Text:Henk Goorhuis – Die Konstruktion der Erleuchtung

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Henk Goorhuis – Die Konstruktion der Erleuchtung

((1)) Der radikale Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld ist eine der revolutionärsten und erfrischendsten Wissenstheorien, denen ich je begegnet bin. In meiner Kritik werde ich daher meine Begeisterung für diese Ansätze nicht verheimlichen können und wollen. Diese Begeisterung gründet dabei nicht etwa auf der Ueberzeugung, dass in dieser Theorie irgendeine Wahrheit steckt, sondern sie ist aus rein pragmatischen Gründen entstanden: ich habe durch den Versuch des Einübens und Anwendens der konstruktivistischen Sichtweise sowohl in meiner Punktion als Erwachsenenbildner, als Forscher sowie in privaten Bereichen nur positive Erfahrungen gemacht.

((2)) Es ist eine offensichtliche Konsequenz des Konstruktivismus, dass Theorien oder Modelle nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden, sondern auf ihre Wirkung. Und dies kann konsequenterweise nie stellvertretend für andere eruiert werden, denn es kann eben für jede Person wieder anders sein. So gesehen können die Auseinandersetzungen über den Konstruktivismus meines Erachtens nie Konsensfindung sein, sondern immer nur aus Anregungen bestehen für das nachfolgende konkrete Experimentieren jedes Einzelnen. Oder wie Glasersfeld sagt: „Alles Rechthaberische verliert seinen Sinn“ ((60)).

((3)) Man müsste sich daher auch fragen, was der Sinn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung wie dieser sein könnte, wenn es nicht mehr um das Finden eines Konsenses geht. Persönlich könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass sich die Zielsetzung wissenschaftlicher Tätigkeit zunehmend dahin verlagert, sich über die subjektive Wirkung und nicht über die Evidenz der verschiedenen möglichen Welt- und Wirklichkeitsmodelle Gedanken zu machen. Ich werde im Folgenden zwei Aspekte der von Ernst von Glasersfeld vorgestellten Theorie aufnehmen, welche ich in meiner Erfahrung als überflüssige Begrenzungen der Theorie erlebt habe, und dann entsprechend mögliche Erweiterungen dieses Konstruktivismus diskutieren.

((4)) Es kann durchaus sein, dass Ernst meine nachfolgenden Vorschläge auch ohne Zögern unterstreichen würde, was wiederum nur zeigt, dass ich die Worte von Ernst von Glasersfeld eben nur wieder auf Grund meiner kognitiven Struktur lesen und mir einen Sinn konstruieren kann. So gesehen schreibe ich hier keine Kritik auf Ernst von Glasersfeld's Theorie, sondern eine Kritik auf mich selbst, nämlich auf die Art und Weise, wie ich mir aus dem vorliegenden Text einen Inhalt konstruiert habe.

Zirkuläre Kognition

((5)) Eine erste Begrenzung der Theorie liegt meiner Meinung nach in dem fehlenden Schluss, dass auch die Ueberprüfung, ob ein Konzept viabel ist oder nicht, wieder von derselben kognitiven Struktur vorgenommen werden muss, wie diejenige, welche das Konzept überhaupt entworfen hat. Dies stellt das Modell von Mach in Frage ((27)), der behauptet, kognitive Strukturen könnten einerseits von Tatsachen widerlegt werden oder miteinander in Konflikt geraten. Die entscheidende Frage ist doch dann, wie diese Unterscheidung festgestellt werden kann. Heinz von Foerster schlägt in seiner Variante des Konstruktivismus (z.B. Foerster 1993) vor, dass dies wohl oder übel wieder mit derselben kognitiven Struktur geschehen muss. Hier ist meines Erachtens die Annahme einer vollständig geschlossenen Zirkularität der Kognition nützlich. Oder wie Maturana und Varela es schreiben: „Each person finds himself in a completely closed and circular Situation“ (Maturana/Varela 1987).

