Annotationen:Peter Janich – Radikal halbherzig. Die Wissenstheorie E. v. Glasersfelds

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ArgumentationFremd
((1)) Dem „Radikalen Konstruktivisten“ E. v. Glasersfeld in seinem Grundanliegen zuzustimmen, daß jede Theorie von Erkenntnis, Wissen oder Wahrheit konsequent instrumentalistisch zu sein hat, weil alle Varianten realistischer, ontologischer oder abbildtheoretischer Art sinnlos und/oder unhaltbar sind, fällt mir leicht. Der in meiner Philosophengruppe entwickelte „Methodische Kulturalismus“ ist eine Weiterentwicklung des .Methodischen Konstruktivismus“ der Erlanger Schule und weist in den Ahnengalerien der beiden Konstruktivismen bei S. Ceccato und H. Dingler sogar einen frühen Kontakt auf. Umso bedauerlicher ist es, daß v. Glasersfeld bisher mit der methodischen Philosophie unserer Tradition nicht in Berührung gekommen ist, da sie elaborierte Lehrstücke zu Handlungstheorie, Sprachphilosophie, Logik, Theorie der Wahrheit, geistesgeschichtliche Beiträge zu Grundsätzen des Konstruktivismus selbst sowie Prototheorien zu Physik, Chemie, Biologie und Psychologie aufzuweisen hat, die fundamentale Probleme des Glasersfeldschen Ansatzes vermeiden oder überwinden können.
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Die Bedeutungstheorie Glasersfelds (in Hauptartikel und Buch) ist zwar kritisch gegen eine abbildtheoretische Auffassung von Referenz gerichtet, wird jedoch weder der semantischen und pragmatischen Struktur von Alltags-, Wissenschafts- und Philosophiesprache gerecht (mit Unterschieden zwischen Eigennamen, Prädikaten, abstrakten, ideativen und Reflexionsbegriffen, logischen Partikeln usw.) noch deren perfonnativen Varianten des Aufforderns, Fragens, Behauptens, Bestreitens, Versprechens usw., noch der Einbettung von Sprachenverb und Sprachausübung in eine konstruktivistisch rekonstruierte Praxis einer menschlichen Gemeinschaft, die nicht zum Selbstzweck kommuniziert, sondern kooperiert und dabei Sprache nur als einen Teil einer nach Gelingen und Mißlingen bewerteten Kooperation ausübt. (Vgl. hierzu Literaturverzeichnis)
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((5)) Dritter Einwand: Man kann es als ein kulturalistisches Defizit bezeichnen, daß die Situiertheit des Menschen in einer menschlichen Gemeinschaft unberücksichtigt bleibt, die ihrerseits einen kulturhistorischen Ort hat, wenn das Individuum den Machschen Tatsachen ausgesetzt, den Piagetschen Assimilationen und Akkommodationen unterworfen wird und durch Wienersche Kybernetik und Selbstorganisation zu Wortbedeutungen findend seine Lebensjahre von Geburt an durchläuft. Es ist gleichsam das aus der Klassischen Physik in die Biologie hinein übernommene Vorurteil, den einzelnen Körper (Organismus) als eine Art passiven Empfänger von Umwelteinflüssen (einschließlich solcher der Umweltdinge „Mitmenschen“) zu konzipieren. Spracherwerb, Stabilität durch Äquilibration (Piaget) und schließlich „Viabilität“ sind nach v. Glasersfeld Erwerbungen bzw. Leistungen immer des Individuums. Sein ganzer Konstruktivismus betrifft jedoch nicht ein geschichts- und kulturloses Vakuum, weder auf der Ebene des Alltagslebens noch auf der Ebene der Objekte von Naturwissenschaften, die von Menschen mit Alltagsleben hervorgebracht werden, noch auf der Ebene eines philosophischen Konstruktivismus, der ebenfalls von Menschen mit Alltagsleben in Reflexion auf Alltagsleben, Naturwissenschaften und Philosophiegeschichte erzeugt wird. Neben manch zustimmungsfähigen Aspekten leidet daher die Glasersfeldsche Sprachphilosophie unter den rüden Anschlüssen N. Wieners an Descartes (im Telegrammstil: Tiere sind Maschinen. Menschen sind Tiere, also sind Menschen Maschinen.) und vergißt damit, daß, gut konstruktivistisch, die Konstitution von Objekten (Dingen, Halbdingen [H. Schmitz] wie „eine Stimme“, Ereignissen usw.) nur in der immer auch kultürlichen Zweckorientiertheit gemeinschaftlichen Zusammenlebens zustande kommt und auf ihren Nutzen hin bewertet werden kann.
