (z.B. den Konfuzianismus) beziehen (Hermann, 1993). Eine andere Frage bezieht sich darauf, was eigentlich durch bestimmte nicht-propositionale Formen mentaler Repräsentationen (z.B. durch motorische Programme) abgebildet wird (vgl. Pechmann & Engelkamp, 1993). Kritisiert wird auch die Annahme, daß mentale Repräsentationen passive Abbildungen der Umwelt sind. Um den Prozeß der aktiven und selektiven Konstruktion mentaler Repräsentationen zu betonen, spricht man daher oft auch von mentalen Modellen (z.B. Opwis & Lüer, 1996) oder allgemein von Wissensstrukturen (Mandl & Spada, 1988).
((9)) Dieser konstruktive Charakter mentaler Repräsentationen und die Probleme der Abbildtheorie werden also innerhalb der Kognitionspsychologie durchaus thematisiert. Beid Aspekte entsprechen wesentlichen Kritikpunkten v. Glasersfelds an der traditionellen Auffassung mentaler Repräsentationen. Dennoch ist es nur in wenigen Fällen zur Einnahme eines explizit konstruktivistischen Standpunktes im Sinne v. Glasersfelds gekommen. Wie läßt sich diese schwache Reaktion auf konstruktivistische Einwände erklären? Sind die angesprochenen Schwierigkeiten möglicherweise doch nicht von so fundamentaler Natur, wie es v. Glasersfeld annimmt?
((10)) Nach unserer Auffassung widerspricht die radikal-konstruktivistische Position traditionellen kognitionspsychologischen Vorstellungen nur dann, wenn diese in naiv-realistischer Weise mentale Repräsentationen als mehr oder weniger korrekte Abbilder einer objektiv gegebenen Realität ansehen. Dies ist aber im allgemeinen gar nicht der Fall, da Kognitionspsychologen üblicherweise nicht kognitive Strukturen mit einer objektiven Realität vergleichen, sondern Theorien über mentale Repräsentationen aufstellen, in denen sie diese Repräsentationen mit dem Bild vergleichen, das in anderen (wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen) Darstellungen der jeweiligen Domäne entworfen wird (vgl. Kluwe & Haider, 1993). Beispielsweise untersuchen Chi, Feltovich und Glaser (1981) anhand von verbalen Protokollen, wie Anfänger und Fortgeschrittene Aufgaben aus dem Bereich der Physik klassifizieren und bearbeiten. Aus diesen Daten erschließen sie die Qualität der zugrunde liegenden mentalen Modelle bei Experten und Novizen, wobei diese Modelle nicht mit einer objektiven Realität verglichen werden, sondern z.B. mit Lehrbüchern der Physik. Ob eine der physikalischen Repräsentation entsprechende Realität objektiv existiert, ist von diesem Standpunkt aus unerheblich.
((11)) Vergleicht man darüber hinaus die von v. Glasersfeld bevorzugte Realitätskonstruktion im Sinne Fiagetscher Handlungsschemata mit eher traditionellen Konzeptionen mentaler Repräsentationen, so ergeben sich nur wenige forschungspraktische Unterschiede. Die von Anderson (1983,1993) innerhalb des ACT-Rahmens entwickelten Theorien unterteilen das kognitive System z.B. in einen deklarativen Teil, der Faktenwissen in Form eines semantischen Netzes enthält, und einen prozeduralen Teil, in dem Regelwissen in Form von Wenn-Dann-Regeln, den sog. Produktionen, gespeichert ist. Das kognitive System interagiert mit seiner Umwelt, indem es Reize mit Hilfe der im Gedächtnis verfügbaren Konzepte und Regeln interpretiert, d.h. kognitive Strukturen aktiv konstruiert. Zur weiteren Informationsverarbeitung wendet das System jeweils die Regeln an, die mit seinen aktuell aktivierten Zielen übereinstimmen. Es findet also eine ziel- und konzeptgeleitete Verarbeitung von Reizkonfigurationen aus der Umwelt statt, die sich als Assimilation im Sinne von Präget verstehen läßt. Die Regeln oder Produktionen des kognitiven Systems sind den Piagetschen Handlungsschemata vergleichbar. Wenn die Anwendung einer Produktion auf eine bestimmte Reizkonfiguration sich wiederholt als nicht zielführend erweist, wird sie durchprozedurale Lernprozesse modifiziert und dadurch besser an die Umwelt angepaßt. Ein solcher Lernprozeß entspricht einer Akkomodation von Systemkomponenten im Sinne Piagets ((35)).
((12)) Die Piagetsche und die traditionelle kognitionspsychologische Position unterscheiden sich allerdings deutlich im Ausmaß des postulierten Handlungsbezugs von Wissen. Nach Piaget steht Wissen grundsätzlich im Dienste des Handelns: Der Zweck des Wissens besteht nicht darin, die Welt zu er* kennen, sondern vielmehr darin, ein gut angepaßtes Handeln zu ermöglichen ((25), (57)). Diese Handlungsrelevanz von Wissen wird in kognitionspsychologischen Theorien oftmals nicht hinreichend berücksichtigt. Um dieses Defizit zu beheben, ist es erforderlich, kognitive Prozesse stärker als bisher in einen handlungspsychologischen Rahmen einzubetten und z.B. auch mit handlungsrelevanten motivationalen und volitionalen Prozessen zu verknüpfen (vgl. Gerjets, 1995; Gerjets, Heise & Westermann, 1996). Aus der konstruktivistischen Grundannahme der Handlungsrelevanz von Wissen ergibt sich jedoch nach unserer Auffassung keine Veranlassung, typische kognitive Architekturen oder die zugehörige experimentelle Forschung grundlegend zu modifizieren oder aufzugeben.
((13)) Fazit, v. Glasersfeld wendet sich gegen die Annahme, daß wir über Repräsentationen einer objektiv gegebenen Realität verfügen. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht führt seine Auffassung zu der Konsequenz, wissenschaftliche Theorien als konstruierte Strukturen zu betrachten, die weniger in bezug auf ihre Wahrheit, als vielmehr hinsichtlich ihrer Nützlichkeit evaluiert werden müssen. Die Argumente v. Glasersfelds erscheinen uns überzeugend, rennen jedoch offene Türen ein, da sie in modernen wissenschaftstheoretischen Positionen wie der strukturalistischen Theorienkonzeption bereits hinreichend berücksichtigt und methodologisch umgesetzt werden. Als kognitionspsychologische Position aufgefaßt, beruht v. Glasersfelds Kritik hingegen auf einer inadäquaten Interpretation psychologischer Forschungsaktivitäten. In der kognitionspsychologischen Forschung werden nicht mentale Repräsentationen mit einer objektiven Realität verglichen, sondern verschiedene Realitätsentwürfe miteinander. Eine konstruktivistische Konzeption mentaler Strukturen in Anlehnung an Piaget bringt nach unserer Auffassung keine fundamentalen Unterschiede in der Forschungspraxis mit sich. Die Notwendigkeit eines „tiefgreifenden Umbau[s) herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge" ((2)) durch eine radikal-konstruktivistische Perspektive erkennen wir daher nicht.
Literatur
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