Annotationen:Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie

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((8)) Deine Frage ((12)), wie weit Begriffskonstruktion analysiert werden müßte, um ihre Mechanisierung in Artefakten

zu gewährleisten, will ich zu beantworten versuchen. Wenig Hoffnung, jedoch dünkt mich, wird meine Antwort eröffnen. (Beim Zeus, ich wiird’ es lieber mündlich tun, im Schatten der Platanen am Ufer des Ilissos! Doch der Flug von jenseits Atlantis, wo ich derzeit mein Leben friste, ist unerschwinglich. Drum muß ich mich notgedrungen mühsamer Schrift bedienen, obgleich mir einige der Kritiken offenbart haben, wie verfänglich Geschriebenes ist, da alles Lebendige mit der Tinte

vertrocknet.)
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((14)) DRIESCHNER findet es „sehr plausibel,... daß wir

uns die Wirklichkeit um uns herum selbst konstruieren, und zwar nach unseren Bedürfnissen für das Überleben - im weitesten Sinn" ((2)). Die so konstruierte Wirklichkeit sei die einzige, „es gibt keine ‘andere’ hinter ihr“ ((1)). „Die so von mir konstruierte Realität ist aber - G. scheint das zu bezweifeln - die Realität Es ist nicht zu sehen, was eine andere, meinetwegen ‘ontologische’ Realität, wie G. sie einführt, daneben noch soll“ ((3)). ((15)) Mit Recht setzt DRIESCHNER diese Realität gleich mit Kants „Ding an sich“ und sagt dann, Kant habe die Welt der Erscheinung so überzeugend beschrieben, „daß man ihm schließlich gar nicht mehr recht abnimmt, daß dahinter ein unerkennbares Ding an sich sein muß - etwas, worüber man

ohnehin nichts sagen kann“ ((3)).
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((16)) Auch Kant hat die Unterscheidung der Wörter „Realität“ und „Wirklichkeit“ nicht konsequent durchgeführt und

sich dadurch das Problem mit dem „Ding an sich“ geschaffen. So schreibt er zum Beispiel im Streit der Facultäten (1798) „Die Dinge also, worauf sich diese Vorstellungen und Begriffe beziehen, können nicht das sein, was unser Verstand vorstellt; denn der Verstand kann nur Vorstellungen und seine Gegenstände, nicht aber wirkliche Dinge schaffen" (S.71). Statt „wirkliche Dinge“ hätte er hier „reale Dinge“ schreiben sollen, denn in der Kritik der reinen Vernunft (1787) hatte er das „Ding an sich“ bereits als „heuristische Fiktion“ bezeichnet (S.799). Die fiktiven Vorstellungen jedoch stammen unter allen Umständen aus der Wirklichkeit unseres Denkens. Ihr heuristischer Wen liegt in der Praxis der Verständigung, denn sie erlauben uns, Dinge als gegeben anzunehmen; wobei es jedoch wichtig ist, sich klarzumachen, daß die Dinge, die wir in unseren Interaktionen mit anderen Menschen als gegeben annehmen, in der Vorstellung der Beteiligten nur in den jeweils

relevanten Aspekten vereinbar, aber keineswegs in allen Beziehungen gleich sein müssen.
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((20)) FAULSTICH arbeitet laut Autorenangabe auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung, und da müßte m.E. auch er

hier und dort die Beobachtung machen können, daß der naive Realismus, obschon er von einigen Vorsokratikem aufgegeben wurde ((4)), darum noch lange nicht ausgestorben ist (A.a.

ECKES).
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((22)) Daß es FAULSTICH „nicht nachvollziehbar“ ist, wie

„unerwartete Resultate“ Anstoß zum Lernen geben können ((7)), macht mich staunen - offenbar hat er sich nie gefragt, wie er das Gehen, Schlittschuhlaufen oder Rechnen (ganz zu

schweigen von seinem erlesenen Deutsch) erlernt hat
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((23)) FLACKE danke ich für Aufmerksamkeit und Verständnis im Lesen des Hauptartikeis. Die Punkte, an denen er sich

stößt, sind mir darum wichtig. Da ist zunächst die „Begründung“, weswegen ich einen „Umbau herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge“ (EvG 2) für nötig halte. Das Wort „Rechtfertigung“ wäre vielleicht treffender gewesen, denn, wie FLACKE vermutet ((5)), handelt es sich um eine interne Angelegenheit, nicht um die Entdeckung ontologischer Ausgangspunkte. Was Mach anbelangt ((7)), so lese ich aus dem zitierten Satz (EvG 32), daß Tatsachen der Erfahrung angehören und eben, weil sie sich in der Erfahrung nie genau

wiederholen, durch Assimilation Zustandekommen.
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((24)) FLACKEs Bemerkung, daß ftir mich „die Vernunft die

einzige richtige Quelle des Wissens ist“ ((10)), unterschreibe ich, vorausgesetzt, es ist klar, daß „Wissen“ sich ftir mich auf rationales Wissen bezieht An anderen Stellen meiner Replik mache ich deutlich, daß mir die Idee, mystische Eingebung,

Intuition und Empathie könnten eine Realität uns näher bringen, keineswegs unsympathisch ist (A.a. BETTONI, LÜTTERFELDS, MEYER).
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((25)) Was den sozialen Konstruktivismus betrifft, halte ich die

Analyse von sozialen Interaktionen, Beziehungen und Einflüssen für äußerst notwendig und sehe nicht ein, warum sie aus einer dem RK feindlichen Stellung gemacht werden müßte. Allerdings erscheint mir z.B. Gergens Behauptung, daß „Individuen das Resultat von Beziehungen sind ... und daß Beziehungen grundlegender sind als Individuen“ (FLACKE (12)) einen elementaren Widerspruch zu enthalten. Was ich von Gesellschaft und sozialen Beziehungen weiß, beruht auf Erfahrungen, die ich selber machen und in Begriffe fassen mußte. Auch die Soziologie beruht letzten Endes auf den individuellen Vorstellungen von Soziologen. Daß diese Begriffe und Vorstellungen intersubjektiv ausgehandelt und verfeinert werden, dürfte nicht verschleiern, daß ihre eigentliche Quelle in der Erfahrung einzelner Individuen liegt Darum dünkt es mich unsinnig, soziologische Forschung mit der zumindest pseudo- ontologischen Behauptung zu beginnen, die Gesellschaft (und/ oder die Sprache) sei primär. leb glaube im Gegenteil, diese

Sparte der Forschung würde fruchtbarer, wenn sie die konstruktive Rolle des kognitiven Individuums stets in Sicht behielte.
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((26)) FURTH I would like to thank for the admonition to

become more radical ((17)). As I leamed during my years in

Ireland, it is never too late to go a little further.
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That I have not forgotten the Statement that „action, not

perception, is the key concept of an adequate theory ofkrtowl- edge“ ((8)) seems to me to be inherent in a number of things I say. But FURTH is probably right: I should have explicitly made it dear that I consider „perception“ not a passive re- ceiving of data but an active construction on the pari of the perceiver. The Statement at the end of my first paragraph (EvG

1) was obviously not sufficient.
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As I have understood it, „assimilation”

((5)) entails the disregarding of differences (relative to a pre- vious constnict). Consequently it allows repetition - and rep- etition leads to regularities and rules which form the scaffold-

ing for the construction of gut experiential reality.
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((31)) Given that some thirty other critics consider my con- structivism totally tnisguided, I am grateful for Furth’s Statement ((17)) that it „points in the right direction“.
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((34)) Auf der zweiten Stufe erweisen Begriffe sich als nicht

so viabel, wie man sie möchte, wenn sie Widersprüche mit anderen Begriffen hervorrufen; auf der dritten, wenn sie in Interaktionen mit anderen Beteiligten nicht so funktionieren, wie man erwartet hat ((6)). Dabei ist freilich daran zu erinnern, daß „die anderen“ zwar von einem selbst konstruiert werden, aber keineswegs frei wie man will. Denn bei der Konstruktion von anderen erweisen diese sich mindestens ebenso widerständig, wie die Gegenstände, die man „Türe" oder „Wand“ nennt. Inwieweit diese Hindernisse einer Realität zu- zuschreiben sind oder der fehlerhaften eigenen Konstruktion,

bleibt m.E. unergründlich.
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((37)) GRÖSSING schreibt im Bezug auf Kognition, daß „die