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((7)) Zustimmend übernimmt Glasersfeld Machs Redeweise von Tatsachen. Hier wird der Teufel einer Ding-Ontologie mit dem Beelzebub einer Tatsachen-Ontologie ausgetrieben, denn „Tatsachen“ sind bei Mach gleichsam die unhintergehbaren, primären Bausteine seiner Theorie - so undefiniert wie unreflektiert. Mehr noch als „Erkenntnis und Irrtum" ist Machs Buch „Die Analyse der Empfindungen“ einschlägig. Da wird von „sinnlichen Tatsachen“, „Tatsachen der Wahrnehmung“, aber auch von „einfachsten geometrischen Tatsachen“ oder von einem „Gebiet von Tatsachen, das teleologisch vollkommen durchschaut ist“, gesprochen, aber auch „der wüsteste Traum“ eine Tatsache genannt. Tatsachen sollen in Gedanken dargestellt, Gedanken an Tatsachen angepaßt und Tatsachen mit neuen sinnlichen Elementen bereichert werden (alle Zitate aus „Die Analyse der Empfindungen“). Mach, der ja nicht beansprucht hat, ein Konstruktivist zu sein, hat übersehen, daß erst ein erwachsener, sprach- und handlungskompetenter Mensch, der außerdem an Naturwissenschaft und Philosophie geschult ist, seinen Begriff der Tatsache bilden kann. Ich setze die methodisch-konstruktive Auffassung dagegen: Das Wort „Tatsache“ soll synonym mit „wirklicher Sachverhalt“ verwendet werden. Es dient zur Unterscheidung z. B. von fingierten Sachverhalten in Märchen und Lügen. Jede Aussage (im logischen Sinn) stelle per definitionem einen Sachverhalt dar. So kann man z. B. von einem geometrischen, einem historischen oder einem psychischen Sachverhalt sprechen, wenn die ihn darstellende Aussage der Geometrie, der Geschichtswissenschaft oder der Psychologie zugerechnet wird. Ebenfalls per definitionem mögen wahre Aussagen wirkliche Sachverhalte darstellen. Das auch von Glasersfeld angegriffene Ontologie-Schema, die Wirklichkeit für etwas menschenunabhängig Gegebenes zu halten, wird in diesem methodisch-konstruktiven Vorschlag dadurch vermieden, daß Tatsachen (wirkliche Sachverhalte) als Konstruktionen in wahren Aussagen verhandelbar werden, wo „wahr“ selbstverständlich dann nicht mehr durch Bezug oder Passung auf irgendeine menschenunabhängige Wirklichkeit definiert werden kann. Vielmehr muß man angeben, nach welchen Kriterien und Regeln etwa eine Aussageform logisch wahr, ein Satz über die Winkelsumme im Dreieck geometrisch wahr, ein Satz über die Kaiserkrönung von Karl dem Großen historisch wahr, ein Satz über Sinnestäuschungen psychologisch wahr ist usw.
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((8)) Das Wort „Erfahrung“ ist bei Glasersfeld so unbestimmt wie in den begrifflich völlig unscharfen Selbstverständigungsaussagen und Bekenntnissen von Naturwissenschaftlern. Es scheint die ganze Spannweite abdecken zu sollen, die von lebensweltlichen zu wissenschaftlichen und philosophischen Widerfahrnissen reichen, sich an einem Dom zu stechen, eine Sternschnuppe zu sehen, in dünnes Eis einzubrechen, einen geometrischen Beweis nicht fertig zu bringen, ein Experiment durchzuführen, von einem Menschen enttäuscht zu werden, einen Satz Hegels nicht zu verstehen usw. Nicht kommt dabei in den Blick, daß wir lebensweltlich, wissenschaftlich und philosophisch, auch als Konstruktivisten, über Erfahrungen reden, diese dabei durch Erfahrungsurteile darstellen, dafür den Unterschied von gelungener und mißlungener Darstellung sowie den Unterschied von gültiger und nicht gültiger Darstellung in Anspruch nehmen und außerdem unverbrüchlich sicher wissen, daß wir in diesem Zusammenhang die überraschenden Erfahrungen (wenn lästig oder köstlich) gerne in Wiederholung vermeiden oder provozieren wollen. Insbesondere in den Wissenschaften finden wir eine hochentwickelte Kunst vor, Erfahrungen systematisch im Experiment zu wiederholen. Kurz, Erfahrung ist, wo sie zu gültigen Erfahrungsurteilen führen soll. Widerfahrnis im Handeln. Im bezweifelnden und begründenden Dialog über Erfahrungen wird immer die absichtsvolle Wiederholbarkeit von Handlungen zur Wiederholung des betreffenden Widerfahrnisses eine zentrale Rolle spielen. Die von den Naturwissenschaften in der Forschung de facto immer praktizierte, in ihren Theorien aber nie berücksichtigte Zwecksetzungsautonomie des handelnden Menschen ist dafür unverzichtbar. Insofern ist oben behauptet worden, v. Glasersfeld übernimmt unkritisch eine Denkweise von den Naturwissenschaften und bleibt gerade in dieser Hinsicht ganz und gar unkonstruktivistisch.