((6)) Den Begriff der Viabilität habe ich deshalb in meinem Umgang mit dem Konstruktivismus dahingehend erweitert. Was nicht viabel ist, scheint sich bei Glasersfeld an irgendetwas stossen zu können, was NICHT aus derselben kognitiven Struktur stammt. Ich habe bessere Erfahrungen gemacht mit der Annahme, dass auch die Viabilität wieder nur von den gleichen kognitiven Strukturen begrenzt oder verhindert werden kann wie die Strukturen, welche das Modell, die Theorie bzw. das Wissen zuvor herstellten. Beide Annahmen lassen sich natürlich weder beweisen noch widerlegen, was auch nicht der Sinn der Sache wäre. Wenn nun also etwas nicht funktioniert, d.h. eine Hypothese oder ein Modell nicht viabel ist, liegt dies eben gar nicht an irgendeinem gegebenen Sieb ((28)), welches selektiert, sondern ausschliesslich am System selbst. Oder auf den Menschen bezogen: Wenn ein Mensch mit einer Hypothese auf Probleme stösst, liegt das an diesem Menschen und nicht an einer Aussenwelt, welche nicht zur Hypothese passt. Der grosse Vorteil dieses Modells scheint mir, dass sich das Subjekt nicht mehr als Opfer einer Welt wahrzunehmen braucht, die immer wieder anders ist als angenommen.

Ein ewiges Bemühen nach Anpassung

((7)) Die Form des Konstruktivismus, wie sie Glasersfeld beschreibt, hat für mich also dahingehend einen zentralen Nachteil, das es ein ewiges Bemühen bleibt, ständig bessere viable Modelle bilden zu müssen. Das Modell geht von Perturbationen aus, wie wenn dies eine unabänderliche Tatsache wäre. Die frühere Suche nach Wahrheit wird ersetzt durch die jetzige Suche nach möglichst viablen Modellen, welche geeignet auf die ewigen Perturbationen - seien sie von Innen oder von Aussen - reagieren lassen. Diese müssen dann wieder ständig dieser unbekannten Aussenwelt angepasst und revidiert werden. Diese Grundannahme könnte - in konstruktivistischer Weise - im Lebensgefühl des Autors begründet liegen. Die ganze Sache bleibt also ein endloses Bemühen um Stabilität und das scheint mir nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen, wie ich weiter unten aufzeigen möchte.

((8)) Der Konstruktivismus bedeutet natürlich, dass jeder Mensch die Welt so beschreibt, wie er oder sie die Welt eben erlebt. So gibt denn jede Aussage eigentlich Auskunft über diejenigen, welche die Aussagen machen und nicht über die Welt. Die Beobachtung beschreibt den Beobachter und nicht das Beobachtete. In diesem Sinne gibt der referierte Artikel Auskunft über die Welt von Ernst von Glasersfeld, aus welcher für mich vor allem auffällt, dass sie ein ständiger Versuch ist, das Gleichgewicht angesichts der Perturbationen aufrecht zu erhalten. Das Leben ist und bleibt anstrengend auf diese Art und Weise. Ich würde gerne wissen, ob Ernst es auch tatsächlich so erlebt, und bei nächster Gelegenheit werde ich ihn darauf ansprechen. Diese Schlüsse hingegen, welche ich als Leser aus dem Text ziehe, sagen natürlich hinwiederum über mich etwas aus, und nichts über den Text und schon gar nichts über Ernst von Glasersfeld. Oder wie Heinz von Foerster so schön konstruktivistisch sagt: „Nicht der Schreiber, sondern der Leser bestimmt den Inhalt eines Textes“.