‘inneren’ Prozesse ein ‘Echo’ von Prozessen beinhalten, die sich in der Außenwelt abspielen“ ((4)). Echo heißt Widerhall, und auf Grund unseres viabten Wellenmodells bedeutet das, daß ein Schall auf ein Hindernis stößt und von ihm zurückgeworfen wird. Wir hören das Echo, schließen auf ein Hindernis, haben aber keine Ahnung, was es ist außer der Annahme, daß es laut unserer Theorie Schall zurückwerfen kann. Kurz, wir wissen um ein Hindernis, kennen es ab« nicht (Der unvergeßliche Deutschlehrer in meiner Schweizer Mittelschule der Zwischenkriegszeit war ein Freund von Thomas Mann und teilte mit diesem die Passion für präzisen Sprachgebrauch. Unzählige Male warnte er uns, den romantisch vernebelnden Ausdruck „wissen um etwas“ nie und nimmer zu benützen. Die schöne Echo-Metapher schafft nun einen Kontext in dem

die verpönte Ausdrucksweise mir durchaus sinnvoll erscheint)
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Die .Außenwelt“ in GRÖSSINGs Piaget-Zitat ((3)) kann man

sich also recht gut als Konstruktion aus „Echos“ denken. Als Nichtphysiker scheint mir das auch für das Sammeln „numerischer Daten“ ((2)) zu gelten: perse, d.h als Zahlen, sind sie „kontextfrei“, doch was der Physiker zählt oder mißt sind

wiederum Echos und Echo-Sequenzen.
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((41)) Die kognitionspsychologische Interpretation wirft mit

der Anschauungen einschlägigier gegenwärtiger Autoren in Bezug auf „mentale Repräsentationen“ verglichen ((7-10)) und die beiden Kritiker finden, daß die diesbezügliche Auffassung des RK den traditionellen Vorstellungen nur dann widerspricht, „wenn diese in naiv-realistischer Waise mentale Representationen als mehr oder weniger korrekte Abbilder einer objektiv gegebenen Realität »ansehen" was aber Im allgemeinen nicht der Fall sei ((10)). Mir klingt das etwas zu optimistisch. Anderson zum Beispiel, der einzige, der von den beiden Kritikern zitierte Autor, der mir bekannt ist, hat so wenig Sympathie für den Konstruktivismus, daß er in seinem Buch über Lernen (1995) weder Hagel noch die Forscher erwähnt, die sich in den Vereinigten Staaten in der Didaktik der Mathematik einen Namen gemacht haben. Der Grund liegt meines Erachtens darin, daß die Anhänger des „Information Processing" und der „Cognitive Science“ zuweilen zwar die Konstrukte der beobachteten Versuchspersonen als subjektiv und relativ betrachten, für ihre eigene Theorie aber doch objektive Wahrheit beanspruchen möchten. Der RK erlaubt das nicht, denn er sieht sich selbst nicht als Beschreibung einer Realität, soadem bestenfalls als

ein Modell, das sich im Gebrauch nützlich erweist.
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((43)) Wenn Heise und Gerjets abschließend schreiben: "Die

Argumente vG’s erscheinen uns überzeugend, rennen jedoch offene Türen ein“ ((13)), so werden die vorliegenden Kritiken ihnen vor Auges führen, daß es noch eine eine Menge

verriegelter Türen gibt.
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((45)) HOFFMANN beginnt seine überaus feinkörnige Dekonstruktion des Hauptartikels mit der Feststellung, daß meine „Entgegensetzung“ von RK und traditioneller Erkenntnistheorie „allzu schematisch“ sei ((2)). Bereits Platara sei von

einer „rational strukturierten Welt" ausgegangen, habe aber keineswegs Erkenntnis als „Widerspiegelung“ begriffen. Buchstäblich ist das sicher richtig. Doch daß der Erkennende sich laut Platon mühsam an die ewigen Formen erinnern muß, die Gott ursprünglich in die unsterbliche Seele eingebaut hat, scheint mir nicht allzu weit von Widerspiegelung präexistenter Strukturen entfernt. Auch die Behauptung, „Kants ‘Konstruktivismus’ ... kann durchaus als ‘herkömmlich* gelten“

kann ich nicht mit meiner Bedeutung von „herkömmlich“ vereinbaren (siehe A.a. ECKES).
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((46)) Ganz unklar, schreibt HOFFMANN, sei ihm „das Verhältnis (meiner) Wissenstheorie und ihren möglichen "Anwendungen’ in lebensweltlichen Kontexten“ geblieben ((4)). Im

Rahmen dieser Replik kann ich das nicht klarer machen, als durch die wiederholte Feststellung, daß z.B. im Forschungslaboratorium, in der Schule, in der Psychotherapie, vor allem aber im täglichen Zusammenleben mit anderen vieles leichter

und fruchtbarer wird, wenn die Beteiligten ihr Wissen mit weitgehend individuellen Konstruktionen zu betrachten beginnen.
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((47)) Man kann nicht oft genug daran erinnert werden, daß

Logik „extensionsorientierte“ (d.h. sich auf Erfahrungen beziehende) Behauptungen „weder ausschließen noch bestätigen“ kann (siehe A.a. MITTERER). Dennoch ist es im allgemeinen Sprachgebrauch zulässig, zu sagen, daß „logisch ausgeschlossen“ sei, was sich ms den angenommenen Primassen nicht ableiten läßt. Und da die Skeptiker die Erfahrung des Xenophanes, daß die Realität unnahbar sei, als Prämisse an- annahmen, konnten sie deren naturgetreue Spiegelung „logisch

ausschließen“ ((6)).
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((48)) Da hier im Zusammenhang mit der Realität auch Pierce

erwähnt wird ((9)), kann ich darauf hinweisen, daß man bei diesem Autor lesen kann: „Die Abduktion verläßt sich auf die Hoffnung, daß zwischen der Vernunft des Denkenden und der Natur genügend Affinität besteht, so daß das Raten eicht hoffnungslos ist“ (1931-1935, Bd.l, §121; siehe Definition von

"Abduktion“ in A.a. TASCHNER).
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((49)) HOFFMANN hat vollkommen recht, wenn er abschließend verlangt, RK solle „sich angesichts der richtig erkannten Probleme des Erkennens um einen Rationalitälsbegriff...

bemühen, der zumindest die Abgrenzung von Irrationalität erlaubt“ ((10)). Meine Bemühungen in dieser Richtung haben mich bisher nicht über die Auffassung hinausgebracht, daß Rationalität sich bestenfalls von innen abgrenzen läßt, weil

eben die Sphäre des Irrationalen unendlich ist (A.a. SEILER).
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((50)) JANICH: Die Methode des Aufbauens, mit der JANICH und der „Methodische Konstruktivismus/Kulturalis-

mus“ sich so eingehend befassen, betrifft, soweit ich verstehe, den Aufbau der Erlebenswelt. Janich schreibt am Anfang seiner Kritik, es falle ihm leicht, dem RK in seinen Grundanliegen zuzustimmen. Dieses Grundanliegen ist es, zu zeigen,

daß „alle Varianten realistischer, ontologischer oder Abbildtheoretischer Art sinnlos und/oder unhaltbar“ sind ((1)).
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((52)) Die in meinem Artikel angedeutete „Bedeutungstheorie“

dient mir vor allem dazu, die weitverbreitete Ansicht zu widerlegen, daß Sprache Begriffe und somit Wissen von Sprechern zu Hörern transportieren kann, und darum keineswegs eine umfassende Sprachtheorie sein will. Das schien mir schon daraus klar zu werden, daß ich den Bedeutungsaufbau hauptsächlich im Kind beschreibe und hinzufüge, daß die Segmentierung der Erlebens weit, auf der Wortbedeutungen beruhen, ,4m Laufe weiterer Erfahrung durchwegs mehr oder weniger geändert werden muß, um mit dem Sprachgebrauch der Erwachsenen einigermaßen übereinzustimmen“ (EvG 40). Nimmt man das zusammen mit meiner Verwendung des Viabilitätsbegriffs, so ergibt sich, meine ich, genau das, was JANICH "Einbettung von Spracherwerb und Sprachausübung in eine konstruktivistisch rekonstruierte Praxis einer menschlichen Gemeinschaft“

nennt ((3)).
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((61)) KRÜGER kann ich nun erwidern: Hätte ich meinen

Artikel als „PR-Aktion“ für mein Buch geschrieben ((!)), so wäre es eine peinliche Fehlrechnung gewesen, etwa ein Drittel der Kritiker haben es oder anderes von mir bereite gelesen, und unter den restlichen zwei Dritteln ist kaum einer, der mit dem Artikel nicht mehr als genug hat. Tatsächlich wurde ich eingeladen, mich mit einer Zusammenfassung meiner Ideen der Diskussion auszusetzen, wofür ich der Redaktion der EuS

ansgesichts der reichhaltigen Kritikea überaus dankbar bin.
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((62)) Daß „konstruktivistische Ansätze“ schon seit längerer

