Text:Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie

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in: Ethik und Sozialwissenschaften 9 (1998), Heft 4, hrsg. v. Frank Benseler, Bettina Blanck, Rainer Greshoff, Reinhard Keil-Slawik, Werner Loh. © Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1998

Contents

Zusammenfassung

Die epistemologische Stellungnahme, die ich in meinen Büchern ausgeführt habe, wird hier kurz zusammengefaßt. Die Herkunft der konstruktivistischen Wissenstheorie aus vier Quellen die Tradition des Skeptizismus, Piagets Genetische Epistemologie, Ideen der Kybernetik und operationale Analyse der sprachlichen Kommunikation wird erläutert und die konstruktivistische Orientierung im grundlegender Begriffe wird an Hand von einigen Beispielen gezeigt.

Summary

The paper is a brief exposition of the epistemological position I have presented in a number of books. The four sources of the constructivist theory of knowing are explained: The tradition of scepticism, Piagel's Genetic Episiemology, cybernetical ideas, and the operational analysis of linguistic communication. The constructivist method of conceptual analysis is demonstrated with some basic examples.

Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie (Ernst von Glasersfeld)[1]

((1)) Das Wort 'Erkenntnis' deutet daraufhin, daß etwas, das bereits vorhanden ist, wahrgenommen wurde und von nun an als bekannt, gewußt und darum als unabänderlich betrachtet wird. In der herkömmlichen Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um die Erkenntnis einer Welt an sich, das heißt einer Welt, so wie sie ist, bevor der Erkennende sie berührt und durch seine Erkundung gestört oder verändert hat. Das Wissen, das solche Erkenntnis hervorbringt, soll von den Eigenschaften und Vorurteilen des Subjekts unabhängig und darum im ursprünglichen Sinne des Wortes 'objektiv' sein. Der radikale Konsruktivismus bricht mit dieser Auffassung und schlägt vor, den traditionellen Begriff des Erkennens aufzugeben. Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder 'Repräsentation' einer vom Erlebenden und abhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.

((2)) Es ist klar, daß die Annahme dieses Vorschlags einen tiefgreifenden Umbau herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge erfordern würde, und daß darum nicht nur eine solide Begründung, sondern auch eine plausible Darstellung der zu erwartenden Vorteile nötig ist.

((3)) Ich habe versucht, diesen Ansprüchen in meinem Buch Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme (1996) einigermaßen gerecht zu werden. im Umfang eines Artikels kann ich bestenfalls einige der Hauptpunkte darstellen und die wichtigsten Aspekte der konstruktivistischen Denkweise skizzieren. In den folgenden Seiten will ich die vier Quellgebiete anführen, aus denen mein Denken erwuchs, und zum Abschluß einige der Anwendungen erwähnen, die mich überzeugt haben, daß die gewonnene Orientierung tatsächlich brauchbar ist.

Epistemologischer Untergrund

((4)) Wer eine Theorie oder ein erklärendes Modell bauen will, muß Voraussetzungen machen, und diese Voraussetzungen liegen und bleiben außerhalb des Erklärungsbereichs, des theoretischen Baus. Man kann die Geschichte der Wissenschaft als eine schrittweise Einführung neuer, bewußter Voraussetzungen betrachten, die anstelle der vorherigen unbewußten eingesetzt wurden.

((5)) Als die ersten Menschen in den Himmel schauten, taten sie es nicht als Wissenschaftler. In ihrem Denken gab es keine Konventionen der Beobachtung, kein Weltall, und sie empfanden sich nicht als unabhängige Beschauer. Sie lebten und schauten ohne Voraussetzungen. Erst als sie anfingen Erlebtes im Rückblick reflektierend zu betrachten, begannen sie, Unterschiede und Gleichheiten festzustellen, So kamen sie darauf, gleichförmige Erlebnisse als eigenständige, körperliche 'Dinge' zu isolieren, Beziehungen zwischen ihnen zu denken und Bewegungen zu vermerken. Sie sahen Sonne und Mond an bestimmten Punkten des Horizonts aufgehen und steigen, und dann an entgegengesetzten Punkten sinken und untergehen. Alle 'Himmelskörper' schienen eine ähnliche Runde zu machen - die Sonne bei Tag, der Mond und die Sterne bei Nacht. So lag die Annahme nahe, daß sie einen Kreis beschrieben und daß die wahrnehmenden Zuschauer auf dem festen Boden der Erde im Mittelpunkt einer Himmelskugel standen. Das schien so selbstverständlich, daß es keiner ausdrücklichen Erwähnung bedurfte.

((6)) In der Tat dauerte es viele Jahrtausende, bis diese Annahme als fraglich betrachtet und durch das heliozentrische Weltbild ersetzt werden konnte. Und nach knapp vierhundert Jahren wurde dann auch der Sonne ihre zentrale Stellung im Weltraum abgesprochen.

((7)) Das ist nur ein Beispiel aus einer langen Folge aufgegebener Voraussetzungen. Doch erst in unserem Jahrhundert, das nun zu Ende geht, haben Wissenschaftler einzusehen begonnen, daß ihre Erklärungen der Welt stets auf Begriffen beruhen, die der menschliche Beobachter formt und seinen Erlebnissen aufprägt.

((8)) Albert Einstein hat das in einer frappanten Metapher ausgedrückt:

Physikalische Begriffe sind freie Schöpfungen des Geistes und ergeben sich nicht etwa, wie man sehr leicht zu glauben geneigt ist, zwangsläufig aus den Verhältnissen in der Außenwelt. Bei unseren Bemühungen, die Wirklichkeit zu begreifen, machen wir es manchmal wie ein Mann, der versucht, hinter den Mechanismus einer geschlossenen Taschenuhr zu kommen. Er sieht das Zifferblatt, sieht, wie sich die Zeiger bewegen, und hört sogar das Ticken, doch er hat keine Möglichkeit, das Gehäuse aufzumachen. Wenn er scharfsinnig ist, denkt er sich vielleicht einen Mechanismus aus, dem er alles das zuschreiben kann, was er sieht, doch ist er sich wohl niemals sicher, daß seine Idee die einzige ist, mit der sich seine Beobachtungen erklären lassen. Er ist niemals in der Lage, seine Ideen an Hand des wirklichen Mechanismus nachzuprüfen. (Einstein & Infeld, 1950)

((9)) Die Idee, daß menschliche Beobachter die Begriffe, mit denen sie Erlebnisse und Erfahrungen erfassen, nicht entdecken, sondern erfinden, ist keineswegs neu. Protagoras, im 5. vorchristlichen Jahrhundert, erklärte bereits, „der Mensch sei das Maß aller Dinge"- Fünfzehnhundert Jahre später formulierte der irische Mystiker Briugena den Gedanken ausführlicher:

Denn ebenso wie der weise Künstler seine Kunst von sich und in sich selbst schafft, so bringt der Verstand seine Vernunft von sich und in sich selbst hervor, in welcher er alle die Dinge, die er machen will, voraussieht und verursacht. (Periphyseon, Bd.2, 577a-b)

((10)) Eine derartige Auffassung konnte sich nicht entwickeln, solange die Menschen ausschließlich im gegenwärtigen Erleben lebten und das Bemühen, im Strom des Sehens, Hörens und Fühlens nicht völlig unterzugehen, für abstraktere Betrachtungen keinen Spielraum ließ. Erst als das Aufreten von Unstimmigkeiten oder Widersprüchen in den Versuchen, das Erleben zu steuern, Zweifel an der Verläßlichkeit der Sinne hervorrief, ist vermutlich die Frage aufgetaucht, ob hinter der Erfahrung eine 'Realität' läge und welcherart die Verbindung zwischen ihr und der Wahrnehmung sein könnte. Darum nehme ich an, daß es skeptische Erwägungen waren, die den ersten Anlaß zu epistemologischen Überlegungen gaben.

((11)) Wir wissen nicht wann das geschehen ist, doch es war jedenfalls lange vor Protagoras. Hunden Jahre vor ihm, hatte Xenophanes das schreckliche logische Problem bereits klar dargelegt. Selbst wenn es jemandem gelänge, schrieb er, sich die Welt so vorzustellen, wie sie wirklich ist, so könnte er doch nicht wissen, daß es ihm gelungen ist (vgl. Diels, 1957, Xenophanes Fragment 34).

((12)) Die Schlagkraft dieser Aussage beruht auf der Einsicht, daß die Richtigkeit oder 'Wahrheit' eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist. Wir können unser Weltbild nur mit anderen Vorstellungen vergleichen, die wie die erste auf unserem Erleben beruhen und somit durch unsere Art und Weise des Wahrnehmens und Begreifens gebildet wurden. Alles Wissen unterliegt dieser Bedingung, denn was immer wir auch tun, wir können aus unseren Formen des Erlebens und Denkens nicht aussteigen.

((13)) Die Frage, wie unsere Wahrnehmungen und unsere Begriffe mit einer von uns unabhängigen Welt zusammenhängen, ist darum rational unbeantwortbar. Wir können freilich versuchen, die unergründliche Lücke durch metaphysische Postulate zu schließen - wie etwa Descartes, als er vorschlug, Gott könne nicht so boshaft gewesen sein, uns mit trügerischen Sinnen auszustatten. Doch metaphysische Annahmen sind Sache des Glaubens und nicht der vernunftnäßigen Überzeugung. Auch Argumente der Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit sind im Bezug auf metaphysische Annahmen wirkungslos, denn es gibt keinen Grund, weswegen das, was uns plausibel oder wahrscheinlich dünkt, einer objektiven Realität angemessen sein sollte.