Unanfechtbare Weltmodelle

((9)) Wenn nun aber die Kognition als vollständig zirkulär angenommen wird, gibt es die Möglichkeit von selbstreferentiellen Modellen, welche sich selber stabilisieren. Es sind natürlich Weltkonzepte denkbar, welche nicht mehr angepasst oder überprüft werden müssen, da sie gar nicht über eine Welt definiert sind. Das ist zum Beispiel der Weg einiger Religionen; die Welt wird über einen unsichtbaren Gott definiert, dann sind Aussagen möglich, welche nicht mehr überprüfbar sind und auch nicht überprüft werden müssen, wie z.B. „Alles ist Gottes Plan und dieser Plan ist unergründlich“. Solche Weltkonzepte sind unanfechtbar und daher ewig stabil, sie sind sozusagen „superviabel“, falls man sie wirklich internalisiert hat. Mir persönlich liegen religiöse Konzepte in dieser dogmatischen Form etwas weniger. Aber auch sie müssen meines Erachtens ganz nach konstruktivistischer Manier nicht in ihrem Wahrheitswert sondern in ihrer Wirksamkeit bzw. in ihren Auswirkungen auf den Alltag überprüft werden.

((10)) Einen anderen Weg gehen die selbstreferentiellen Konzepte. Das sind Modelle, welche sich auf sich selbst beziehen. Ein negatives Beispiel ist die Depression: „Alles was mir geschieht ist zu meinem Nachteil“. Ein hochviables Modell, denn es muss nie an Perturbationen angepasst werden: Es funktioniert immer. Aber natürlich ist es nicht zu empfehlen. Eine andere Möglichkeit ist der Wahn, z.B. „Ich bin Napoleon, aber alle sind zu dumm, um es zu merken“. Auch dieses Modell übersteht alle Perturbationen. Persönlich glaube ich, dass es möglich ist, positive selbstreferentielle Modelle zu konstruieren, welche nicht mehr den Perturbationen des Lebens unterliegen – falls man das will natürlich.

Stabilität durch Eigenwertbildung

((11)) Das Thema der Stabilität ist gerade auch die zweite Begrenzung des Modells, welche ich diskutieren möchte. Glasersfeld beschreibt, dass ein Organismus gegenüber den Perturbationen, die er wahmimmt, versuchen muss im Gleichgewicht zu bleiben ((37)). Wohlgemerkt sind es die Perturbationen, die der Organismus wahrnimmt, und nicht etwa unbedingt Perturbationen einer gegebenen Welt. Dies kann der Organismus nun eben bekanntlich gar nicht unterscheiden. Auch hier wieder scheint es mir von Vorteil anzunehmen, dass die Perturbationen ausschliesslich vom Organismus selbst stammen und dass es daher noch andere Möglichkeiten gäbe, das Gleichgewicht herzustellen. Hier wäre dann eine Stabilität möglich, welche Heinz von Foerster über den Begriff des Eigenwertes einführt (Foerster 1993). Aehnliche Konzepte sind Fixpunkte bzw. Attraktoren. Ein Eigenwert eines Systems ist so definiert, dass er sich selbst stabilisiert. Ein Pendel hat z.B. im Tiefpunkt seinen Eigenwert, denn nach jeder Perturbation geht das Pendel automatisch wieder in seinen Ursprungszustand über. Die Frage ist natürlich, ob es auch für komplexere Systeme bzw. für den Menschen Eigenwerte gibt. Ein solcher Mensch müsste sich nicht mehr über die Aussenwelt wie Beruf, Rolle, Zugehörigkeit etc. definieren. Natürlich sind solche Modelle auch gefährlich, denn sie passen sich nicht mehr an. Es empfiehlt sich da eine gewisse Vorsicht, um nicht in einen Wahn zu verfallen. Aber bei geschickten Modellen lässt sich so eine ganz andere Stabilität herstellen als die im Artikel beschriebene.

Autonomie

((12)) Dies öffnet den Weg zur Möglichkeit der inneren Autonomie eines Systems: ein System im Eigenwert ist sozusagen „frei“ von seiner Umwelt. Es ist beispielsweise dann denkbar, dass ein Mensch völlig autonom wird, wenn er oder sie das innere Gleichgewicht unabhängig aller Perturbationen erreicht, also zu einem Eigenwert findet. Hier wurde für mich schon früh eine deutliche Parallele zum Buddhismus ersichtlich, der eine sehr verwandte Philosophie hat, welche ausschliesslich zum Ziel dieser inneren Befreiung (Nirvana) entwickelt wurde.

