Annotationen:Theodor Leiber – Bemerkungen zum Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld

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((2)) Mit den ersten drei Sätzen charakterisiert EvG diejenigen philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundhaltungen, die er zurecht als Gegenpositionen seiner Auffassung betrachtet, wenn er bei dieser Charakterisierung - man verzeihe die Spitzfindigkeit - manchmal vielleicht auch etwas pauschalisierend formuliert. Denn ob die Bedeutung (d.h. eine Interpretationspraxis, und welche genau?) von “Erkenntnis” gemeinhin darauf hindeutet, “daß etwas, das bereits vorhanden ist, wahrgenommen wurde und von nun an als bekannt, gewußt und darum als unabänderlich betrachtet wird” (Glasersfeld ((1))), erscheint mir zumindest fraglich.
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Mit seinem zweiten Satz macht EvG seine Gegenpartei, die von obigem Erkenntnisbegriff geprägt und dominiert sein soll, noch deutlicher aus und zieht einen drastischen Schnitt zwischen der “herkömmlichen Erkenntnistheorie der abendländischen Welt”, der es “immer um die Erkenntnis einer Welt an sich” ging (Glasersfeld ((1))), und dem in die Gemeinschaft der Konstruktivisten aufgenommenen Rest. Unter die “herkömmliche Erkenntnistheorie” werden wohl all diejenigen subsumiert, die einen naiven oder dogmatischen Realismus, einen starken metaphysischen oder wissenschaftlichen Realismus vertreten haben. Dazu zählen nach EvGs eigenen Ausführungen z.B. nicht Xenophanes, Protagoras, Johannes Scotus Eriugena, John Locke, Giovanni Battista Vico, George Berkeley, David Hume, Immanuel Kant1, Ernst Mach, Georg Simmel, William James, Hans Vaihinger, Albert Einstein (Glasersfeld 1996)[1]; Aristoteles, der z.B. in seiner “Physik” deutliche Kritik am Begriffsrealismus übt, William von Ockham und Thomas Hobbes, die Gruppe der (Neu-) Kantianer oder Bas van Fraassen, um nur einige weitere Autoren zu nennen, können ebenfalls nicht dem Lager der “herkömmlichen Erkenntnistheorie” zugeschlagen werden; bleiben vermutlich nur noch Denker und Begriffsrealisten des Platonismus, des Neuplatonismus und der (Hoch-) Scholastik, René Descartes sowie die aussterbende Art klassischer logischer Empiristen und natürlich alle Arten hartgesottener Szientisten, kurz: die Klasse der Erkenntnisobjektivisten. Gegen diese vielleicht nicht gerade kleine, aber doch nicht die Tradition der (kritischen) philosophischen Erkenntnistheorie des Abendlandes dominierende Gruppe setzt EvG[2] zurecht eine (Er-) Kenntnislehre, die sich vom realistischen WIierspiegelungs-Repräsentationalismus der “Dinge, wie sie an sich sind”, verabschiedet und Wissen “unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” betrachtet (Glasersfeld ((1))).
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((5)) In der Konsequenz des Radikalen Konstruktivismus wird Erkenntnistheorie zu einer Theorie der Genese von Wissen als Erfahrungmachen (Glasersfeld 1996, 22), wobei ein “Minimalrealismus”[4] damit ebenso kompatibel ist wie die Berücksichtigung der Rolle sozialer Interaktion (wobei ich jedoch betonen möchte, daß ich die Auffassungen, vor allem das Naturwissenschaftsverständnis, vieler extremer und monistischer Sozialkonstruktivisten für dominant fehlerhaft halte). Wissen und Erkenntnis dienen der strukturierenden und orientierenden Organisierung der Erfahrungswelt des Subjekts (Konstruktion viabler Erwartungen, Handlungsschemata und begrifflicher Strukturen) und jedenfalls nicht der Entdeckung einer subjektunabhängigen “Realität an sich” oder der schrittweisen Approximation an eine absolut objektive Wahrheit (eines “gods eye point of view”). Damit vertritt EvG auch die Auffassung der Begriffsbedeutung als Interpretationspraxis im Sinne konstruktiv-diskursiver und viabilitätssteigender Kommunikationsprozesse (z.B. Glasersfeld 1996, 99). ln der Pädagogik und Didaktik führt die Arbeitshypothese der unhintergehbaren Subjektivität allen Wissens dazu, die Aufgabe des Lehrens vor allem darin zu sehen, die Kunst des Lernens auszubilden, um den Lernenden den Selbstaufbau von Wissen zu ermöglichen. Da EvGs Radikaler Konstruktivismus Ausschließlichkeitsansprüche auf Wahrheit und Gewißheit in selbstkonsistenter Weise aufgibt, sind seine Voraussetzungen in letzter Konsequenz immer nur pragmatisch plausibilisierbar, d.h. “sie werden als Annahmen gedacht, um Modelle zu bauen, die sich in der Welt des Erlebens bewähren sollen" (Glasersfeld ((58))). Deshalb gilt - und dies ist zu unterstreichen -, daß der Radikale Konstruktivismus “keine Weltanschauung ist, die beansprucht, das endgültige Bild der Welt zu enthüllen. Er beansprucht nicht mehr zu sein als eine kohärente Denkweise [oder ein “Modell des rationalen Wissens” in der Tradition der Aufklärung], die helfen soll, mit der prinzipiell unbegreifbaren Welt unserer Erfahrung fertig zu werden, und die ... die Verantwortung für alles Tun und Denken dorthin verlegt, wo sie hingehört: in das Individuum nämlich” (Glasersfeld 1996, 50-51, 57). Zurecht betont EvG deswegen, “daß es verfehlt wäre, die Frage zu stellen, ob der Radikale Konstruktivismus wahr oder falsch ist: er ist keine metaphysische Hypothese, sondern ein begriffliches Werkzeug, dessen Wert sich nur nach seinem Erfolg bemißt” (Glasersfeld 1996, 55).
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((6)) Den Begriff der Evolution möchte ich allerdings für die biologische Entwicklungstheorie im Sinne der modernen synthetischen Evolutionstheorie reservieren. Der größte Teil menschlichen Wissens und menschlicher Erkenntnisse wird wohl nicht genetisch kodiert und ist damit nicht vererbbar und somit nicht (oder allenfalls sehr indirekt) der differentiellen Selektion der Bioevolution ausgesetzt. EvG vertritt diese Auffassung ebenfalls und differenziert klar die Begriffe der differentiellen Selektion, der Anpassung und der Passung (z.B. Glasersfeld ((23))-((28)); Glasersfeld 1996, 85, 87, 92), wenn er auch manchmal die Bezeichnung “Evolution” statt “begrifflicher Äquilibration” zu benutzen scheint.