Zeit in unterschiedlichen Disziplinen diskutiert werden, ist mir zumindest teilweise bekannt. Es ist mir ein Ansporn, den RK immer klarer und unmissverständlicher zu erklären, denn was da diskutiert wird, hat oft mit den eigentlichen Ideen recht wenig za tun. Im Hauptartikel wollte ich die radikale Wtessrnstheorie so gut ich konnte als Ganzes auspacken, damit der aufmerksame Leser feststellen kann, wie weit RK sich von anderen Konstruktivismen entfernt. Die Distanz von den „sozialen" Versionen ist besonders groß, da der RK eine Theorie des individuellen Wissens ist und somit auch die Gesellschaft und alles was mit ihr in Zusammenhang gebracht

werden kann als Konstruktion des einzelnen Subjekts betrachtetn muß (A.a. PLACKE). Ich wiederihsole: es geht am Wissen, nicht um Sein.
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((66)) KURTs Konmentar zeigt: Wenn man von der Überzeugung ausgeht, eine Wissenstheorie ohne ontologische Be-

gründungen sei prinzipiell ausgeschlossen, dann muß mau den RK als unsinnig betrachten. Nicht so selbstverständlich ist es, daß dem RK dann ganz unzutreffende Absichten und Behauptungen zugeschrieben werden. KURT bestätigt, daß es mir nicht „um die soziohistorische Entwicklung eines Denkmodells geht, schießt aber dann, daß ich zeigen will, meine Theorie „sei immer schon da gewesen“ ((3)). Das wollte ich nicht sagen. Wenn ich schrieb, „daß menschliche Beobachter die Begriffe mit denen sie Erlebnisse und Erfahrungen erfassen, nicht entdecken, sondern erfinden, ist keineswegs neu“ (EvG 9), heißt das nicht mehr, als daß dieser eine Schritt bereits von den sehr unterschiedlichen Denkern, die ich zitiere,

versucht wurde.
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((67)) Auch Husserls Phänomenologie verzichte, so schreibt

KURT, „auf die Annahme der Erkennbarkeit 'einer realen Welt’“ und setzt an ihre Stelle die „Lebenswelt... Und diese Welt erfinden wir nicht. Wir finden sie vor“ ((6)). Wie tun wir das? Sickert sie so, wie sie ist, in uns hinein? Oder konstruieren wir sie auf Grund von Erfahrungen, die wir in unseren

eigenen Begriffen begreifen?
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((68)) KURTs Behauptung, ich wolle „die ganze Menschheit

umfassen“ ((3)), gründet sich anscheinend auf meine Bemerkungen über den Anfang der Geistesgeschichte und läßt sich kaum damit vereinbaren, daß ich den RK als Vorschlag bezeichne (EvG 2) und meinen Artikel mit der Warnung schließe, der RK mache keinen Anspruch auf „Wahrheit“ im philosophischem Sinn und sein Wert könne sich stur in der Praxis denkender Individuen erweisen (EvG 64). Da er Bewohner des Himalaja erwähnt, kann ich hinzufügen, daß RK sich gar

nicht so sehr vom gewissen Formen der tibetanisch/buddhistischen Philosophie unterscheidet.
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((71)) LEIBER bemerkt gleich, daß ich meiner Auffassung

entgegengesetzte „Grundhaltungen... pauschalisierend formuliere“ ((2)). Das ist freilich so. Erstens fehlt mir die solide Basis eines akademischen Philosophiestudiums (was ich sehr bedaure) und zweitens finde ich in meiner Gegend keinen gelernten Philosophen, der bereit wäre konstruktivistische Ideen

ernstlich zu diskutieren. Darum bin ich LEIBER für seine Ausführungen sehr dankbar und prinzipiell bereit, sie als Korrekturen anzunehmen.
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((72)) Das gilt jedoch nicht für die Zweifel in Bezug auf meine Verwendung des Wortes „herkömmlich" ((2)). Wenn ich von

einer,.herkömmlichen Erkenntnistheorie“ sprach, so meinte ich jene, die dem Denken und vielem Handeln der meisten Menschen seit jeher als Grundlage dient In meiner Erfahrungswelt kann ich diese Grundlage ohne Bedenken naiv-realistisch nennen. Obschon ich selbst eine Reihe von Denkern zitierte (zu der andere hinzugefügt werden können; A.a. KULL), die dem Realismus zu entkommen trachteten, glaube ich, daß auch heute und besonders in den Vereinigten Staaten die eine oder andere Form eines metaphysischen Realismus in den meisten philosophischen Abteilungen maßgebend ist Auch was die Umstellung der Wissenschaftler anbelangt ((4)), so habe ich z.B. Helmholtz schon oft zitiert und man könnte einige mehr aus dem vergangenen Jahrhundert nennen (sowie m.E. auch Leonardo da Vinci und Torricelli). Doch wenn man in heutigen Forschungszentren und Laboratorien zuhört, bekommt man nicht

den Eindruck, der Realismus sei ausgestorben.
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((73)) LEIBERs Bemerkung in Bezug auf Sozialkonstruktivismus stimme ich voll und ganz bei (siehe meine kurze Erklärung an KRÜGER). Dem Ausdruck „Minimalrealismus“

bin ich in meiner eklektischen Auswahl der Lektüre noch nicht

begegnet und weiß darum nicht was darunter verstanden wird
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((74)) LÜTTERFELDS zieht in einem frontalen Angriff gegen die These „daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und

Begriffe nicht ‘erkennen’ können“ (EvG 14), zunächst Hegel heran, der mir als eklektischer Leser stets abseits lag. Damm verlasse ich mich auf das angeführte Zitat: „Gerade darin, daß menschliches Wissen überhaupt von einem Gegenstände weiß, unterscheidet es den Gegenstand, wie er unabhängig von ihm existiert vom Gegenstand, wie es ihn weiß“ ((3)). ln der konstruktivistischen Perspektive taucht ein Gegenstand in der Wirklichkeit eines Subjekts erst dann auf, wenn das Subjekt ihn konstruiert. Die Konstruktion des Gegenstandes kann dem Auftauchen sogar lange vorausgehen, wie es etwa bei den Quarks der Physiker der Fall ist. Damit wird das von Hegel geborgte Argument für mich hinfällig, denn von einem Gegenstand, den ich noch nicht konstruiert habe, kann ich nichts

wissen - und Eingebungen von ihm sind Sache der Mystik.
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((75)) Dann kommt das Argument, das eine negative Aussage

in eine positive verdreht: „Denn in der Angabe dessen, was wir nicht rational erfassen können, liegt eine rationale Wirk- lichkeitserfassung bereits vor“ ((3)). Meint LÜTTERFELDS hier ein Verstehen der Erlebenswirklichkeit, dann kann ohne weiteres dazugehören, daß man etwas außerhalb ihrer fürmög- lich hält Doch ich glaube er meint .Realitätserfassung“, und

an die kann meine Vernunft nicht heran.
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((76)) Ganz einverstanden bin ich mit der Feststellung, daß

„alle Erkenntnistheorien, samt ihrer Kritik“ ((12)) notgedrungen „zirkulär“ sind. Das fängt damit an, daß ich als Halbwüchsiger wie wohl die meisten anderen - die Welt meiner Erfahrungen mit Mitteln zu ordnen und zu „erklären“ beginne, die ich mir auf Grund dieser Welt zusammenbasteln muß; und es hört mit dem Versuch auf, das Rationale rational zu analysieren. Das heißt aber nicht unbedingt, daß ich metaphysische Zuflucht suchen muß. Man kann auch unbegründete Voraussetzungen als Ausgangspunkt verwenden, nicht als „ontologische Gegebenheiten" ((13)), sondern als schlichte Arbeitshypothesen zur Konstruktion eines „Modells“, das man dann,

auch wenn es funktionieren sollte, doch nicht als Repräsentation einer Realität betrachtet.
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((77)) Eine dieser Voraussetzungen ist bei mir das Bewußtsein des konstruierenden Subjekts ((6)). Ich habe kein Modell

und keine Ahnung wie es funktioniert, habe auch bis heute von keinem befriedigenden gehört. Doch ich kann mir einiges von dem zurechtlegen, was es tut; z.B. wie Humboldt so schön sagte: „in seiner fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick still stehn, das eben Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst gegenüberstel-

len“ (Humboldt, 1907, S.581).
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((78)) Damit erübrigt sich auch Lütterfelds' Einwurf von ((5)),

daß das Gleichgewicht, von dem ich spreche, „das Verhältnis des kognitiven Organismus zu seiner externen Welt“ betrifft, weil ich es im Zusammenhang mit kognitiven Strukturen und

Tatsachen erwähne (meine Hervorhebung).
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((79)) MEINEFELD, der in drei Paragraphen Hauptpunkte

meiner Position zutreffend zusammenfaßt ((1-3)), wirft die „Widerständigkeit“ der Realität auf und sieht in ihr den Grund, eine „vorgängige Strukturiertheit“ anzunehmen, aus der dann »Ankerpunkte der menschlichen Konstruktionsleistung“ erwachsen ((5)). Widerstände, wie ich KÖNIG erwiderte, streite ich keineswegs ab, doch daß man aus ihnen reale Struktur oder Eigenschaften des Widerstehenden abfeiten könnte,

scheint mir ausgeschlossen (A.a. GRÖSSING).
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((80)) Was Piaget betrifft, so lese auch ich bei ihm an vielen