((13)) Der buddhistische Begriff der Leerheit bedeutet, dass es keine vom Geist unabhängige Existenz, also nichts wirklich, objektiv existierendes gibt. Die Verwandtschaft zum Konstruktivismus ist offensichtlich. Nur ist das im Buddhismus in letzter Konsequenz keine Einladung um Weltsichten zu reflektieren, sondern eine Methode um sich von jeder Weitsicht zu lösen. Das Aufrechterhalten jeglicher Welt- und Selbstsicht bedarf einer ständigen Anstrengung und wird der Kreislauf des Leidens (Samsara) genannt. Bei jeder Auflösung von Vorstellungen setzt sich deshalb Energie frei. Wenn auch die letzte Vorstellung von sich und der Welt aufgegeben wurde, ist der Mensch erleuchtet (Gyatso 1996). Einen ähnlichen Beitrag kann der Konstruktivismus liefern, da er in sich selbst schon selbstreferentiell ist: er stabilisiert sich sozusagen selbst, er kann weder widerlegt noch bewiesen werden, er ist selbst auch einfach eine Konstruktion. Er ist nach meiner Erfahrung deshalb sehr viabel und führt zu einer ständigen Reflexion über die Unterscheidungen, welche man selbst über die Welt hat. Da jedes Weltmodell auf Unterscheidungen aufbaut, sind eigentlich alle Unterscheidungen fiktiv und in letzter Konsequenz überflüssig: auch die Annahme, dass man überhaupt ein Weltmodell braucht, baut auf einer ersten Unterscheidung auf, welche überwunden werden kann (Gyatso 1998, Goorhuis 1998). Der Konstruktivismus führt daher in meiner Erfahrung unausweichlich in die Welt der Paradoxien, wenn man ihn konsequent genug anwendet: wenn alles (m)eine Konstruktion ist, gilt dies auch dafür, dass gewisse Modelle bzw. Theorien viabel sind und andere nicht. Auch diese Unterscheidung beruht wieder auf Unterscheidungen, an welchen die Viabilität selbst gemessen wird. Jede Konstruktion von Wirklichkeit ist in sich selbst deshalb selbstbezüglich und damit letztlich überflüssig.

Diagonalisierung

((14)) Der Prozess, wie ein System diese innere Autonomie, also seinen Eigenwert findet, wird in der mathematischen Systemtheorie „Diagonalisierung“ genannt. Die Methode dazu ist jene, dass das System seinen eigenen Output wieder als Input verwendet, und zwar so lange, bis ein Fixpunkt bzw. Attraktor erreicht ist. Genau dasselbe tut man im Buddhismus mit Hilfe der Meditation: man beobachtet solange sich selbst, bis Input und Output übereinstimmen (x=Ax). Ich bin der Ueberzeugung, dass mit Hilfe der Systemtheorie und der konstruktivistischen Ansätze eine sehr wertvolle Integration der östlichen Philosophie in die heutige Wissenschaft und damit eine Modernisierung des Geheimnisses der Erleuchtung möglich wird.

Literatur

von Foerster H.: Wissen und Gewissen. Frankfurt: Suhrkamp, 1993.
Goorhuis H.: Distributer decision making. ln: Schwaninger K.: Intelligent Organisations. Proceedings of the Annual Congres of the Society for Econimical Cybernetics. To be published in 1998.
Gyatso. Geshe Kelsang: Einführung in den Buddhismus. Zürich: Tharpa, 1996.
Gyatso, Geshe Kelsang: Den Geist verstehen. Zürich: Tharpa, 1998.
Maturana H., Varela F.: Der Baum der Erkenntnis. Bern; 1987.