Annotationen:Werner Meinefeld - Gegen eine Halbierung des Piagetschen Konstruktivismus

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((5)) Eine die Grundlagen des Radikalen Konstruktivismus betreffende Unstimmigkeit zeigt sich in seiner ontologischen Prämisse einer Unstrukturiertheit der Welt vorab einer jeden Konstruktionsleistung eines denkenden Subjektes: “es gibt auch keinen guten Grund zu der Annahme, daß die ontologische Realität etwas besitzt, das wir ,Struktur‘ nennen könnten”. (Richards/von Glasersfeld 1988,221)

- Einerseits ist diese Prämisse notwendige Voraussetzung für das Postulat der Möglichkeit “zahlloser anderer Arten”, diese Welt wahrzunehmen und zu deuten (von Glasersfeld 1987, 109) - andererseits steht sie im Widerspruch zu der ebenfalls zentralen Annahme, daß Deutungen, die nicht “passen”, an der Welt scheitern ((26f)): “Scheitern” kann man nur “an” etwas, und “Passung” setzt eine Form voraus - ein “an und für sich formloser Fluß des Erlebens” (von Glasersfeld 1986, 37) läßt sich in jede Form einpassen, an ihm kann man nicht scheitern. - Zum zweiten gibt es Indizien dafür, daß diese Prämisse nicht zu halten ist. So belegen kulturvergleichende Studien, daß basale Wahrnehmungen unabhängig von kulturellen Variationen erfolgen.[1] Die Annahme einer Existenz von Strukturen, an denen sich Wahrnehmung festmachen kann, gewinnt damit eine größere Überzeugungskraft als die gegenteilige These von der Unstrukturiertheit der Welt - die im übrigen von von Glasersfeld u.a. nur postuliert, nicht aber begründet wird.

- Schließlich enthält die von von Glasersfeld in dem eingangs zitierten Kernsatz gewählte Formulierung “einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt” eine Vermengung zweier unterschiedlicher Bedeutungsgehalte, die es gerade zu trennen gilt. Die Unterstellung einer “rational strukturierten Welt” impliziert bereits die Aktivität eines erkennenden Subjektes, das die Strukturierung unter Bezug auf eine spezifische, von ihm selbst mitgebrachte Rationalität vomimmt, während es doch zunächst nur darum gehen kann festzustellen, daß die dem Erkennen präexistente Welt über dauerhafte Charakteristika verfügen kann, die sich dem Subjekt als Widerstandigkeit gegenüber beliebigen Handlungs- und Deutungsversuchen darstellen.[2] Die Gleichsetzung von “vorgängiger Strukturiertheit” mit “rationaler Strukturierung im Erkennen” verhindert im Radikalen Konstruktivismus die Konstruktivismus als Handlungsanleitung für die Forschung Auseinandersetzung mit solchen realen Ankerpunkten der menschlichen Konstruktionsleistung.
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((6)) Ein zweiter zentraler Kritikpunkt betrifft die Rezeption des Piagetschen Konstruktivismus, dessen grundlegende realistische Komponente keineswegs - wie von Glasersfeld nahelegt (1987, 99, 221f) - auf sprachliche Ungenauigkeiten und Unzulänglichkeiten zurückzuführen ist: sie ist für Piagets Position viel mehr konstitutiv. Während im Radikalen Konstruktivismus der Prozeß des Erkennens weitgehend als eine Einbahnstraße vom erkennenden Subjekt zur Realität entworfen wird, ist für Piaget ein Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt und der Widerständigkett des Objektes grundlegend (wie er es im Begriffspaar von Assimilation und Akkomodation zum Ausdruck gebracht hat). ((7)) Piaget gewinnt diese breitere Perspektive auf den Erkenntnisprozeß, indem er nicht das Erkennen selbst, sondern das Handeln zum Ausgangspunkt des Erkenntnis(!)prozesses macht: die Erfahrung der Welt im Handeln geht ihrer kognitiven Kategorisierung voraus. ((44)) (siehe auch Piaget 1972, 38ff; 1975, 343ff) Im Handeln aber kann das Kind nicht umhin, bestimmte Erfahrungen mit bestimmten Objekten zu machen - und indem das Objekt, innerhalb bestimmter Grenzen, andere Handlungsmöglichkeiten nicht zuläßt, wirkt es auf die Ausbildung der kognitiven Konzepte ein.[3] Das Ergebnis des Erkenntnisprozesses ist daher für Piaget nicht ein Konstrukt, das nur der Logik des erkennenden Systems folgt, sondern in ihm sind sowohl konstruktive als auch realistische Elemente enthalten. Indem die Kategorien an der Welt entwickelt werden, enthalten sie auch Informationen über die Welt - Wahrnehmungsstrukturen existieren nicht vor der Wahrnehmung, sondern sie werden erst in der Auseinandersetzung mit der Realität aufgebaut.[4] Für Piaget besteht daher eine “unauflösliche Wechselwirkung” zwischen Subjekt und Objekt, die es völlig illusorisch macht, realistische und konstruktivistische Elemente der Erkenntnis voneinander trennen zu wollen (Fatke 1981,38) – die es aber auch verbietet, die realistische Komponente zu ignorieren, wie es der Radikale Konstruktivismus tut.
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((8)) Schließlich bleibt die Analyse des Erkenntnisprozesses im Radikalen Konstruktivismus rudimentär und vage. Das Konzept des “epistemologischen Solipsismus”[5] erweist sich als ein Gefängnis, das weder der Objektadäquanz unseres Wissens (wie sie sich in dem bekannten Grad der Naturbeherrschung durch den Menschen darstellt) noch der Qualität zwischenmenschlicher Kommunikation gerecht wird. Insbesondere vermag dieses rein atomistische Konzept von Erkennen die zentrale Rolle der sozialen Umwelt, in der jeder Erkenntnisprozeß verankert ist, nicht zu integrieren. Als überzeugender erweisen sich dagegen alternative Modelle des Erkenntnisprozesses, die erklärungskräftiger und anschlußfähiger (wenn auch weniger spektakulär) sind als der Radikale Konstruktivismus. Verwiesen sei nur auf Arbeiten von Günter Dux, Karl Mannheim, George H. Mead und eben auch Piaget, denen ein konstruktives Grundverständnis des Erkenntnisprozesses gemeinsam ist, die dieses aber alle mit einer realistischen Fundierung des Wissens verbinden.[6]