Stellen, daß der Aufbau der Begriffswelt ein interaktiver Vorgang ist, der die Widerständigkeit der Objekte voraussetzt ((6)); doch ich nehme Piaget ernst, wenn er in La construction du reel chez Venfant ausführlich darlegt, wie das Kind Objekte konstruiert und dann in die nicht minder konstruierte „Welt“ von Raum und Zeit projiziert Auch ich glaube, „Wahr- nehmungsstrukturen existieren nicht vorder Wahrnehmung“ ((7)), doch werden sie m.E. in der Auseinandersetzung mit den bereits konstruierten Objekten und die .Anpassung der

Begriffe und Ideen an einander“ aufgebauf (EvG 23).
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((81)) MEYER schreibt in ((2)), wenn man auf Grund der Unmöglichkeit, Vorstellungen mit einer „Welt an sich“ zu vergleichen, schließt, daß so eine Welt nicht rational erfaßbar sei, dann

ist das „nur eine facon de parler'. Ich würde sagen, es ist eine facon de penser - und das ist genau, was der RK sein will. Und wenn MEYER weiter ausführt: „Das Konzept einer 'Welt an sich’ wird dann überflüssig und bedeutungslos; es kürzt sich gewissermaßen aus unseren Überlegungen heraus,“ dann drückt er sehr schön aus, was der RK bezweckt: Im Bereich rationaler Konstruktionen ist die Berufung auf eine ontologische Realität ausgeschlossen. Das heißt aber keineswegs, daß der RK das subjektive Gefühl des „Daseins“ ausschließen will; doch er betrachtet alles, was mit Sein zu tun hat als gefühlsmäßige Eingebungen. Er bestreitet lediglich, daß diese rational erfaßt und beschrieben werden können, und überläßt sie

darum der Intuition der Mystiker, Metaphysiker und Künstler.
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((83)) Das Wortspiel, daß das Adjektiv „objektiv“ der Umgangssprache (wo es „eine von der jeweiligen Gemeinschaft

akzeptierte ... Praxis“ betrifft) mit der Beschreibung der philosophischen „Wahrheit" gleichsetzt (MEYER (3)), paßt nicht gut zu einem Sprachwissenschaftler, der auf „sinnvolles Reden“ hält. Der Unfug läßt sich vermeiden, indem man für den

ersten Begriff das Wort „intersubjektiv“ verwendet.
AntwortGlasersfeld
((84)) Was Wittgenstein betrifft ((8)), so könnte man lange diskutieren. Unter anderem hat er auch „auf überzeugende Weise

darlegen können“, daß es schwer ist herauszufinden, was vorgeht wenn jemand z.B. auf eine Form, eine Farbe oder eine Anzahl „zeigt“ (Wittgenstein, 1953, S,17). Man lerne es durch Sprachspiele, schlug er vor - doch wie der Sprachanfänger diese

Begriffe in den Sprachspielen isoliert, so daß er sie fortan eigenständig benützen kann, ist weiterhin mysteriös geblieben.
Argumentation2
((6)) In der Tat dauerte es viele Jahrtausende, bis diese Annahme als fraglich betrachtet und durch das heliozentrische Weltbild ersetzt werden konnte. Und nach knapp vierhundert Jahren wurde dann auch der Sonne ihre zentrale Stellung im Weltraum abgesprochen.

((7)) Das ist nur ein Beispiel aus einer langen Folge aufgegebener Voraussetzungen. Doch erst in unserem Jahrhundert, das nun zu Ende geht, haben Wissenschaftler einzusehen begonnen, daß ihre Erklärungen der Welt stets auf Begriffen beruhen, die der menschliche Beobachter formt und seinen Erlebnissen aufprägt. ((8)) Albert Einstein hat das in einer frappanten Metapher ausgedrückt:

Physikalische Begriffe sind freie Schöpfungen des Geistes und ergeben sich nicht etwa, wie man sehr leicht zu glauben geneigt ist, zwangsläufig aus den Verhältnissen in der Außenwelt. Bei unseren Bemühungen, die Wirklichkeit zu begreifen, machen wir es manchmal wie ein Mann, der versucht, hinter den Mechanismus einer geschlossenen Taschenuhr zu kommen. Er sieht das Zifferblatt, sieht, wie sich die Zeiger bewegen, und hört sogar das Ticken, doch er hat keine Möglichkeit, das Gehäuse aufzumachen. Wenn er scharfsinnig ist, denkt er sich vielleicht einen Mechanismus aus, dem er alles das zuschreiben kann, was er sieht, doch ist er sich wohl niemals sicher, daß seine Idee die einzige ist, mit der sich seine Beobachtungen erklären lassen. Er ist niemals in der Lage, seine Ideen an Hand des wirklichen Mechanismus nachzuprüfen.

(Einstein & Infeld, 1950) ((9)) Die Idee, daß menschliche Beobachter die Begriffe, mit denen sie Erlebnisse und Erfahrungen erfassen, nicht entdecken, sondern erfinden, ist keineswegs neu. Protagoras, im 5. vorchristlichen Jahrhundert, erklärte bereits, „der Mensch sei das Maß aller Dinge"- Fünfzehnhundert Jahre später formulierte der irische Mystiker Briugena den Gedanken ausführlicher:

Denn ebenso wie der weise Künstler seine Kunst von sich und in sich selbst schafft, so bringt der Verstand seine Vernunft von sich und in sich selbst hervor, in welcher er alle die Dinge, die er machen will, voraussieht und verursacht.

(Periphyseon, Bd.2, 577a-b) ((10)) Eine derartige Auffassung konnte sich nicht entwickeln, solange die Menschen ausschließlich im gegenwärtigen Erleben lebten und das Bemühen, im Strom des Sehens, Hörens und Fühlens nicht völlig unterzugehen, für abstraktere Betrachtungen keinen Spielraum ließ. Erst als das Aufreten von Unstimmigkeiten oder Widersprüchen in den Versuchen, das Erleben zu steuern, Zweifel an der Verläßlichkeit der Sinne hervorrief, ist vermutlich die Frage aufgetaucht, ob hinter der Erfahrung eine 'Realität' läge und welcherart die Verbindung zwischen ihr und der Wahrnehmung sein könnte. Darum nehme ich an, daß es skeptische Erwägungen waren, die den ersten Anlaß zu epistemologischen Überlegungen gaben. ((11)) Wir wissen nicht wann das geschehen ist, doch es war jedenfalls lange vor Protagoras. Hunden Jahre vor ihm, hatte Xenophanes das schreckliche logische Problem bereits klar dargelegt. Selbst wenn es jemandem gelänge, schrieb er, sich die Welt so vorzustellen, wie sie wirklich ist, so könnte er doch nicht wissen, daß es ihm gelungen ist (vgl. Diels, 1957, Xenophanes Fragment 34).

((12)) Die Schlagkraft dieser Aussage beruht auf der Einsicht, daß die Richtigkeit oder 'Wahrheit' eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist. Wir können unser Weltbild nur mit anderen Vorstellungen vergleichen, die wie die erste auf unserem Erleben beruhen und somit durch unsere Art und Weise des Wahrnehmens und Begreifens gebildet wurden. Alles Wissen unterliegt dieser Bedingung, denn was immer wir auch tun, wir können aus unseren Formen des Erlebens und Denkens nicht aussteigen.
Argumentation2
((17)) Fünfzehn Jahre später zeigte George Berkeley, daß die selben Argumente, die Locke benützt hatte, um die sinnlichen Eindrücke als illusorisch aufzuweisen, ebenso die Realität der primären Eigenschaften untergruben. Und in seinem philosophischen Tagebuch fügte Berkeley ein weiteres Argument hinzu, das mir noch gewichtiger erscheint:

Ausdehnung, Bewegung und Zeit schließen jeweils die Idee der Aufeinanderfolge ein. Die Zahl besteht in Aufeinanderfolge und dinghafte Wahrnehmung auch; denn gleichzeitig wahrgenommene Dinge werden im Geiste durcheinander geworfen und vermischt. Zeit und Bewegung können ohne Aufeinanderfolge nicht verstanden werden, und auch die Ausdehnung kann nur so vorgestellt werden, daß sie aus Teilen besteht, voneinander geschieden und hintereinander wahrgenommen. (Berkeley, 1706-08, § 460)