((14)) Das logisch unanfechtbare Prinzip der Skeptiker, nämlich daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht 'erkennen' können, war ein peinliches Hindernis in der Suche nach einem 'wahren' Weltbild. Doch gerade die Verneinung trug dazu bei, solche Erkenntnis anziehender zu machen und den Wert des praktischen Wissens, das wir tagtäglich benützen, herabzusetzen.

((15)) Diese Entwertung der Praxis ist meiner Ansicht nach auch der Grund, weswegen Einsichten der Empiristen Locke, Berkeley und Hume von den meisten nachfolgenden Philosophen mißachtet und übergangen wurden. Alle drei haben wichtige Aspekte eben jenes Wissens beleuchtet, das der handelnde Mensch auf Grund der Erfahrung autbaut und täglich benützt.

((16)) John Locke führte die Entstehung unserer Ideen auf zwei Quellen zurück: Einerseits die Sinne, andererseits die aktive Reflexion des Subjekts über seine eigenen mentalen Operationen (Locke, 1690, Book 11, Chapter I , 4). Von den ersten sagte er, es sei nur „unsere Einbildung, daß diese Ideen etwas abbilden, das in den Dingen an sich tatsächlich existiert" (ibid. Chapter 8, 25). Von der zweiten Gruppe, also von den Ideen, die der Reflexion entspringen, gab er eine Liste (Masse, Fom, Zahl, räumliche Lage, Bewegung, Ruhe) und behauptete, daß sie im eigentlichen Sinn reale, ursprüngliche oder primäre Eigenschaften genannt werden können, weil sie den Dingen an sich angehören, gleichgültig ob wir die Dinge wahrnehmen oder nicht (ibid. 23).

((17)) Fünfzehn Jahre später zeigte George Berkeley, daß die selben Argumente, die Locke benützt hatte, um die sinnlichen Eindrücke als illusorisch aufzuweisen, ebenso die Realität der primären Eigenschaften untergruben. Und in seinem philosophischen Tagebuch fügte Berkeley ein weiteres Argument hinzu, das mir noch gewichtiger erscheint:

Ausdehnung, Bewegung und Zeit schließen jeweils die Idee der Aufeinanderfolge ein. Die Zahl besteht in Aufeinanderfolge und dinghafte Wahrnehmung auch; denn gleichzeitig wahrgenommene Dinge werden im Geiste durcheinander geworfen und vermischt. Zeit und Bewegung können ohne Aufeinanderfolge nicht verstanden werden, und auch die Ausdehnung kann nur so vorgestellt werden, daß sie aus Teilen besteht, voneinander geschieden und hintereinander wahrgenommen. (Berkeley, 1706-08, § 460)

((18)) Diese Bedingung der Aufeinanderfolge ist besonders wichtig, denn sie bringt die grundlegende Tatsache ans Licht, daß eine Folge nur gewußt werden kann, wenn wir ein Ding nach dem anderen erleben. Mit dieser Feststellung lieferte Berkeley bereits eine Grundlage für das dann von David Hume formulierte allgemeine Prinzip, daß alle Beziehungen, die den Zusammenhang in unserem Denken bilden, „durch die Verbindung oder Assoziation von Ideen" entstehen (Hume, 1742, Essay III). Hume führte aus:

Wenn wir sagen, daß ein Ding mit einem anderen verbunden ist, meinen wir nur, daß wir in unserem Denken eine Verbindung gebildet haben, und das bewirkt die Schlußfolgerung, daß jedes der beiden Dinge der Beweis für die Existenz des anderen sei. (Hume, 1742, Essay vrr, Part 1)

((19)) Als grundlegende mentale Verbindungen bezeichnete Hume drei: Ähnlichkeit, unmittelbare Nachbarschaft in Zeit oder Raum, und Ursache-Wirkung. Zweifellos war ihm klar, daß diese Kategorien weiter analysiert und unterteilt werden konnten. Er schrieb:

Dürfen wir nicht erwarten, daß die Philosophiet sofern sie gewissenhaft betrieben und von öffentlichem Interesse gefördert wird, diese Untersuchungen fortsetzen und somit zumindest in gewissem Grad die versteckten Quellen und Prinzipien entdecken wird, die den Operationen des menschlichen Geistes zugrundeliegen? (Hume, 1742, Essay I)

((20)) Es hat lange gedauert, bis empirische Untersuchungen dieser Art wieder aufgenommen wurden. Kant gestand, daß Humes Schriften ihn aus „dogmatischem Schlummer" erweckt hatten, und obgleich er ein gewaltiges theoretisches Gerüst zur Erkundung des rationalen Verstandes lieferte, befaßte er sich doch kaum mit den tatsächlichen Mechanismen der mentalen Operationen. Und nach Kant, im 19. Jahrhundert, verschob sich das Interesse der Philosophen hauptsächlich in die Metaphysik. Wer sich auf die britischen Empiristen berief, tat dies im Zusammenhang mit der Sinneswahrnehmung. Die Tatsache, daß alle drei die unerläßliche Rolle der mentalen Operationen betont hatten, wurde so vollkommen vergessen, daß schließlich eine Bewegung wie der amerikanische Behaviorismus, die alles Geistige als Aberglauben verwarf, sich als Fortsetzung des Empirismus wähnen konnte. So wird auch heute noch in vielen Lehrbüchern der Psychologie der Eindruck erweckt, empirische Forschung sei der goldene Weg zur Erkenntnis der realen, objektiven Welt.

((21)) Als Einstein schrieb, der scharfsinnige Forscher könne niemals wissen, daß der Mechanismus, den er sich ausgedacht hatte, die einzige (und somit „wahre") Erklärung seiner Beobachtungen sei, bestätigte er einen radikalen Umschwung in Bezug auf den Zweck und die Praxis der Forschung. Der Glaube, daß die wissenschaftliche Wahrheit uns ein mehr oder weniger getreues Bild geben könnte, wie eine von uns unabhängige Welt tatsächlich funktioniert, war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Forschung bezog sich nunmehr auf die Welt, die wir erleben, und Aufgabe des Wissenschaftlers war es, Modelle zu erfinden, die sich mit den jeweiligen Beobachtungen als vereinbar erwiesen.

((22)) Dieser Umschwung in der Wissenschaftsphilosophie war eine längst fällige Reaktion auf die Lehre der Skepsis. Da der Zweifel nicht rational entkräftet werden konnte, hatten die meisten Denker sich in die Metaphysik geflüchtet. Für die Wissenschaft jedoch war dieser Ausweg ebenso unbefriedigend wie Platons Vorschlag, die eigentliche Quelle wahren Wissens in der ererbten Seele zu suchen, statt in der Erfahrung. Wissenschaftliches Wissen bedurfte einer neuen Definition. Es mußte nicht nur in der Lebenswelt brauchbar sein, es mußte auch in ihr gefunden werden. Was nun nötig war, war ein weitgehender Umbau der begrifflichen Grundlagen.

Der Begriff der Anpassung

((23)) Erst mit dem Erscheinen der Darwinschen Evolutionstheorie wurde ein Begriff zugänglich, der es ermöglichte, dem Wissen eine andere Rolle zuzuschreiben. Es war der Begriff der 'Anpassung', und kurz vor der Jahrhundertwende führten William James, Georg Simmel, Ernst Mach, Alexander Bogdanov, Hans Vaihinger und andere ihn in den Bereich der Kognition ein.

((24)) Einsteins metaphorische Anekdote hilft uns, diese Übertragung zu erhellen. Der wissenschaftliche Beobachter der geheimnisvollen Uhr wird für scharfsinnig und erfolgreich gelten, wenn es ihm gelingt, seinen hypothetischen Mechanismus so zu konstruieren, daß er zu sämtlichen beobachtbaren Einzelheiten paßt. Das heißt, das Modell[2] muß die bisher festgestellten Verhaltensphänomene der Uhr verläßlich wiedergeben. Ernst Mach hat das Wesen der kognitiven Anpassung kurz und genau formuliert: „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und an einander" (Mach, 1917, p. 164)[3]

((25)) Die doppelspurige Anpassung bildet auch die Grundlage von Piagets 'Genetischer Epistemologie'. In dieser Kognitionstheorie hat Wissen nicht den herkömmlichen Zweck, eine vom Wissenden unabhängige Welt zu repräsentieren, sondern dient dem Organismus dazu, so zu Handeln und zu denken, daß er mit der Lebenswelt nicht in Konflikt kommt.[4]

Die Suche nach den Mechanismen der biologischen Anpassung und die Analyse des wissenschaftlichen Denkens als ihrer höchsten Form, sowie deren episteologische Interpretation war von Anfang an mein warf, sich als Fortsetzung des Empirismus wähnen konnte. (Piaget* in Gruber & Vonèche, 1977, p.xii)

((26)) Im Bereich der Kognition ist der Begriff der Anpassung wohl analog der Darwinschen Idee der physiologischen Anpassung biologischer Organismen, doch er ist nicht mehr direkt mit Überleben oder Aussterben verknüpft. Diese Verknüpfung hat schon in der Biologie zu Mißverständnissen geführt. Viekle Texte erwähnen 'Umweltdruck', als sei dies eine Ursache, die in Organismen oder Arten Eigenschaften und Handlungsweisen erzeugt, die sich als angepaßt erweisen. Das ist irreführend, denn in der Evolutionstheorie ist es keineswegs die Umwelt, die den Beweggrund zu einer aktiven Anpassung liefert. Die natürliche Auslese schafft weder Eigenschaften noch Verhalten, sie funktioniert lediglich negativ, indem sie jene Individuen aussterben läßt, die unter den gegenwärtigen Bedingungen unfähig sind, zu überleben und sich fortzupflanzen. Anpassung ist nicht eine Tätigkeit der Organismen, sondern eine Beschreibung ihres Zustands. Diejenigen, die überleben, müssen die dazu nötigen Eigenschaften und Verhalten bereits besitzen, wenn der Druck der Umwelt einsetzt. Diese Eigenschaften sind durchwegs das Ergebnis von zufälligen Mutationen oder Fehlern im Vererbungsmechanismus und als solche niemals Reaktionen auf Umstände oder Änderungen der Umwelt.[5] Kurz, alles, was überlebt. war schon im Vorhinein an die Bedingungen und Beschränkungen angepaßt, durch die die natürliche Auslese nun das Nichtangepaßte vernichtet.

