Annotationen:Rudolf Taschner – Der Blick in Gottes Karten
((6)) Beide sind - ebenfalls im Gegensatz zu „fundamentalistischen“ Ideologien - frei vom unbedingten Anspruch auf Wahrheit: Der radikale Konstruktivismus deshalb, weil ihm der Begriff der „Wahrheit“ als solcher prinzipiell suspekt ist Die Ausführungen von Ernst von Glasersfeld über die „Quellgebiete“ seines Denkens verstehe ich dementsprechend als Bekundung für die Plausibilität, nicht aber als Beweis für die unbezweifelbare Gültigkeit des radikalen Konstruktivismus. Genauso ist der formalen Mathematik der Gedanke, man könne ihre Gültigkeit stringent herleiten, völlig fremd: ihr genügte die Absicherung bezüglich Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit (selbst diese ist nach den Sätzen Gödels nicht zu erreichen) - daß damit die Vorstellung von absoluter Wahrheit verbunden sei, ist jedoch völlig abwegig. ((7)) Beide Systeme schließlich - und dies begründet meine Skepsis, die ich gegen beide Systeme hege, - verkennen die Stichhaltigkeit von Argumenten, die mit unvermittelter Anschauung, Evidenz oder Intuition einhergehen. Denn in der formalen Mathematik haben die Aussagen allein auf dem Sprachspiel zu beruhen, das auf der Grammatik des Axiomensystems und der Ableitungsregeln gründet. Und im radikalen Konstruktivismus sind Aussagen in das Netz der bereits als viabel betrachteten Aussagen einzubinden und somit letztlich nur von diesem Aussagennetz abhängig (dessen einzelne Knoten - angepaßt auf eben erfahrene „Tatsachen“, was immer man unter „Tatsache“ versteht, - stets ausgebessert werden dürfen).
((9)) Daß sich auch der radikale Konstruktivismus durch den Verzicht auf ontische Wahrheit und das Leugnen ihres Aufleuchtens in den Sternstunden des auf seine Intuition vertrauenden Forschers zu viel vergibt, sei exemplarisch an einer (seltsamer Weise kaum allgemein bekannten) Begebenheit erläutert, die sich entscheidend für die Entdeckung der Quantentheorie erweisen sollte:
1814 entdeckte der Optiker Joseph Fraunhofer die nach ihm benannten Absorptionslinien im Sonnenspektrum. 1859 erkannten der Chemiker Robert Wilhelm Bimsen und der Physiker Gustav Robert Kirchhoff, daß die Spektrallinien Fraunhofers für jedes chemische Element kennzeichnende Wellenzahlen (d.h. Anzahlen von Lichtwellen pro Zentimeter) aufweisen, was die beiden unter anderem zur Entdeckung der Elemente Cäsium und Rubidium führte. Die Wellenzahlen des leichtesten und ersten Elements im Periodensystem, des Wasserstoffs, im sichtbaren Licht lauten zum Beispiel kα = 15233,1/cm, kβ = 20564,1/cm, kγ = 23032,4/cm, kδ = 24372,9/ cm, kε = 25181,3/cm. Obwohl es sich hierbei um beeindruckend genaue optische Messungen handelt (das Ungefähr-gleich-Zeichen = erinnert daran, daß man dennoch mit Meßunschärfen zu rechnen hat), blieb für lange Zeit völlig unklar, warum (d.h. in der Sprache der Physik: nach welchem mathematischen Gesetz) die mit α, ß, γ, δ, ε
numerierten Spektrallinien des Wasserstoffs gerade diese Wellenzahlen besitzen. 1885 fand der Schreib- und Rechenlehrer Johann Jakob Balmer das Gesetz. Bemerkenswert ist, wie Balmer es entdeckte, da zu seiner Zeit alle Versuche, anhand eines Modells den Wellenzahlen auf die Spur zu kommen, kläglich versagten. Balmer ging allein von den fünf oben angegebenen Daten aus und unterwarf sie der bereits aus der antiken griechischen Mathematik bekannten Methode der Kettendivision: Die größere zweier Wellenzahlen wird durch die kleinere dividiert, danach wird der Divisor durch den eben erhaltenen Rest dividiert und so weiter.((14)) Einstein spricht in dem Zitat ((8)) zurecht von der unüberbrückbaren Differenz zwischen den Modellen der Physiker und der Wirklichkeit. Er spricht aber an anderer Stelle auch vom Reiz der Physik, daß sie erlaubt, „dem heben Gott in die Karten zu schauen“. Balmer war zum Beispiel ein „Blick in Gottes Karten“ gegönnt, als er von den Meßresultaten auf die „exakten“ Werte schloß. Eine Wissenstheorie, die dies nicht zu würdigen versteht, geht daher am zentralen Kern von Erkenntnis vorbei.