((18)) Diese Bedingung der Aufeinanderfolge ist besonders wichtig, denn sie bringt die grundlegende Tatsache ans Licht, daß eine Folge nur gewußt werden kann, wenn wir ein Ding nach dem anderen erleben.
Argumentation2
Im Bereich der Kognition ist der Begriff der Anpassung wohl analog der Darwinschen Idee der physiologischen Anpassung biologischer Organismen, doch er ist nicht mehr direkt mit Überleben oder Aussterben verknüpft. Diese Verknüpfung hat schon in der Biologie zu Mißverständnissen geführt. Viekle Texte erwähnen 'Umweltdruck', als sei dies eine Ursache, die in Organismen oder Arten Eigenschaften und Handlungsweisen erzeugt, die sich als angepaßt erweisen. Das ist irreführend, denn in der Evolutionstheorie ist es keineswegs die Umwelt, die den Beweggrund zu einer aktiven Anpassung liefert. Die natürliche Auslese schafft weder Eigenschaften noch Verhalten, sie funktioniert lediglich negativ, indem sie jene Individuen aussterben läßt, die unter den gegenwärtigen Bedingungen unfähig sind, zu überleben und sich fortzupflanzen. Anpassung ist nicht eine Tätigkeit der Organismen, sondern eine Beschreibung ihres Zustands. Diejenigen, die überleben, müssen die dazu nötigen Eigenschaften und Verhalten bereits besitzen, wenn der Druck der Umwelt einsetzt. Diese Eigenschaften sind durchwegs das Ergebnis von zufälligen Mutationen oder Fehlern im Vererbungsmechanismus und als solche niemals Reaktionen auf Umstände oder Änderungen der Umwelt.[5] Kurz, alles, was überlebt. war schon im Vorhinein an die Bedingungen und Beschränkungen angepaßt, durch die die natürliche Auslese nun das Nichtangepaßte vernichtet.
Argumentation2
((27)) Auf der kognitiven Ebene geht es nicht direkt um Überleben, sondern um 'Aquilibration', das heißt um inneres Gleichgewicht, und die Auslese ist darum weniger drastisch. Ziel der Anpassung ist hier das Vermeiden von Hindernissen und das Ausgleichen von Störungen. Wie Mach andeutete, können kognitive Strukturen auf zwei Weisen gestört werden: Sie können von Tatsachen widerlegt werden oder mit einander in Konflikt geraten. Die begrifflichen Hindernisse und Störungen sind selten tödlich. Die 'Viabilität' von Begriffen und größeren Begriffsstrukturen, wie etwa Hypothesen oder Theorien, kann normalerweise ohne Lebensgefahr erkundet werden. Gemäß der unterschiedlichen Störungen, gibt es im kognitiven Bereich mehrere Ebenen der Viabilität. Auf der ersten Ebene ist das viabel, was in der jeweiligen Problemsituation zu einer Lösung führt (Machs „Anpassung an die Tatsachen"). Auf der zweiten Ebene ist die Viabilität eine Frage der begrifflichen Vereinbarkeit, das heißt Abwesenheit von Widersprüchen im Bezug auf die anderen Denk- und Handlungsweisen, die das denkende Subjekt in seiner bisherigen Erfahrung als viabel angenommen hat (Machs „Anpassung an einander"). Auf der dritten und höchsten Ebene beruht Viabilität auf dem Einklang der eigenen begrifflichen Strukturen mit jenen, von denen man vermutet, daß andere sie als viabel berachten. ((28)) Auf allen drei Ebenen ist das, was ich 'Viabilität' nenne, der Zustand der Anpassung. Schranken oder Grenzen der Bewegungsfreiheit und bedeutet in keiner Weise eine Angleichung. Diese Beziehung des Hineinpassens läßt sich vielleicht am besten durch die Metapher klar machen, die einige Biologen formuliert haben: Der Vorgang der Auslese, die nur Angepaßtes überleben läßt, ist mit der Funktion eines Siebs vergleichbar, das alles durchfallen läßt, was irgendwie durch die Maschen schlüpft. Was durchfällt 'paßt', besitzt aber keine Eigenschaften des Siebs - es ist nur so beschaffen, daß es durch die Beschränkungen des Siebs nicht beinträchtigt wird.
Argumentation2
((29)) Die wichtigste Anwendung des Anpassungsbegriffs in Piagets Theorie war seine Einführung des Handlungsschemas, das die Prinzipien der Assimilation und der Akkommodation mit sich brachte. Als Biologe war er mit der Bedeutung von Reflexen vertraut und beobachtete die reflexiven Verhalten in seinen eigenen Kindern. In der einschlägigen Literatur heißt es zumeist, daß Reflexe aus zwei Teilen bestehen: Eine auslösende Situation und eine fest mit ihr assoziierte Handlung. Piaget wurde sich klar darüber, daß derartige Verbindungen durch Mutationen entstanden sind und im Erbgut der Arten allgemein wurden, weil die Wirkung der automatisch hervorgerufenen Handlung den Individuen, die eben diese Mutationen besaßen, einen Vorteil im Überleben bot. Er sah den Reflex also nicht als zweiteilig, sondern als aus drei Teilen bestehend.


((30)) Außerdem hatte Piaget auch bemerkt, daß die Reflexe des Säuglings keineswegs so fest und unabänderlich sind, wie die Lehrbücher behaupten. Einerseits verschwinden sie früher oder später im Laufe der individuellen Entwicklung und andererseits ist die Situation, die sie auslöst, vom Gesichtspunkt des Beobachters aus nicht immer genau die gleiche. Das, worauf es ankommt, ist, wie der Organismus die gegebene Situation wahrnimmt. Solange sie mit dem Erkennungsmuster vereinbar ist, das der Organismus ererbt oder sich gebildet hat, löst sie die assoziierte Handlung aus. Das ist die ontogenetisch erste Manifestation dessen, was Piaget 'Assimilation' genannt hat.
Argumentation2
((35)) Der springende Punkt in dieser Theorie ist das Prinzip der ‘Akkommodation’. Wenn ein Subjekt eine wahrgenommene Situation als Auslöser einer bestimmten Handlung assimiliert, schafft dies die Erwartung, daß die Handlung das gewohnte Ergebnis zeitigen wird. Wenn dann dieses Ergebnis nicht eintritt, entsteht eine Perturbation, d.h. eine Störung des inneren Gleichgewichts. Es kann dies eine Enttäuschung sein, oder eine positive Überraschung (wenn das unerwartete Ergebnis ein angenehmes ist). In beiden Fällen kann die Perturbation zu einer Überprüfung der Auslösersituation führen - gewissermaßen um herauszufinden, warum das Schema nicht wie erwartet funktioniert hat. Wenn nun ein vorher mißachtetes Element der Situation für den Fehlschlag verantwortlich gemacht werden kann, so besteht die Möglichkeit, das Erkennungsmuster dementsprechend abzuändern. War das unerwartete Ergebnis angenehm, so wird dies zur Bildung eines neuen Schemas neben dem alten führen. In beiden Fällen nennt Piaget es eine Akkommodation. (Eine Akkommodation kann selbstverständlich auch stattfinden, wenn die Überprüfung einen Haken im Ablauf der Handlung zutage bringt). Kurz, man kann die allgemeine Regel formulieren, daß Akkommodationen und somit Lernen dann zustande kommen, wenn ein gewohntes Schema ein unerwartetes Resultat hervorbringt.
Argumentation2
((36)) Mitte der Sechzigeijahre, zwanzig Jahre nachdem Norbert Wiener sein erstes Buch über Kybernetik (1965) veröffentlicht hatte, bemerkte Piaget, daß es zwischen dieser neuen Disziplin und seinen eigenen Ideen Parallelen gab. Das grundlegende konstruktivistische Prinzip, daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget, 1937, p.311), verkörperte zweifellos die kybernetische Idee der Selbstorganisation.

((37)) Zudem gab es auch andere Ähnlichkeiten. Laut Schematheorie finden Akkommodationen statt, wenn ein erwartetes Ergebnis, ein Ziel, nicht erreicht wird. Das ist analog mit der Idee des negativen Feedbacks, die in homöostatischen Mechanismen verkörpert ist. Ein Thermostat zum Beispiel bewirkt nur dann eine Tätigkeit (Heizen oder Kühlen), wenn die wahrgenommene Temperatur nicht mehr mit dem festgelegten Sollwert (Referenz) Ubereinstimmt. William Powers, ein Pionier der Anwendung kybernetischer Prinzipien in der Verhaltenspsychologie, hat diese Idee im Titel seines Buches

formuliert: Behavior; The Control of Perception - Verhalten als Steuerung der Wahrnehmung (1973). Auch er sah, daß dieses Prinzip erhebliche epistemologische Konsequenzen mit sich bringt. Wenn der ‘intelligente’ Organismus nicht auf Stimuli der Umwelt, sondern lediglich auf Unterschiede zwischen Wahrnehmungen und vorbestimmten Sollwerten reagiert, um sein internes Gleichgewicht zu erhalten, dann gewinnt der Organismus kein objektives Wissen von der Außenwelt. Er kann bestenfalls lernen, sein Gleichgewicht angesichts der Perturbationen, die er wahrnimmt, einigermaßen aufrecht zu erhalten.
Argumentation2
((38)) Mit der Kybernetik stimmt der radikale Konstruktivismus auch in der Einstellung gegenüber Sprache und Verständigung überein. Die auf Arbeiten von Claude Shannon beruhende Kommunikationstheorie (1948) hat eine technische Analyse des Vorgangs geliefert und einen weitverbreiteten Glauben abgebaut.