((27)) Auf der kognitiven Ebene geht es nicht direkt um Überleben, sondern um 'Aquilibration', das heißt um inneres Gleichgewicht, und die Auslese ist darum weniger drastisch. Ziel der Anpassung ist hier das Vermeiden von Hindernissen und das Ausgleichen von Störungen. Wie Mach andeutete, können kognitive Strukturen auf zwei Weisen gestört werden: Sie können von Tatsachen widerlegt werden oder mit einander in Konflikt geraten. Die begrifflichen Hindernisse und Störungen sind selten tödlich. Die 'Viabilität' von Begriffen und größeren Begriffsstrukturen, wie etwa Hypothesen oder Theorien, kann normalerweise ohne Lebensgefahr erkundet werden. Gemäß der unterschiedlichen Störungen, gibt es im kognitiven Bereich mehrere Ebenen der Viabilität. Auf der ersten Ebene ist das viabel, was in der jeweiligen Problemsituation zu einer Lösung führt (Machs „Anpassung an die Tatsachen"). Auf der zweiten Ebene ist die Viabilität eine Frage der begrifflichen Vereinbarkeit, das heißt Abwesenheit von Widersprüchen im Bezug auf die anderen Denk- und Handlungsweisen, die das denkende Subjekt in seiner bisherigen Erfahrung als viabel angenommen hat (Machs „Anpassung an einander"). Auf der dritten und höchsten Ebene beruht Viabilität auf dem Einklang der eigenen begrifflichen Strukturen mit jenen, von denen man vermutet, daß andere sie als viabel berachten.

((28)) Auf allen drei Ebenen ist das, was ich 'Viabilität' nenne, der Zustand der Anpassung. Schranken oder Grenzen der Bewegungsfreiheit und bedeutet in keiner Weise eine Angleichung. Diese Beziehung des Hineinpassens läßt sich vielleicht am besten durch die Metapher klar machen, die einige Biologen formuliert haben: Der Vorgang der Auslese, die nur Angepaßtes überleben läßt, ist mit der Funktion eines Siebs vergleichbar, das alles durchfallen läßt, was irgendwie durch die Maschen schlüpft. Was durchfällt 'paßt', besitzt aber keine Eigenschaften des Siebs - es ist nur so beschaffen, daß es durch die Beschränkungen des Siebs nicht beinträchtigt wird.

Piagets Schematbeorie

((29)) Die wichtigste Anwendung des Anpassungsbegriffs in Piagets Theorie war seine Einführung des Handlungsschemas, das die Prinzipien der Assimilation und der Akkommodation mit sich brachte. Als Biologe war er mit der Bedeutung von Reflexen vertraut und beobachtete die reflexiven Verhalten in seinen eigenen Kindern. In der einschlägigen Literatur heißt es zumeist, daß Reflexe aus zwei Teilen bestehen: Eine auslösende Situation und eine fest mit ihr assoziierte Handlung. Piaget wurde sich klar darüber, daß derartige Verbindungen durch Mutationen entstanden sind und im Erbgut der Arten allgemein wurden, weil die Wirkung der automatisch hervorgerufenen Handlung den Individuen, die eben diese Mutationen besaßen, einen Vorteil im Überleben bot. Er sah den Reflex also nicht als zweiteilig, sondern als aus drei Teilen bestehend.

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((30)) Außerdem hatte Piaget auch bemerkt, daß die Reflexe des Säuglings keineswegs so fest und unabänderlich sind, wie die Lehrbücher behaupten. Einerseits verschwinden sie früher oder später im Laufe der individuellen Entwicklung und andererseits ist die Situation, die sie auslöst, vom Gesichtspunkt des Beobachters aus nicht immer genau die gleiche. Das, worauf es ankommt, ist, wie der Organismus die gegebene Situation wahrnimmt. Solange sie mit dem Erkennungsmuster vereinbar ist, das der Organismus ererbt oder sich gebildet hat, löst sie die assoziierte Handlung aus. Das ist die ontogenetisch erste Manifestation dessen, was Piaget 'Assimilation' genannt hat.

((31)) In der entwicklungspsychologischen Literatur wird der Begriff der Assimilation fälschlich oft so erklärt, als handele es sich dabei um die Abänderung eines Inputs von der Außenwelt. Eine angemessene Beschreibung sollte jedoch darlegen, daß es der Beobachter ist, der von Assimilation spricht, wenn der Organismus in seiner Wahrnehmung gewisse Einzelheiten übergeht, die dem Beobachter offensichtlich sind. Für das Kleinkind, wie zumeist auch für das erwachsene Individuum, ist eine Situation stets das, was das Subjekt selber wahrnimmt.

((32)) Diese oberflächliche - wenn man will lückenhafte - Wahrnehmung ist der Schlüssel zur begrifflichen Verallgemeinerung und zur Klassenbildung. Sie ist auch ein wichtiger Punkt im Verständnis dessen, was Mach mit den „Tatsachen“ meinte, an die das Denken sich anpassen muß. „Keine Tatsache der Erfahrung wiederholt sich vollkommen genau“, schrieb er, und wenige Zeilen darauf erklärte er:

Wissenschaft ist nicht möglich ohne eine gewisse, wenn auch nicht vollkommene Stabilität der Tatsachen und eine dieser entsprechende, durch Anpassung sich ergebende Stabilität der Gedanken. (Mach, 1917, p.283-84)

((33)) In Piagets konstruktivistischer Theorie ist es das Prinzip der Assimilation, das die Stabilität hervorbringt.

((34)) Das in den Reflexen vorgeformte dreiteilige Muster, so schloß Piaget, konnte von dem sich entwickelnden Kind selbst aufgebaut werden, wann immer eine angenehme oder irgendwie interessante Erfahrung auf eine Handlung folgt. Er sah darin die allgemeine Struktur des sensomotorischen Handelns und gründete darauf den Begriff des Handlungsschemas. Dieser Begriff erlaubte es ihm dann, eine umfassende Theorie des praktischen Lernens zu entwickeln.

((35)) Der springende Punkt in dieser Theorie ist das Prinzip der ‘Akkommodation’. Wenn ein Subjekt eine wahrgenommene Situation als Auslöser einer bestimmten Handlung assimiliert, schafft dies die Erwartung, daß die Handlung das gewohnte Ergebnis zeitigen wird. Wenn dann dieses Ergebnis nicht eintritt, entsteht eine Perturbation, d.h. eine Störung des inneren Gleichgewichts. Es kann dies eine Enttäuschung sein, oder eine positive Überraschung (wenn das unerwartete Ergebnis ein angenehmes ist). In beiden Fällen kann die Perturbation zu einer Überprüfung der Auslösersituation führen - gewissermaßen um herauszufinden, warum das Schema nicht wie erwartet funktioniert hat. Wenn nun ein vorher mißachtetes Element der Situation für den Fehlschlag verantwortlich gemacht werden kann, so besteht die Möglichkeit, das Erkennungsmuster dementsprechend abzuändern. War das unerwartete Ergebnis angenehm, so wird dies zur Bildung eines neuen Schemas neben dem alten führen. In beiden Fällen nennt Piaget es eine Akkommodation. (Eine Akkommodation kann selbstverständlich auch stattfinden, wenn die Überprüfung einen Haken im Ablauf der Handlung zutage bringt). Kurz, man kann die allgemeine Regel formulieren, daß Akkommodationen und somit Lernen dann zustande kommen, wenn ein gewohntes Schema ein unerwartetes Resultat hervorbringt.

Kybernetik: Selbstorganisation und Verständigung

((36)) Mitte der Sechzigeijahre, zwanzig Jahre nachdem Norbert Wiener sein erstes Buch über Kybernetik (1965) veröffentlicht hatte, bemerkte Piaget, daß es zwischen dieser neuen Disziplin und seinen eigenen Ideen Parallelen gab. Das grundlegende konstruktivistische Prinzip, daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget, 1937, p.311), verkörperte zweifellos die kybernetische Idee der Selbstorganisation.

((37)) Zudem gab es auch andere Ähnlichkeiten. Laut Schematheorie finden Akkommodationen statt, wenn ein erwartetes Ergebnis, ein Ziel, nicht erreicht wird. Das ist analog mit der Idee des negativen Feedbacks, die in homöostatischen Mechanismen verkörpert ist. Ein Thermostat zum Beispiel bewirkt nur dann eine Tätigkeit (Heizen oder Kühlen), wenn die wahrgenommene Temperatur nicht mehr mit dem festgelegten Sollwert (Referenz) Ubereinstimmt. William Powers, ein Pionier der Anwendung kybernetischer Prinzipien in der Verhaltenspsychologie, hat diese Idee im Titel seines Buches formuliert: Behavior; The Control of Perception - Verhalten als Steuerung der Wahrnehmung (1973). Auch er sah, daß dieses Prinzip erhebliche epistemologische Konsequenzen mit sich bringt. Wenn der ‘intelligente’ Organismus nicht auf Stimuli der Umwelt, sondern lediglich auf Unterschiede zwischen Wahrnehmungen und vorbestimmten Sollwerten reagiert, um sein internes Gleichgewicht zu erhalten, dann gewinnt der Organismus kein objektives Wissen von der Außenwelt. Er kann bestenfalls lernen, sein Gleichgewicht angesichts der Perturbationen, die er wahrnimmt, einigermaßen aufrecht zu erhalten.