Signale, Wörter oder Symbole befördern ihre Bedeutung nicht von einem Kommunikanten zum anderen. Die Signalzeichen, die von dem jeweiligen Sender zu einem Empfänger kommen, erhalten ihre Bedeutung nur durch einen Interpretationsprozeß an beiden Enden des Kommunikationskanals. Der Sender setzt die Nachricht in einen bereits festgelegten Kode um (encoding), zum Beispiel in den Morse-Kode der Telegraphie. Es handelt sich da um eine zweispaltige Liste, in der jeder Buchstabe des Alphabets mit einem Signal Zeichen in Form einer Kombination von Punkten und Strichen gepaart ist. Die Empfänger am anderen Ende des Kanals können den empfangenen Signalen nur dann Bedeutungen zuschreiben, wenn sie im Besitz der Kode-Liste sind. Die Liste selbst kann nicht übertragen werden und muß darum auf andere Weise an die zukünftigen Empfänger verteilt werden. Diese Bedingung muß in allen Kommunikationssystemen erfüllt werden, bevor eine Verständigung stattfinden kann. ((39)) Insofern die natürlichen Sprachen der Verständigung dienen sollen, stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, daß die Sprachbenutzer einander verstehen. Freilich gibt es Wörterbücher und Lexika, in denen Wortbedeutungen erklärt werden, aber diese Erklärungen bestehen jeweils aus anderen Wörtern und sind deswegen nur denjenigen nützlich, die bereits einen gewissen Wortschatz haben. Kinder eignen sich ihren grundlegenden Wortschatz in der eigenen Sprache nicht durch das Studium von Wörterbüchern an, sondern auf Grund ihrer Erfahrungen im täglichen Leben. Obschon fortlaufend Untersuchungen gemacht und Theorien entworfen werden, wie die Regeln des Satzbaues gelernt werden könnten, hat kaum jemand sich dafür interessiert, wie Wortbedeutungen entstehen. Schuld daran ist die althergebrachte Überzeugung, daß Wörter - zumindest jene, die Kinder lernen - sich auf Gegenstände der realen Welt beziehen, die für alle Sprecher gleich und darum unproblematisch sind. ((40)) Wenn die epistemologischen Argumente, die ich bereits vorgebracht habe, sinnvoll sind, liegt die Frage der ersten, unerläßlichen Wortbedeutungen jedoch völlig anders. Der Boden, aus dem sie wachsen, kann nur die Erfahrungswelt des Kindes sein. In dieser verschwommenen formlosen Landschaft müssen zunächst wiederholbare Muster gebildet werden, und erst wenn visuelle Komplexe streng von Klangbildern unterschieden sind, kann eines der zweiten Gruppe einem der ersten zugeordnet werden. Selbst wenn die fürsorgliche Mutter eine Tasse vom Tisch hebt und zur einjährigen Tochter sagt: „Schau, Marie, das ist eine Tasse, eine Tasse.“, muß Marie zuerst den Gegenstand in ihrem Gesichtsfeld isolieren und den Wortlaut von anderen gleichzeitigen Geräuschen trennen, bevor sie zwischen beiden eine semantische Verbindung hersteilen kann. Was das Kind da isoliert und trennt, sind nicht Dinge an sich, sondern unter allen Umständen Teile seiner eigenen Erlebenswelt, die im Laufe weiterer Erfahrungen durchwegs mehr oder weniger geändert werden müssen, um mit dem Sprachgebrauch der Erwachsenen einigermaßen übereinzustimmen. ((41)) Michael Tomasello hat auf Grund von ausgedehnten, extrem sorgfältigen Entwicklungsstudien die oft verworrenen Pfade dargelegt, auf denen das Kind seine relative Anpassung an den allgemeinen Sprachgebrauch erreicht (Tomasello, 1992). Daß diese Anpassung eine allmähliche ist, sollte niemanden überraschen. Auch in fortgeschrittenem Alter entdecken wir alle von Zeit zu Zeit, daß wir das eine oder andere Wort unserer Sprache bisher stets in einer Weise verwendet haben, die von jener anderer Sprecher abweicht. Wir haben es vorher nicht bemerkt, weil die Situationen, in denen wir das Wort benutzten oder hörten, unsere Idiosynkrasie nicht zum Vorschein brachten. ((42)) Die Sozialpsychologen haben also völlig recht, wenn sie sagen, daß die Bedeutungen von Wörtern in der Gesellschaft ‘ausgehandelt’ werden. Wichtig ist jedoch die Einsicht, daß das letzte Ergebnis dieses fortlaufenden Handels Vereinbarkeit ist, d.h. Kompatibilität im Sinne der Anpassung, und niemals eine absolute Gleichheit. Denn selbst wenn ein Lehrer oder ein Wörterbuch uns den Gebrauch eines Wortes erklärt, so beruht die Bedeutung, die wir uns aufbauen, doch auf der Interpretation unseres eigenen Erlebens. Diese Bedeutung wird dann zweifellos im Laufe sprachlicher Unterhandlungen geschliffen, verfeinert und weiter angepaßt, doch das Material aus dem sie besteht ist und bleibt das Material

der subjektiven Erfahrung.
Argumentation2
((43)) Auf dem Niveau der Begriffe, die nicht direkt aus Elementen der Wahrnehmung gewonnen werden können, beruht der Aufbau auf der Reflexion über mentale Operationen. Das klarste Beispiel, das ich bisher gefunden habe, ist die Konstruktion der Mehrzahl. Für Erwachsene ist es selbstverständlich, daß man angesichts einer Tasse den Singular des Wortes verwendet, und wenn es sich um mehrere handelt, den Plural. Die Unterscheidung der beiden Situationen wird zumeist als einfache Sache der Wahrnehmung betrachtet, das heißt als offensichtlich und ganz unproblematisch. Untersucht man jedoch genauer, wie ein Kind den richtigen Gebrauch von Ein- und Mehrzahl lernen kann, dann findet man, daß das Gewahrwerden einer Mehrheit mehr verlangt, als bloße Wahrnehmungen. Hat das Kind gelernt, eine bestimmte Kombination sensomotorischer Elemente als „Tasse“ zu bezeichnen, so kann es angesichts mehrerer dieser Gegenstände sagen: „Tasse, Tasse, Tasse, ...“[6]. Vielleicht sagt jemand: „Ja, das sind Tassen,“ und das Kind nimmt den phonetischen Unterschied des Wortes wahr. Vielleicht hat es die abweichende Pluralform auch schon im Gespräch Erwachsener bemerkt. - Aber was sagt ihm, wann die eine und wann die andere Form am Platz ist? Die Antwort liegt nicht in den wahrgenommenen Dingen, sondern im Bereich der Operationen, die der Wahmehmende ausführt. Um eine Mehrheit zu konstruieren, muß man merken, daß man ein und dieselbe Erkennungsprozedur, die einem den Gegenstand „Tasse“ liefert, mindestens zweimal ausgeführt hat. Die Pluralform des Wortes bedingt diese Wiederholung, denn sie bezieht sich nicht auf Elemente der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auf die Art und Weise, wie man Wahrgenommenes verbindet.
Argumentation2
((45)) Ein integraler Teil des konstruktivistischen Denkens ist die Entwicklung von Modellen, die mentalen Operationen entsprechen, die uns in unserer täglichen Erfahrung Begriffsstrukturen liefern, deren Ableitung uns zumeist unbewußt bleibt. Eine der wichtigsten unter diesen ist die Überzeugung der sogenannten ‘Objektpermanenz’, die wir bereits früh in unserer kognitiven Laufbahn aufgebaut haben. Die Herkunft der Idee, daß die meisten Gegenstände, mit denen wir unsere Erlebenswelt möblieren, existentielle Dauerhaftigkeit haben, wird zumindest oberflächlich dadurch verschleiert, daß die Ausdrücke „das gleiche“ und „dasselbe“ in der Umgangssprache austauschbar benützt werden. So kann zum Beispiel eine Frau ihrer Freundin entrüstet von einer Party berichten: „Stell Dir vor, die Irmgard kam in demselben Kleid wie ich!“; und der Sohn kann der Familie auf einer Ferienfahrt erklären: „Das ist das gleiche Auto, das uns schon vor dem Mittagessen vorgefahren ist.“ - Im ersten Fall sind es zwei Kleider, die sich in Bezug auf die Eigenschaften, die da maßgebend sind, nicht unterscheiden; im zweiten Fall hingegen handelt es sich um ein und dasselbe Auto. Anders ausgedrückt: Im ersten Fall wird auf Grund eines Vergleichs die Zugehörigkeit zweier

Gegenstände zu einer bestimmten Klasse behauptet, im zweiten wird dem Gegenstand zweier zeitlich getrennter Erlebnisse individuelle Identität zugeschrieben.

((46)) Beide Operationsweisen sind wichtige Elemente im Aufbau der Begriffswelt. Indem wir Klassen bilden, ersparen wir es uns, jeden Gegenstand, den wir erleben, als Neuerscheinung zu untersuchen.
Argumentation2
((52)) Um auch die anderen Begriffe, die bereits Berkeley als mentale Konstrukte bezeichnete, auf meine Weise zu analysieren, möchte ich die Struktur der ‘Änderung’ graphisch darstellen. Auch dieser Begriff entspringt einer Folge von Erlebensmomenten, denn auf Grund einer einzigen Beobachtung kann man keine Änderung konzipieren. Man braucht mindestens zwei, zwischen denen man einen Unterschied feststellt. Nehmen wir an, ich sehe, daß der Apfel, den meine Frau mir vor zwei Tagen auf den Schreibtisch gelegt hat, nun angefault ist. Das Diagramm dieser Änderung sieht so aus:


((53)) Um zu sagen, daß der Apfel „X“ sich verändert hat, muß ich annehmen, daß er in beiden Beobachtungen derselbe war; wäre er es nicht, so müßte ich ‘Austausch’ denken, nicht ‘Veränderung’. Ist der Apfel an eine andere Stelle des Schreibtischs gerollt, so setzte ich statt der Eigenschaften im Diagramm die zwei verschiedenen Ortsbestimmungen ein, und dann zeigt es die ‘Ortsveränderung’ an. ((54)) Wenn ein Objekt im Laufe mehrerer Erlebnisse in gewisser Hinsicht unverändert bleibt, so kann ich die Fortdauer seines Zustands durch zwei einander folgende, aber ansonsten gleiche Momentaufnahmen anzeigen und so den Begriff der Dauer nahelegen. Verbinde ich das Element der Fortdauer an einem Ort mit der Beobachtung des identischen Individuums an einem anderen, so erhalte ich den Begriff der räumlichen ‘Ausdehnung’.

((55)) Daß die in diesen Diagrammen angedeuteten mentalen Operationen zumeist nicht bewußt registriert werden, läßt sich mit Hilfe von zwei ganz banalen Aussagen zeigen. Einmal sage ich zu einem Besucher: „Der Zug geht direkt von hier nach Boston“, ein andermal,.Diese Straße geht nach Boston.“ Normalerweise wird weder mir noch ihm dabei bewußt, daß der Zug nur jeweils an einem Ort sein kann, während die Straße als an beiden Orten zugleich gedacht wird
Argumentation2
((58)) Auf Grund dieser epistemologischen Voraussetzungen lassen sich einige Schlußfolgerungen ziehen:

- Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, daß wir sie nicht rational erfassen können. - ‘Wirklichkeit’ ist die Welt, die wir erleben, und aus ihr allein leiten wir, auf die uns eigene Weise, Ideen und Dinge ab, sowie die Begriffe der Beziehungen, mit denen wir Verbindungen hersteilen und Theorien aufbauen, die es uns erlauben, mehr oder weniger viable Erklärungen und Vorhersagen in unserer Lebenswelt zu formulieren. - Der Begriff der Viabilität ersetzt jenen der ontischen Wahrheit; das heißt, die Bestätigung des Wissens wird nicht in einem unmöglichen Vergleich mit der Realität gesucht, sondern in seiner Brauchbarkeit angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen. Daraus folgt, daß die Lösung eines Problems nie als die einzig mögliche betrachtet werden darf; es mag die einzige sein, die wir zur Zeit kennen, aber das rechtfertigt niemals den Glauben, unsere Lösung gewähre uns Einsicht in die Struktur einer von uns unabhängig existierenden Welt.

- Dieser letzte Punkt betrifft notwendigerweise auch den Konstruktivismus selbst. Wie alle Theorien, beruht er auf Voraussetzungen, doch er hütet sich, diese Voraussetzungen, seien sie bewußt oder unbewußt, als ontologische Gegebenheiten zu betrachten. Sie werden als Annahmen gedacht, um Modelle zu bauen, die sich in der Welt des Erlebens bewähren sollen.
Argumentation2
((60)) Für mich liegt das wichtigste Anwendungsgebiet des Konstruktivismus im täglichen Leben. Mit dem Verzicht auf objektive Wahrheit verliert alles Rechthaberische seinen Sinn. Wenn man keinen Grund mehr hat zu behaupten, man wisse wie dies oder jenes ist, versteht man leichter, daß andere ihre Wirklichkeit nicht so sehen müssen, wie man die eigene sieht. Man kann zwar darüber diskutieren, ob die eine oder andere Handlungs- oder Denkweise voraussichtlich zu dem gemeinsam erwünschten Ziel fuhren wird oder nicht, aber man bleibt sich der Tatsache gewahr, daß die Frage letztlich nur in der Praxis entschieden werden kann.
Innovationsdiskurs2
Der radikale Konsruktivismus bricht mit dieser Auffassung und schlägt vor, den traditionellen Begriff des Erkennens aufzugeben. Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder 'Repräsentation' einer vom Erlebenden und abhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.
Innovationsdiskurs2
Es ist klar, daß die Annahme dieses Vorschlags einen tiefgreifenden Umbau herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge erfordern würde, und daß darum nicht nur eine solide Begründung, sondern auch eine plausible Darstellung der zu erwartenden Vorteile nötig ist.
Innovationsdiskurs2
Das logisch unanfechtbare Prinzip der Skeptiker, nämlich daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht 'erkennen' können, war ein peinliches Hindernis in der Suche nach einem 'wahren' Weltbild. Doch gerade die Verneinung trug dazu bei, solche Erkenntnis anziehender zu machen und den Wert des praktischen Wissens, das wir tagtäglich benützen, herabzusetzen.
Innovationsdiskurs2
Im Bereich der Kognition ist der Begriff der Anpassung wohl analog der Darwinschen Idee der physiologischen Anpassung biologischer Organismen, doch er ist nicht mehr direkt mit Überleben oder Aussterben verknüpft. Diese Verknüpfung hat schon in der Biologie zu Mißverständnissen geführt. Viekle Texte erwähnen 'Umweltdruck', als sei dies eine Ursache, die in Organismen oder Arten Eigenschaften und Handlungsweisen erzeugt, die sich als angepaßt erweisen. Das ist irreführend, denn in der Evolutionstheorie ist es keineswegs die Umwelt, die den Beweggrund zu einer aktiven Anpassung liefert. Die natürliche Auslese schafft weder Eigenschaften noch Verhalten, sie funktioniert lediglich negativ, indem sie jene Individuen aussterben läßt, die unter den gegenwärtigen Bedingungen unfähig sind, zu überleben und sich fortzupflanzen.
Innovationsdiskurs2
((31)) In der entwicklungspsychologischen Literatur wird der Begriff der Assimilation fälschlich oft so erklärt, als handele es sich dabei um die Abänderung eines Inputs von der Außenwelt. Eine angemessene Beschreibung sollte jedoch darlegen, daß es der Beobachter ist, der von Assimilation spricht, wenn der Organismus in seiner Wahrnehmung gewisse Einzelheiten übergeht, die dem Beobachter offensichtlich sind. Für das Kleinkind, wie zumeist auch für das erwachsene Individuum, ist eine Situation stets das, was das Subjekt selber wahrnimmt.
WissenschaftlicheReferenz2
Albert Einstein hat das in einer frappanten Metapher ausgedrückt:

Physikalische Begriffe sind freie Schöpfungen des Geistes und ergeben sich nicht etwa, wie man sehr leicht zu glauben geneigt ist, zwangsläufig aus den Verhältnissen in der Außenwelt. Bei unseren Bemühungen, die Wirklichkeit zu begreifen, machen wir es manchmal wie ein Mann, der versucht, hinter den Mechanismus einer geschlossenen Taschenuhr zu kommen. Er sieht das Zifferblatt, sieht, wie sich die Zeiger bewegen, und hört sogar das Ticken, doch er hat keine Möglichkeit, das Gehäuse aufzumachen. Wenn er scharfsinnig ist, denkt er sich vielleicht einen Mechanismus aus, dem er alles das zuschreiben kann, was er sieht, doch ist er sich wohl niemals sicher, daß seine Idee die einzige ist, mit der sich seine Beobachtungen erklären lassen. Er ist niemals in der Lage, seine Ideen an Hand des wirklichen Mechanismus nachzuprüfen.