((38)) Mit der Kybernetik stimmt der radikale Konstruktivismus auch in der Einstellung gegenüber Sprache und Verständigung überein. Die auf Arbeiten von Claude Shannon beruhende Kommunikationstheorie (1948) hat eine technische Analyse des Vorgangs geliefert und einen weitverbreiteten Glauben abgebaut. Signale, Wörter oder Symbole befördern ihre Bedeutung nicht von einem Kommunikanten zum anderen. Die Signalzeichen, die von dem jeweiligen Sender zu einem Empfänger kommen, erhalten ihre Bedeutung nur durch einen Interpretationsprozeß an beiden Enden des Kommunikationskanals. Der Sender setzt die Nachricht in einen bereits festgelegten Kode um (encoding), zum Beispiel in den Morse-Kode der Telegraphie. Es handelt sich da um eine zweispaltige Liste, in der jeder Buchstabe des Alphabets mit einem Signal Zeichen in Form einer Kombination von Punkten und Strichen gepaart ist. Die Empfänger am anderen Ende des Kanals können den empfangenen Signalen nur dann Bedeutungen zuschreiben, wenn sie im Besitz der Kode-Liste sind. Die Liste selbst kann nicht übertragen werden und muß darum auf andere Weise an die zukünftigen Empfänger verteilt werden. Diese Bedingung muß in allen Kommunikationssystemen erfüllt werden, bevor eine Verständigung stattfinden kann.

((39)) Insofern die natürlichen Sprachen der Verständigung dienen sollen, stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, daß die Sprachbenutzer einander verstehen. Freilich gibt es Wörterbücher und Lexika, in denen Wortbedeutungen erklärt werden, aber diese Erklärungen bestehen jeweils aus anderen Wörtern und sind deswegen nur denjenigen nützlich, die bereits einen gewissen Wortschatz haben. Kinder eignen sich ihren grundlegenden Wortschatz in der eigenen Sprache nicht durch das Studium von Wörterbüchern an, sondern auf Grund ihrer Erfahrungen im täglichen Leben. Obschon fortlaufend Untersuchungen gemacht und Theorien entworfen werden, wie die Regeln des Satzbaues gelernt werden könnten, hat kaum jemand sich dafür interessiert, wie Wortbedeutungen entstehen. Schuld daran ist die althergebrachte Überzeugung, daß Wörter - zumindest jene, die Kinder lernen - sich auf Gegenstände der realen Welt beziehen, die für alle Sprecher gleich und darum unproblematisch sind.

((40)) Wenn die epistemologischen Argumente, die ich bereits vorgebracht habe, sinnvoll sind, liegt die Frage der ersten, unerläßlichen Wortbedeutungen jedoch völlig anders. Der Boden, aus dem sie wachsen, kann nur die Erfahrungswelt des Kindes sein. In dieser verschwommenen formlosen Landschaft müssen zunächst wiederholbare Muster gebildet werden, und erst wenn visuelle Komplexe streng von Klangbildern unterschieden sind, kann eines der zweiten Gruppe einem der ersten zugeordnet werden. Selbst wenn die fürsorgliche Mutter eine Tasse vom Tisch hebt und zur einjährigen Tochter sagt: „Schau, Marie, das ist eine Tasse, eine Tasse.“, muß Marie zuerst den Gegenstand in ihrem Gesichtsfeld isolieren und den Wortlaut von anderen gleichzeitigen Geräuschen trennen, bevor sie zwischen beiden eine semantische Verbindung hersteilen kann. Was das Kind da isoliert und trennt, sind nicht Dinge an sich, sondern unter allen Umständen Teile seiner eigenen Erlebenswelt, die im Laufe weiterer Erfahrungen durchwegs mehr oder weniger geändert werden müssen, um mit dem Sprachgebrauch der Erwachsenen einigermaßen übereinzustimmen.

((41)) Michael Tomasello hat auf Grund von ausgedehnten, extrem sorgfältigen Entwicklungsstudien die oft verworrenen Pfade dargelegt, auf denen das Kind seine relative Anpassung an den allgemeinen Sprachgebrauch erreicht (Tomasello, 1992). Daß diese Anpassung eine allmähliche ist, sollte niemanden überraschen. Auch in fortgeschrittenem Alter entdecken wir alle von Zeit zu Zeit, daß wir das eine oder andere Wort unserer Sprache bisher stets in einer Weise verwendet haben, die von jener anderer Sprecher abweicht. Wir haben es vorher nicht bemerkt, weil die Situationen, in denen wir das Wort benutzten oder hörten, unsere Idiosynkrasie nicht zum Vorschein brachten.

((42)) Die Sozialpsychologen haben also völlig recht, wenn sie sagen, daß die Bedeutungen von Wörtern in der Gesellschaft ‘ausgehandelt’ werden. Wichtig ist jedoch die Einsicht, daß das letzte Ergebnis dieses fortlaufenden Handels Vereinbarkeit ist, d.h. Kompatibilität im Sinne der Anpassung, und niemals eine absolute Gleichheit. Denn selbst wenn ein Lehrer oder ein Wörterbuch uns den Gebrauch eines Wortes erklärt, so beruht die Bedeutung, die wir uns aufbauen, doch auf der Interpretation unseres eigenen Erlebens. Diese Bedeutung wird dann zweifellos im Laufe sprachlicher Unterhandlungen geschliffen, verfeinert und weiter angepaßt, doch das Material aus dem sie besteht ist und bleibt das Material der subjektiven Erfahrung.

Begriffsanalyse: Mehrheit und Identität

((43)) Auf dem Niveau der Begriffe, die nicht direkt aus Elementen der Wahrnehmung gewonnen werden können, beruht der Aufbau auf der Reflexion über mentale Operationen. Das klarste Beispiel, das ich bisher gefunden habe, ist die Konstruktion der Mehrzahl. Für Erwachsene ist es selbstverständlich, daß man angesichts einer Tasse den Singular des Wortes verwendet, und wenn es sich um mehrere handelt, den Plural. Die Unterscheidung der beiden Situationen wird zumeist als einfache Sache der Wahrnehmung betrachtet, das heißt als offensichtlich und ganz unproblematisch. Untersucht man jedoch genauer, wie ein Kind den richtigen Gebrauch von Ein- und Mehrzahl lernen kann, dann findet man, daß das Gewahrwerden einer Mehrheit mehr verlangt, als bloße Wahrnehmungen. Hat das Kind gelernt, eine bestimmte Kombination sensomotorischer Elemente als „Tasse“ zu bezeichnen, so kann es angesichts mehrerer dieser Gegenstände sagen: „Tasse, Tasse, Tasse, ...“[6]. Vielleicht sagt jemand: „Ja, das sind Tassen,“ und das Kind nimmt den phonetischen Unterschied des Wortes wahr. Vielleicht hat es die abweichende Pluralform auch schon im Gespräch Erwachsener bemerkt. - Aber was sagt ihm, wann die eine und wann die andere Form am Platz ist? Die Antwort liegt nicht in den wahrgenommenen Dingen, sondern im Bereich der Operationen, die der Wahmehmende ausführt. Um eine Mehrheit zu konstruieren, muß man merken, daß man ein und dieselbe Erkennungsprozedur, die einem den Gegenstand „Tasse“ liefert, mindestens zweimal ausgeführt hat. Die Pluralform des Wortes bedingt diese Wiederholung, denn sie bezieht sich nicht auf Elemente der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auf die Art und Weise, wie man Wahrgenommenes verbindet.

((44)) Alles Wissen stammt laut Piaget aus Handlungen. Auf der sensomotorischen Ebene sind es physische Aktionen, auf der begrifflichen mentale Operationen, die das Rohmaterial für Reflexion liefern. Was hier als Reflexion bezeichnet wird, schließt jedoch nicht unbedingt Bewußtsein ein.