(Einstein & Infeld, 1950)
WissenschaftlicheReferenz2
Protagoras, im 5. vorchristlichen Jahrhundert, erklärte bereits, „der Mensch sei das Maß aller Dinge"- Fünfzehnhundert Jahre später formulierte der irische Mystiker Briugena den Gedanken ausführlicher:

Denn ebenso wie der weise Künstler seine Kunst von sich und in sich selbst schafft, so bringt der Verstand seine Vernunft von sich und in sich selbst hervor, in welcher er alle die Dinge, die er machen will, voraussieht und verursacht.

(Periphyseon, Bd.2, 577a-b)
WissenschaftlicheReferenz2
Wir wissen nicht wann das geschehen ist, doch es war jedenfalls lange vor Protagoras. Hunden Jahre vor ihm, hatte Xenophanes das schreckliche logische Problem bereits klar dargelegt. Selbst wenn es jemandem gelänge, schrieb er, sich die Welt so vorzustellen, wie sie wirklich ist, so könnte er doch nicht wissen, daß es ihm gelungen ist (vgl. Diels, 1957, Xenophanes Fragment 34).
WissenschaftlicheReferenz2
((16)) John Locke führte die Entstehung unserer Ideen auf zwei Quellen zurück: Einerseits die Sinne, andererseits die aktive Reflexion des Subjekts über seine eigenen mentalen Operationen (Locke, 1690, Book 11, Chapter I , 4). Von den ersten sagte er, es sei nur „unsere Einbildung, daß diese Ideen etwas abbilden, das in den Dingen an sich tatsächlich existiert" (ibid. Chapter 8, 25). Von der zweiten Gruppe, also von den Ideen, die der Reflexion entspringen, gab er eine Liste (Masse, Fom, Zahl, räumliche Lage, Bewegung, Ruhe) und behauptete, daß sie im eigentlichen Sinn reale, ursprüngliche oder primäre Eigenschaften genannt werden können, weil sie den Dingen an sich angehören, gleichgültig ob wir die Dinge wahrnehmen oder nicht (ibid. 23).
WissenschaftlicheReferenz2
Fünfzehn Jahre später zeigte George Berkeley, daß die selben Argumente, die Locke benützt hatte, um die sinnlichen Eindrücke als illusorisch aufzuweisen, ebenso die Realität der primären Eigenschaften untergruben. Und in seinem philosophischen Tagebuch fügte Berkeley ein weiteres Argument hinzu, das mir noch gewichtiger erscheint:

Ausdehnung, Bewegung und Zeit schließen jeweils die Idee der Aufeinanderfolge ein. Die Zahl besteht in Aufeinanderfolge und dinghafte Wahrnehmung auch; denn gleichzeitig wahrgenommene Dinge werden im Geiste durcheinander geworfen und vermischt. Zeit und Bewegung können ohne Aufeinanderfolge nicht verstanden werden, und auch die Ausdehnung kann nur so vorgestellt werden, daß sie aus Teilen besteht, voneinander geschieden und hintereinander wahrgenommen.

(Berkeley, 1706-08, § 460)
WissenschaftlicheReferenz2
Mit dieser Feststellung lieferte Berkeley bereits eine Grundlage für das dann von David Hume formulierte allgemeine Prinzip, daß alle Beziehungen, die den Zusammenhang in unserem Denken bilden, „durch die Verbindung oder Assoziation von Ideen" entstehen (Hume, 1742, Essay III). Hume führte aus:

Wenn wir sagen, daß ein Ding mit einem anderen verbunden ist, meinen wir nur, daß wir in unserem Denken eine Verbindung gebildet haben, und das bewirkt die Schlußfolgerung, daß jedes der beiden Dinge der Beweis für die Existenz des anderen sei.

(Hume, 1742, Essay vrr, Part 1)
WissenschaftlicheReferenz2
Als grundlegende mentale Verbindungen bezeichnete Hume drei: Ähnlichkeit, unmittelbare Nachbarschaft in Zeit oder Raum, und Ursache-Wirkung. Zweifellos war ihm klar, daß diese Kategorien weiter analysiert und unterteilt werden konnten. Er schrieb:

Dürfen wir nicht erwarten, daß die Philosophiet sofern sie gewissenhaft betrieben und von öffentlichem Interesse gefördert wird, diese Untersuchungen fortsetzen und somit zumindest in gewissem Grad die versteckten Quellen und Prinzipien entdecken wird, die den Operationen des menschlichen Geistes zugrundeliegen?

(Hume, 1742, Essay I)
WissenschaftlicheReferenz2
Ernst Mach hat das Wesen der kognitiven Anpassung kurz und genau formuliert: „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und an einander" (Mach, 1917, p. 164)[3]
WissenschaftlicheReferenz2
((25)) Die doppelspurige Anpassung bildet auch die Grundlage von Piagets 'Genetischer Epistemologie'. In dieser Kognitionstheorie hat Wissen nicht den herkömmlichen Zweck, eine vom Wissenden unabhängige Welt zu repräsentieren, sondern dient dem Organismus dazu, so zu Handeln und zu denken, daß er mit der Lebenswelt nicht in Konflikt kommt.[4]

Die Suche nach den Mechanismen der biologischen Anpassung und die Analyse des wissenschaftlichen Denkens als ihrer höchsten Form, sowie deren episteologische Interpretation war von Anfang an mein warf, sich als Fortsetzung des Empirismus wähnen konnte.

(Piaget* in Gruber & Vonèche, 1977, p.xii)
WissenschaftlicheReferenz2
((32)) Diese oberflächliche - wenn man will lückenhafte - Wahrnehmung ist der Schlüssel zur begrifflichen Verallgemeinerung und zur Klassenbildung. Sie ist auch ein wichtiger Punkt im Verständnis dessen, was Mach mit den „Tatsachen“ meinte, an die das Denken sich anpassen muß. „Keine Tatsache der Erfahrung wiederholt sich vollkommen genau“, schrieb er, und wenige Zeilen darauf erklärte er:

Wissenschaft ist nicht möglich ohne eine gewisse, wenn auch nicht vollkommene Stabilität der Tatsachen und eine dieser entsprechende, durch Anpassung sich ergebende Stabilität der Gedanken.

(Mach, 1917, p.283-84)
WissenschaftlicheReferenz2
((36)) Mitte der Sechzigeijahre, zwanzig Jahre nachdem Norbert Wiener sein erstes Buch über Kybernetik (1965) veröffentlicht hatte, bemerkte Piaget, daß es zwischen dieser neuen Disziplin und seinen eigenen Ideen Parallelen gab. Das grundlegende konstruktivistische Prinzip, daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget, 1937, p.311), verkörperte zweifellos die kybernetische Idee der Selbstorganisation.
WissenschaftlicheReferenz2
William Powers, ein Pionier der Anwendung kybernetischer Prinzipien in der Verhaltenspsychologie, hat diese Idee im Titel seines Buches formuliert: Behavior; The Control of Perception - Verhalten als Steuerung der Wahrnehmung (1973).
WissenschaftlicheReferenz2
((41)) Michael Tomasello hat auf Grund von ausgedehnten, extrem sorgfältigen Entwicklungsstudien die oft verworrenen Pfade dargelegt, auf denen das Kind seine relative Anpassung an den allgemeinen Sprachgebrauch erreicht (Tomasello, 1992).
WissenschaftlicheReferenz2
((44)) Alles Wissen stammt laut Piaget aus Handlungen. Auf der sensomotorischen Ebene sind es physische Aktionen, auf der begrifflichen mentale Operationen, die das Rohmaterial für Reflexion liefern. Was hier als Reflexion bezeichnet wird, schließt jedoch nicht unbedingt Bewußtsein ein.

... Handeln allein schafft ein selbständiges Wissen von erheblicher Macht, denn obgleich es lediglich „Wissen-wie“ ist und seiner selbst nicht bewußt im Sinne eines begrifflichen Verstehens, bildet es doch die Quelle dieses zweiten, wenn das stets nachhinkende Bewußtsein dann einsetzt. Doch das anfängliche Wissen ist äußerst wirksam, auch wenn es von sich selbst noch nichts weiß. (Piaget, 1974, p.275) Piaget belegt dies mit einem treffenden Beispiel:

Im Lauf der Geschichte haben Denker gedankliche Strukturen benützt, ohne sie bewußt erfaßt zu haben. Ein klassisches Beispiel: Aristoteles hat die Logik der Beziehungen benützt, aber in der Konstruktion seiner eigenen Logik völlig ignoriert.

(Piaget & Garcia, 1983, p.37)
WissenschaftlicheReferenz2
((50)) Die Rolle dieser Vorstellungen hat Piaget sehr gut beschrieben:

Durch die Tatsache, daß es in das System der Vorstellungen und der abstrakten oder indirekten Beziehungen eingeht, erlangt das Objekt einen endgültigen Grad der Freiheit im Bewußtsein des Subjekts: Es wird jetzt trotz aller Verlagerungen und zeitweiligem Verschwinden aus dem Wahmehmungsfeld als sich selbst identisch bleibend begriffen.[7]

(Piaget, 1937, p.75)