... Handeln allein schafft ein selbständiges Wissen von erheblicher Macht, denn obgleich es lediglich „Wissen-wie“ ist und seiner selbst nicht bewußt im Sinne eines begrifflichen Verstehens, bildet es doch die Quelle dieses zweiten, wenn das stets nachhinkende Bewußtsein dann einsetzt. Doch das anfängliche Wissen ist äußerst wirksam, auch wenn es von sich selbst noch nichts weiß. (Piaget, 1974, p.275)

Piaget belegt dies mit einem treffenden Beispiel:

Im Lauf der Geschichte haben Denker gedankliche Strukturen benützt, ohne sie bewußt erfaßt zu haben. Ein klassisches Beispiel: Aristoteles hat die Logik der Beziehungen benützt, aber in der Konstruktion seiner eigenen Logik völlig ignoriert. (Piaget & Garcia, 1983, p.37)

((45)) Ein integraler Teil des konstruktivistischen Denkens ist die Entwicklung von Modellen, die mentalen Operationen entsprechen, die uns in unserer täglichen Erfahrung Begriffsstrukturen liefern, deren Ableitung uns zumeist unbewußt bleibt. Eine der wichtigsten unter diesen ist die Überzeugung der sogenannten ‘Objektpermanenz’, die wir bereits früh in unserer kognitiven Laufbahn aufgebaut haben. Die Herkunft der Idee, daß die meisten Gegenstände, mit denen wir unsere Erlebenswelt möblieren, existentielle Dauerhaftigkeit haben, wird zumindest oberflächlich dadurch verschleiert, daß die Ausdrücke „das gleiche“ und „dasselbe“ in der Umgangssprache austauschbar benützt werden. So kann zum Beispiel eine Frau ihrer Freundin entrüstet von einer Party berichten: „Stell Dir vor, die Irmgard kam in demselben Kleid wie ich!“; und der Sohn kann der Familie auf einer Ferienfahrt erklären: „Das ist das gleiche Auto, das uns schon vor dem Mittagessen vorgefahren ist.“ - Im ersten Fall sind es zwei Kleider, die sich in Bezug auf die Eigenschaften, die da maßgebend sind, nicht unterscheiden; im zweiten Fall hingegen handelt es sich um ein und dasselbe Auto. Anders ausgedrückt: Im ersten Fall wird auf Grund eines Vergleichs die Zugehörigkeit zweier Gegenstände zu einer bestimmten Klasse behauptet, im zweiten wird dem Gegenstand zweier zeitlich getrennter Erlebnisse individuelle Identität zugeschrieben.

((46)) Beide Operationsweisen sind wichtige Elemente im Aufbau der Begriffswelt. Indem wir Klassen bilden, ersparen wir es uns, jeden Gegenstand, den wir erleben, als Neuerscheinung zu untersuchen. Die Zuschreibung individueller Identität jedoch hat weiteneichende Anwendungen. Ohne sie könnten wir nicht von ‘Änderung’ sprechen, hätten also keinen Grund, nach Ursachen zu forschen und wären nie auf die Idee von der Erhaltung der Energie gekommen. Noch grundlegender scheint es mir, daß die Struktur der Objektpermanenz auch den Ursprung unserer Raum- und Zeitbegriffe beleuchtet. Um diese Behauptung zu erklären, möchte ich die Begriffsstruktur der Identität graphisch darstellen. Die Methode dieser Darstellung verdanke ich meinem jüngst verstorbenen Freund Silvio Ceccato, der bereits in den Fünfziger] ahren Sequenzen von ‘Momentaufnahmen’ in der semantischen Analyse verwendete.

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((47)) In diesem Diagramm bedeutet „f“ jeweils einen einzelnen Erlebensmoment (auf Englisch ist frame ein einzelnes Bild in einem Filmstreifen) und „X“ bedeutet ein als Gegenstand kategorisiertes Erlebnis. Die Momente sind statisch, und nur ein aktiver Verstand kann durch Reflexion in der Folge der Momente Beziehungen schaffen. Werden X( und X2 nun als Erlebnisse ein und desselben Gegenstandes betrachtet, so ergibt sich die Frage, wo dieser Gegenstand sich von f2 bis fn außerhalb des Aufmerksamkeitsbereichs befunden hat. Somit wird jenseits der Erlebnisfolge ein Bereich geschaffen, in dem permanente Objekte warten können, bis sie im Aufmerksamkeitsfeld des Erlebenden wieder auftauchen. Diesen Bereich habe ich ‘Protoraum’ genannt, denn er erhält die Struktur und Meßbarkeit des eigentlichen Raums erst, wenn das denkende Subjekt nicht nur eine Reihe von Objekten dort aufbewahrt, sondern auch die Beziehungen, die es im Erleben der Objekte zwischen ihnen aufgebaut hat.

((48)) Da die individuelle Identität, die Gegenständen zugeschrieben wird, Intervalle überspannt, die für den Erlebenden durch eine Folge anderer Erlebnissen gefüllt sind, müssen diese Identitäten sozusagen dehnbar gedacht werden. Das heißt, sie müssen die jeweiligen Intervalle überdauern. Diese Ausdehnung von Identitäten jenseits der Erlebenswelt schafft eine Dimension, die ich ‘Protozeit’ nenne und die dann durch die Projektion von tatsächlichen Erlebnisfolgen zum eigentlichen Begriff der Zeit wird. Die Projektion von Jahreszeiten, Tag und Nacht, und schließlich der regelmäßigen mechanischen Vorgänge von Uhren, verleihen dieser Dimension der Dauer Meßbarkeit.

((49)) Angesichts der vielen Diskussionen und empirischen Untersuchungen, die Piagets Idee der Objektpermanenz hervorgerufen hat, ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß dieses Element der kognitiven Entwicklung einem Subjekt nur dann zugeschrieben werden sollte, wenn es gezeigt hat, daß es sich das Objekt vorstdien kann, auch wenn es im gegenwärtigen Wahmehmungsbereich nicht vorhanden ist. Dieses Vorstellungsvermögen habe ich im Englischen re~presentation genannt. Der ungewohnte Bindestrich soll andeuten, daß es sich hier um die Rekonstruktion eines Erlebnisses handelt und nicht um die Spiegelung eines Stücks realer Welt. Dieser Unterschied wird besonders relevant, wenn man in philosophischen Texten oder Berichten der Artificial Intelligence auf das Wort „Repräsentation“ stößt, das fast immer realistische Voraussetzungen impliziert.

((50)) Die Rolle dieser Vorstellungen hat Piaget sehr gut beschrieben:

Durch die Tatsache, daß es in das System der Vorstellungen und der abstrakten oder indirekten Beziehungen eingeht, erlangt das Objekt einen endgültigen Grad der Freiheit im Bewußtsein des Subjekts: Es wird jetzt trotz aller Verlagerungen und zeitweiligem Verschwinden aus dem Wahmehmungsfeld als sich selbst identisch bleibend begriffen.[7] (Piaget, 1937, p.75)

((51)) Die Fähigkeit, sich ein abwesendes Objekt vorzustellen, ist eine Weiterentwicklung der Fähigkeit, ein Objekt als ein bereits erlebtes zu erkennen. Die beiden entstehen nicht mit-, sondern nacheinander. Daß die Folge keineswegs automatisch ist, scheint mir am besten dadurch belegt, daß wir eine ganze Menge von Leuten als Bekannte erkennen, wenn wir mit ihnen Zusammentreffen, aber unfähig sind, sie zu beschreiben, wenn wir sie nicht im Gesichtsfeld haben. (Das, was ich oben ‘Erkennungsmuster’ nannte, ist also bestenfalls eine Vorstufe und wird erst durch wiederholte Reflexion zu jener selbständigen Vorstellung, die zur Objektpermanenz nötig ist.)

((52)) Um auch die anderen Begriffe, die bereits Berkeley als mentale Konstrukte bezeichnete, auf meine Weise zu analysieren, möchte ich die Struktur der ‘Änderung’ graphisch darstellen. Auch dieser Begriff entspringt einer Folge von Erlebensmomenten, denn auf Grund einer einzigen Beobachtung kann man keine Änderung konzipieren. Man braucht mindestens zwei, zwischen denen man einen Unterschied feststellt. Nehmen wir an, ich sehe, daß der Apfel, den meine Frau mir vor zwei Tagen auf den Schreibtisch gelegt hat, nun angefault ist. Das Diagramm dieser Änderung sieht so aus:

EuS Bild52.png

((53)) Um zu sagen, daß der Apfel „X“ sich verändert hat, muß ich annehmen, daß er in beiden Beobachtungen derselbe war; wäre er es nicht, so müßte ich ‘Austausch’ denken, nicht ‘Veränderung’. Ist der Apfel an eine andere Stelle des Schreibtischs gerollt, so setzte ich statt der Eigenschaften im Diagramm die zwei verschiedenen Ortsbestimmungen ein, und dann zeigt es die ‘Ortsveränderung’ an.

((54)) Wenn ein Objekt im Laufe mehrerer Erlebnisse in gewisser Hinsicht unverändert bleibt, so kann ich die Fortdauer seines Zustands durch zwei einander folgende, aber ansonsten gleiche Momentaufnahmen anzeigen und so den Begriff der Dauer nahelegen. Verbinde ich das Element der Fortdauer an einem Ort mit der Beobachtung des identischen Individuums an einem anderen, so erhalte ich den Begriff der räumlichen ‘Ausdehnung’.

((55)) Daß die in diesen Diagrammen angedeuteten mentalen Operationen zumeist nicht bewußt registriert werden, läßt sich mit Hilfe von zwei ganz banalen Aussagen zeigen. Einmal sage ich zu einem Besucher: „Der Zug geht direkt von hier nach Boston“, ein andermal,.Diese Straße geht nach Boston.“ Normalerweise wird weder mir noch ihm dabei bewußt, daß der Zug nur jeweils an einem Ort sein kann, während die Straße als an beiden Orten zugleich gedacht wird

((56)) Ich hoffe, diese Beispiele genügen, um zu zeigen, daß diese Art der Zerlegung in der Herstellung von Modellen der Begriffskonstruktion und somit der Wortbedeutungen überaus brauchbar ist.

Zusammenfassung und Gebrauchsanweisung

((57)) Im konstruktivistischen Denken wird der Begriff der ontischen Wahrheit aufgegeben. Da die Argumente der Skeptiker die naturgetreue Spiegelung oder Repräsentation einer Realität logisch ausschließen, gründet sich dieses Denken auf Piagets Einsicht, daß die kognitive Aktivität nicht die Aufgabe hat, die Welt zu ‘erkennen’, sondern darin liegt, das physische und mentale Gleichgewicht des Organismus durch Anpassung zu erhalten. Diese Anpassung fuhrt nicht zur Kenntnis objektiver Sachverhalte, sondern zur Entwicklung von Handlungs- und Denkweisen, die sich in der Erlebenswelt als viabel erweisen. Das Repertoire von Handlungen und Operationen ist das Wissen, das kognitive Subjekte im Rahmen ihrer Erlebensbereiche konstruieren.

((58)) Auf Grund dieser epistemologischen Voraussetzungen lassen sich einige Schlußfolgerungen ziehen: - Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, daß wir sie nicht rational erfassen können. - ‘Wirklichkeit’ ist die Welt, die wir erleben, und aus ihr allein leiten wir, auf die uns eigene Weise, Ideen und Dinge ab, sowie die Begriffe der Beziehungen, mit denen wir Verbindungen hersteilen und Theorien aufbauen, die es uns erlauben, mehr oder weniger viable Erklärungen und Vorhersagen in unserer Lebenswelt zu formulieren. - Der Begriff der Viabilität ersetzt jenen der ontischen Wahrheit; das heißt, die Bestätigung des Wissens wird nicht in einem unmöglichen Vergleich mit der Realität gesucht, sondern in seiner Brauchbarkeit angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen. Daraus folgt, daß die Lösung eines Problems nie als die einzig mögliche betrachtet werden darf; es mag die einzige sein, die wir zur Zeit kennen, aber das rechtfertigt niemals den Glauben, unsere Lösung gewähre uns Einsicht in die Struktur einer von uns unabhängig existierenden Welt. - Dieser letzte Punkt betrifft notwendigerweise auch den Konstruktivismus selbst. Wie alle Theorien, beruht er auf Voraussetzungen, doch er hütet sich, diese Voraussetzungen, seien sie bewußt oder unbewußt, als ontologische Gegebenheiten zu betrachten. Sie werden als Annahmen gedacht, um Modelle zu bauen, die sich in der Welt des Erlebens bewähren sollen.

((59)) Die konstruktivistische Orientation hat zu einer Reihe von Anwendungen geführt. Einige Ergebnisse der Begriffsanalyse habe ich hier erwähnt. Konstruktivistische Ansätze sind heute ein Gemeinplatz in der Didaktik und der Familientherapie und die jeweilige Literatur bietet unzählige Ausführungen. Der Leser dieses Artikels wird selbst beurteilen müssen, inwieweit sie mit den hier beschriebenen Grundsätzen übereinstimmen.

((60)) Für mich liegt das wichtigste Anwendungsgebiet des Konstruktivismus im täglichen Leben. Mit dem Verzicht auf objektive Wahrheit verliert alles Rechthaberische seinen Sinn. Wenn man keinen Grund mehr hat zu behaupten, man wisse wie dies oder jenes ist, versteht man leichter, daß andere ihre Wirklichkeit nicht so sehen müssen, wie man die eigene sieht. Man kann zwar darüber diskutieren, ob die eine oder andere Handlungs- oder Denkweise voraussichtlich zu dem gemeinsam erwünschten Ziel fuhren wird oder nicht, aber man bleibt sich der Tatsache gewahr, daß die Frage letztlich nur in der Praxis entschieden werden kann.

((61)) Das Zusammenleben mit anderen wird erheblich leichter und reibungsloser, wenn man sich vor Augen hält, daß die Vorstellung, die man von ihnen hat, ausnahmslos aus eigenen Erfahrungen stammt, die man mit ihr oder ihm gemacht hat, und darum letzten Endes eine Frage der subjektiven Interpretation ist. So manche Unstimmigkeit läßt sich auflösen, wenn man sich vor Augen hält, daß alles, was gesagt, gesehen oder gefühlt wird, auf mehr als eine Weise interpretiert werden kann, und man darum zu anderen nicht sagt: „Du bist ...“, sondern „Ich sehe Dich so...“.

((62)) Einige Kritiker haben behauptet, der Konstruktivismus sei gefährlich, weil er Verirrungen, wie zum Beispiel dem Nazismus, nichts entgegensetzen könne (vgl. Matthews, 1993). Darauf erwidere ich, daß keine rationale Wissenstheorie im Laufe der Menschheitsgeschichte ethische Grundsätze bilden oder begründen konnte und dadurch Verbrechen an Volksgruppen und Einzelnen verhindert hat.

((63)) In diesem Zusammenhang möchte ich jedoch zu bedenken geben, daß der Konstruktivismus aus rein epistemologischen Gründen Toleranz verlangt und zudem zur Entwicklung von Verhaltensregeln zwei Argumente liefert, die mit Kants kategorischem Imperativ vereinbar sind: Erstens stellt er fest, daß alle Individuen für ihr Handeln und Denken verantwortlich sind, und zweitens zeigt er, indem er jede Berufung auf eine absolute Wahrheit grundsätzlich widerlegt, daß die Viabilität von Gesetzen und Beschränkungen der individuellen Freiheit in der Gesellschaft ausgehandelt werden muß.

((64)) Zum Abschluß möchte ich etwas noch einmal hervorheben, was von Kritikern bisher zumeist übergangen wurde: Der radikale Konstruktivismus darf nicht als Beschreibung einer realen Welt betrachtet werden. Er macht keinerlei ontologische Behauptungen, sondern schlägt lediglich ein Denkmodell vor, das anschaulich machen kann, wie wir zu Vorstellungen und Wissen von der Erfahrungswelt kommen, in der wir leben. Diese Denkweise macht keinen Anspruch auf ‘Wahrheit’ im philosophischen Sinn, denn ihr Wert kann sich nur in der Praxis denkender Individuen erweisen.

Anmerkungen

Literatur

Berkeley, G. (1706-1708). Commonplace Book. London: Faber & Faber, 1930 (später veröffentlicht als Philosophical commentaries in A. A. Luce & T. E. Jessop, Hg., 1950, Bd. I.).

Bruner, J. (1986). Actual minds, possible worlds. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.

Diels, H. (1957). Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg: Rowohlt.

Einstein, A. & Infeld, L. (1950). Die Evolution der Physik. Wien: Paul Zsolnay.

Eriugena, J. S. (9. Jrh.). Periphyseon, Übersetzung von Sheldon-Williams, zitiert in R. Kearney (Hg.) (1985) The Irish Mind, Dublin: Wolfhound Press.

Glasersfeld, E. von (1996). Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt: Suhrkamp.

Gruber, H. E. & Vonèche, J. J. (Hg.) (1977). The essential Piaget. London: Routledge & Kegan Paul.

Haller, R.& Stadler, F. (Hg.) (1988). Ernst Mach: Werk und Wirkung. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky.

Hume, D. (1742). Philosophical essays concerning human understanding. London: Millar (in 1758, nach der 4.Auflage, wurde das Werk An enquiry concerning human understanding betitelt).

Kearney, R. (Hg.) (1985). The Irish Mind. Dublin: Wolfhound Press.

Mach, E. (1917). Erkenntnis und Irrtum. Leipzig: J.A.Barth (3rd edition).

Matthews, M. R, (1993). Constructivism and Science education: Some epistemological problems. Journal of Science Education and Technology. 2 (1), 359-370.

Locke, J. (1690). An Essay Concerning Human Understanding (A.C. Fraser, Hg. New York: Dover, 1959).

Piaget, J. (1937). La construction du réel chez l'enfant. Neuchatel: Delachaux et Niestlé.

Piaget, J. (1974). La prise de conscience. Paris: Presses Universitaires de France.

Piaget, J. & Garcia, R. (1983). Psychogenèse et histoire des Sciences. Paris: Flammarion.

Powers, W. T. (1973). Behavior: The Control of Perception. Chicago: Aldine.

Shannon, C. E. (1948). The mathematical theory of communication. Bell Systems Technical Journal, 27, 379-423 & 623-656.

Tomasello, M. (1992). First verbs. Cambridge, UK: Cambridge University Press.

Wiener, N. (1965). Cybernetics. Cambridge, Massachusetts: M.I.T.Press (first published 1948).

Kritik

Marco Bettoni – Dialog über Wissenstheorie[8]

τω καλω παντα τα καλα [γγνεται] καλα
Plato, Phaidon, [100δ]

((1)) Vor den Toren Athens, auf dem Weg nach Megara] ROBERT: O lieber Rolf, woher denn und wohin[9]? ROLF: Vom Marktplatz, o Robert, und ich gehe lustwandeln hinaus vor die Stadt mit diesem Fremden.
ROBERT Ganz gut tust du daran, lieber Freund. Und du, willkommen unter uns, Fremder. Woher kommst du, und wie heisst du?
FREMDER: Ich heisse Marco, komme aus Abdera, und bin ein Freund derer, die sich zu Emst von Glasersfeld und Silvio Ceccato halten.
ROBERT: Was habt ihr denn nun vor?
ROLF: Du sollst es erfahren, wenn du Musse hast, mitzugehen und mitzureden. [Sie gehen zu dritt weiter)
ROBERT: So redet nun.

ROLF: ((2)) Wir sprachen soeben über Ernst von Glasersfelds (EvG) kurze Zusammenfassung seiner Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie. Von unserem Fremden, der seit 13 Jahren mit ihm befreundet ist, möchte ich gern vernehmen, wie er diesen Text verstanden hat. Mir ist nämlich vorerst vieles unklar geblieben, am allermeisten was mentale Operationen sind.

FREMDER: ((3)) Dein Wunsch freut mich sehr, o Rolf, denn unter den 4 Quellgebieten aus denen Emst von Glasersfeld Denken erwuchs ((3)), ist jenes der Analyse mentaler Operationen dasjenige, welches ihn am engsten mit seinem (und meinem) kürzlich verstorbenen Freund und Meister Silvio Ceccato verbindet ((46)). Weiter sind EvGs Begriffsanalysen ((43-56)) vorzüglich dazu geeignet, eine fundamentale Lücke in Maturanas Biologie der Kognition[10] zu füllen: die Entwicklung von generativen Mechanismen, deren Operieren Unterscheidungen hervorbringt. So wie ich den Text verstehe, betrachtet EvG mentale Operationen als Handlungen auf der BEGRIFFLICHEN Ebene (bzw. im begrifflichen Bereich auf der Ebene der kognitiven Funktionen) welche, zusammen mit physischen Handlungen auf der SENSOMOTORISCHEN Ebene (bzw, im sensomotorischen Bereich auf der Ebene der physischen Funktionen) alles Wissen hervorbringen ((44)). Dabei versteht er Wissen nicht als enzyklopädisches Archiv, sondern durchaus dynamisch, nämlich als „Repertoire von Handlungen und Operationen“ ((57)). Er präzisiert weiter, dass „mentale Operationen uns in unserer täglichen Erfahrung Begriffsstrukturen liefern“ ((45)) und beschreibt als Beispiele die mentalen Operationen der Begriffe Mehrzahl ((43)), Objektpermanenz ((45)), Identität ((45-47)), Änderung ((52)), Dauer und Ausdehnung ((54)).

ROLF: ((4)) Du siehst, lieber Robert, unser Freund aus der Fremde ist sich der Sache so gut bewusst, dass er sie noch mehr zusammenfassen kann. Wir aber, die wir den Anschluss an die Schule der italienischen Operationalisten noch nicht haben, müssen wohl hartnäckig fragen, bis auch wir klarer sehen. Oder sind diese Redeweisen in Deinen Ohren bereits viabel?

ROBERT ((5)) Zunächst bin ich dankbar für die zusammenfassenden Äusserungen unseres Freundes auf Deine so gewichtige Frage, lieber Rolf. Dann bleibt auch mir in dieser Rede vieles unklar, doch der rechte Weg zur Klarheit scheint mir ungewiss. Hartnäckiges Fragen ist nicht meine Sache, dies überlasse ich gerne Dir. Ich kann die Redeweise, mentale Operationen könnten analysiert werden, nicht so auffassen, als ob es so etwas wie mentale Operationen tatsächlich gäbe. Was es für mich gibt, sind unsere Äusserungen. Der Ausdruck Operation für sich genommen und als formaler Begriff betrachtet, gehört zu meinem Wortgebrauch. Für mich, der ich nicht weiss, was das Mentale ist, bleibt aber unerhört, dass eine Operation mental sein kann. Da helfen mir auch die Ersatzreden nicht, wie beispielsweise die, mentale Operationen könnten als Handlungen auf der begrifflichen Ebene betrachtet werden. Zwar ist mir der Ausdruck Handlung so vertraut, wie der des Begriffs oder der Ebene, doch wozu die Äusserung begriffliche Ebene passt, ist mir schleierhaft. Was fragen wir unseren Freund?

ROLF: ((6)) Die Fragen - scheint mir - sind nach Deiner Rede gestellt. Ich bin sehr gespannt, wie unser Freund aus Thrakien im von uns vorgeschlagenen Sprachspiel operiert.
FREMDER: O Rolf, eine gewisse Scham ergreift mich doch, dass ich, zum ersten Male unter euch, bereits über derart grundlegende Fragen, wie sie Robert formuliert hat - die einer gar langen Auseinandersetzung bedürfen - mich ausbreitend reden darf. ROBERT: Tu also so, o Fremdling, und du wirst, wie Sokrates sagte, „allen gefällig sein“.

FREMDER: ((7)) Zunächst möchte ich hervorheben, dass EvG seinen Ansatz als Denkmodell versteht ((64)). Genauso wie er, betrachte auch ich alles was ich hier sage nicht als Beschreibung einer realen Welt, nicht als Behauptung über das „Sein“ oder die „Essenz“ von etwas, sondern lediglich als geordnetes, kohärentes und konsistentes System von Begriffen. Deshalb kann ich die Fragen „Was ist das Mentale?“ und „Kann eine Operation mental sein?“ so nicht beantworten, wohl aber in der abgewandelten Formulierung „Was betrachtest du als das Mentale?“ und „Was betrachtest du als mentale Operationen?“, Sollen wir uns also auf diese veränderte Form der Fragen einigen oder hast du, o Robert, andere, besser passende Formulierungen für deine Fragen? ROBERT: Die habe ich nicht.

FREMDER: ((8)) Wohlan denn, schreiten wir also gemeinschaftlich zur Untersuchung. Wir Menschen können wahrnehmen (sehen, hören, riechen, schmecken, usw.), merken, denken, erinnern, vorstellen, und vieles derartiges mehr. Manchmal ist es praktisch, all diese Tätigkeiten von den physischen und affektiven Tätigkeiten zu unterscheiden, und sie alle zusammen einer gedachten Einheit als ihre Funktionen zuzuoidnen. Diese Funktionseinheit (System oder Teilsystem) nenne ich dann lateinisch „mens“, Italienisch„mente", auf englisch „mind“ und alles, was ich mit dieser Einheit verbinde, bezeichne ich mit „mental“. Mentale Operationen sind also für mich die Operationen der gedachten Funktionseinheit „mente“. Deutsch und (sinngemäss französisch) kann „mente“ nur mit etwas wie „kognitives System“ übersetzt werden; wir sprechen deshalb häufig von kognitiven Operationen wo wir mentale meinen. Ich gebe zu, dass die Redeweise von den Ebenen keine weitere Erkenntnis bringt, sondern nur der Anschaulichkeit dient - was sich bei eurer lobenswerten Pedanterie gar als kontraproduktiv erweist.

ROBERT ((9)) Es bliebe dann noch zu klären, was EvG unter „begrifflich“ versteht bzw. wie er „begrifflich“ und,mental“ unterscheidet.

ROLF: ((10)) Lass mich zuerst etwas sagen: Einiges sehe ich nun dank der Rede unseres Freundes in ganz neuem Licht. In der naiven Annahme, der Ausdruck „Konstruktivismus“ sei Omen nicht nur Nomen, dachte ich irrigerweise immer, hier sei von materiell konstruierbaren Systemen die Rede. Nun komme ich aber nicht mehr umhin festzustellen, dass EvG offenbar ganz in der Tradition der Artificial Intelligence von funktional differenzierten oder, wie unser Freund aus Thrakien sagt, von (aus-)gedachten Systemen spricht Operationen werden dabei mittels einer gedachten Blackbox „erklärt", während es in den konstruktiven Wissenschaften ja gerade darum geht, Maschinen zu konstruieren, die das Verhalten einer Blackbox erklären. Klärungsbedürftig sind meiner Vorstellung nach nicht die .mentalen“ Operationen, sondern Konstruktionen, die solche Operationen ausführen können. Ich erinnere mich dabei, dass Robert über die Redeweise „Erzeugen von Phänomenen“ schon ganz sinnvoll nachgedacht hat. Vielleicht sollte er seine Erkenntnisse hier anfügen, bevor wir weiterfahren?
FREMDER: Das wäre ja vortrefflich. Also, o lieber Robert, bescheide uns nicht abschlägig, da wir eben diese Gunst von dir erbitten.

ROBERT: ((11)) Ich weiss nicht genau, worauf Rolf hinaus will. Ich erinnere mich lediglich an ein Gespräch über eine uns wohl vertraute Stelle des Konstruktivisten Maturana, der da sagt, dass jeglicher Versuch, ein Phänomen wissenschaftlich zu erklären, in der Tat darin bestehen muss(te), einen Mechanismus zu entwickeln, der das zu erklärende Phänomen erzeugt(e)“[11]. Diese Äusserung scheint zunächst mit dem von Rolf Gesagten übereinzustimmen, nämlich, dass nicht Operationen, sondern Konstruktionen oder - in der Redeweise Maturanas - Mechanismen als Erklärungen dienen. Nun wissen wir, dass Maturana als Biologe sich nicht mit artefaktischen Mechanismen, sondern mit natürlichen Organismen beschäftigt. Dies zeigt sich auch in seinem Wortgebrauch, denn er will einen Mechanismus entwickeln, der ein „Phänomen erzeugt“. Ein Artefakt aber, erzeugt keine Phänomene, wenn “Phänomen” erfahrene Wahrnehmung bedeutet. Wir sind es, die Phänomene erzeugen, wobei der Ausdruck „erzeugen“ sehr genau passt, weil er auf das natürbche, nicht-artifizielle jeder Zeugung verweist. Wir aber können unsere Phänomene, genauso wie unsere Kinder nur mit ausgedachten Mechanismen (er- )zeugen, und es wird uns nie gelingen, dafür echte Erklärungen im Sinne von konstruierten, also trivialen Maschinen zu haben.

FREMDER: ((12)) O liebe Freunde, eure Rede klingt sehr subtil und durchdacht, aber ich für mich sehe vieles ganz anders. So wie ich den Text von EvG verstehe, geht es der Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie darum, Wissen als "interne Konstruktion” aufzufassen ((1)) sowie brauchbare Modelle der Vorgänge (der Mechanismen) des internen Konstruierens von Begriffen zu entwickeln ((56)) und nicht darum, diese Wissensmodelle als materielle Konstruktionen zu bauen oder „Operationen mittels einer Blackbox zu erklären”. Die Blackbox „kognitives System“ dient nicht dazu, Operationen des Konstruierens zu „erklären“ sondern umgekehrt: die von EvG beschriebenen Vorgänge (mentale Operationsfolgen) des internen Konstruierens von Begriffen sind Erklärungen (der Arbeitsweise) des “kognitiven Systems”. Erklärungsbedürftig sind also zuerst Begriffe - und somit Wortbedeutungen ((56)) - und diese werden in EvGs „Begriffsanalyse“ ((43-56)) mit generativen Mechanismen erklärt, deren Operieren die zu erklärenden Phänomene - nämlich jene formalen Begriffe, „die nicht direkt aus Elementen der Wahrnehmung gewonnen werden können“ ((43)) - erzeugen. In diesem Sinne ist z.B. der von EvG entwickelte Mechanismus der Mehrzahl eine Erklärung für den formalen Begriff “Mehrzahl” ((43)): erst durch die mentalen Operationen der Mehrzahl werden Dinge für uns mehrzahlig, so wie erst durch die mentalen Operationen des Schönen die - für uns - schönen Dinge schön werden[12]. So kann die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie mit Maturanas naturwissenschaftlicher Theorie des Wissens mühelos kombiniert werden und dabei eine fundamentale Lücke füllen, nämlich erklären, wie der Beobachter seine “Unterscheidungen” (z.B. etwas als Mehrzahl zu betrachten) macht. Erst nachdem Begriffe als generative Mechanismen entwickelt worden sind, verfügen wir über Erklärungen des Verhaltens der Blackbox „kognitives System“: Deshalb ist eine Begriffsanalyse, wie sie EvG vorschlägt, die Voraussetzung dafür, dass „konstruktive Wissenschaften ... Maschinen konstruieren“ können, „die das Verhalten der Blackbox erklären“, wie Rolf sagte. Um eine Maschine oder ein Organ zu bauen oder zu analysieren, muss nämlich immer zuerst die Funktion (der Funktionsbaum der generativen Mechanismen) spezifiziert werden. Da ist nun aber etwas, worüber ich zweifelhaft bin und was ich im Text von EvG nicht hinreichend ergründet finde: diese generativen Mechanismen - Operationsweisen ((46)) -, deren Operieren die Begriffe erzeugen, wie weit (wie detailliert, wie umfassend) sollen und können wir sie entwickeln, bevor wir damit anfangen, sie in einem Artefakt zu realisieren?

ROLF: ((13)) Beim Zeus, o Fremder, deine Frage und deine vorangehende Rede wundem mich sehr! Wo wollt ihr nun, dass wir uns setzen, um darüber weiter zu reden? ROBERT: Hier, lass uns ablenkend am llissos hinuntergehen und dann, wo es uns gefallen wird, uns einsam niedersetzen. [Sie verlassen die Hauptstrasse nach Megara, gehen den llissos entlang und legen sich auf dem Rasen unter einer grossen Platane nieder]
FREMDER: Bei der Here! Dies ist ein schöner Aufenthalt. Denn die Platane selbst ist prächtig belaubt und hoch und des Gesträuches Höhe und Umschattung gar schön, und so steht es in voller Blüte, dass es den Ort mit Wohlgeruch ganz erfüllt. Doch, o liebe Freunde, warum schweigt ihr nun?

Anmerkungen und Literatur

Michael Drieschner – Was ist die Wirklichkeit nun wirklich?

((1)) Ich möchte hier nur auf einen, allerdings fundamentalen Gesichtpunkt eingehen, den der Wirklichkeit. Meine Position, die von Ernst von Glasersfelds etwas abweicht, fasse ich so zusammen: Wir konstruieren unsere Wirklichkeit nach Viabilitäten selbst; aber die so konstruierte Wirklichkeit ist dann auch die Wirklichkeit, es gibt keine andere “hinter” ihr.

((2)) Sehr plausibel ist mir, wie Glasersfeld in seinem Radikal-Konstruktivistischen Ansatz zeigt, daß wir uns die Wirklichkeit um uns herum selbst konstruieren, und zwar nach unseren Bedürfnissen für das Überleben - im weitesten Sinn. Wir wären nicht in der Lage, eine etwa angenommene an sich vorhandene Welt als solche unmittelbar aufzunehmen. Schon sehr viel weniger plausibel ist mir der Skeptizismus, den Glasersfeld mit diesem Radikal-Konstruktivistischen Ansatz verbindet. Und noch viel weniger plausibel ist mir alles das, was Glasersfeld zu einer “ontologischen Realität” ((58)) oder “Wahrheit und ‘Wahrheit im philosophischen Sinn’” ((64)) sagt.

((3)) Wir konstruieren, mit Hilfe unseres Nervensystems und dem damit zusammenhängenden eigenen Leib die Wirklichkeit so, daß sie uns “viables” Verhalten ermöglicht: Wir konstruieren sie so, daß wir z.B. beim Gehen nicht anstoßen. Unsere Fähigkeiten auf diesem Gebiet sind so gut ausgeprägt, daß wir uns auf diese Weise eine sehr komplexe Wirklichkeit konstruieren, die nicht nur Gegenstände enthält, um die wir herumgehen müssen, sondern - wie es Glasersfeld beschreibt - ein System von kognitiven Theorien, bis hin zu einem höchst komplexen sozialen System. Dieses System kann sich bewähren, und es wird sich wegen seiner Konstruktion aufgrund von Viabilitäten im allgemeinen auch bewähren; wo es sich nicht bewährt - wo vermeintliche Viabilitäten sich als falsch erweisen -, können wir es korrigieren. Die so von mir konstruierte Realität ist aber - Glasersfeld scheint das zu bezweifeln - die Realität. Es ist nicht zu sehen, was eine andere, meinetwegen “ontologische” Realität, wie Glasersfeld sie einführt, daneben noch soll. Diese weitere Realität käme in die Nähe von Kants “Ding an sich”: Nach Kant können wir die Welt nur so erkennen, wie sie uns erscheint; wir könnten über Erscheinungen manches sagen, “niemals aber das Mindeste von dem Dinge an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegen mag” (KrV 46, zitiert nach Glasersfeld 1987). Kant beschreibt die Welt der Erscheinung so ausführlich und überzeugend, daß man ihm schließlich gar nicht mehr recht abnimmt, daß dahinter ein unerkennbares Ding an sich sein muß - etwas, worüber man ohnehin nichts sagen kann.

((4)) Wenn wir "radikal” genug damit Ernst machen, daß wir so die Wirklichkeit konstruieren, dann sind wir auch wieder legitimiert, von einer objektiven Beschreibung der Welt zu sprechen, wie sie ein Beobachter dieser Welt geben würde. Wie würde man denn im Radikal-Konstruktivistischen Bild die von der Naturwissenschaft beschriebene objektive Welt ansiedeln? - In der Sicht des radikalen Konstruktivismus kann das ja auch nur eine Konstruktion sein, vielleicht etwas raffinierter als die von mir allein erzeugte, von hohem sozialen Konsens getragen, aber eben doch auch Konstruktion. In dieser Konstruktion käme nun u. a. eine Beschreibung von Nervensystemen vor, z. B. Ernst von Glasersfeld, wie er sich seine Umwelt entsprechend seiner neurophysiologischen Ausstattung und nach Maßgabe seiner Viabilitäten konstruiert; so, wie er es eben wirklich macht. Diese Beschreibung ist legitim als Teil meiner Konstruktion der Welt (über die ich mich mit anderen verständigen kann). - Dann bekommt sogar die “Korrespondenztheorie der Wahrheit” einen guten Sinn: Wenn G.s Konstruktion, wie er sie mir mitteilt, mit meiner Konstruktion an der betreffenden Stelle übereinstimmt, dann ist G.s Mitteilung (soweit ich es beurteilen kann) wahr. Dies trifft dann auch auf die Radikal-Konstruktivistische Sicht selber zu: Was E. v. Glasersfeld in seinen Schriften behauptet und m. E. ganz plausibel darstellt, ist Teil unserer gemeinsamen Konstruktion von Wirklichkeit, über deren Wahrheit wir uns verständigen können. - Wenn er aber am Schluß seines Aufsatzes schreibt: “Diese Denkweise hat keinen Anspruch auf ‘Wahrheit’ im philosophischen Sinn", dann entzieht er sich damit m. E. auf unfaire Weise der Härte der Diskussion. Denn in Wirklichkeit behauptet er ja zweifellos im Ernst das, was er behauptet; er beansprucht also, daß seine Behauptungen wahr seien - was sonst sollte Wahrheit bedeuten, in welchem “philosophischen Sinn” auch immer. Und die Wahrheit besteht hier darin, daß die Konstruktion, die er leistet, Teil der Wirklichkeit ist - nämlich der Wirklichkeit, die u.a. ich mir konstruiere, dabei aber getragen vom Netz der sozialen Zustimmung der scientific community, die ihrerseits, zweifellos, Teil der von mir konstruierten Wirklichkeit ist.

((5)) In diesem Zusammenhang sehe ich jedenfalls keinen Grund für eine besondere Skepsis. Denn wenn ich weiß, daß meine Wirklichkeit, die um mich herum ist, von mir in der von Glasersfeld beschriebenen Weise konstruiert ist, kann ich umso besser beurteilen, inwiefern sie verläßlich ist und inwiefern vielleicht nicht. Wenn ich ohnehin zur Skepsis neige, dann gibt mir diese Einsicht vielleicht einen Zugang zur besseren Prüfung der Wahrheit meiner Beschreibung; und wenn ich ohnehin nicht von Skeptizismus geplagt bin, dann gibt mir diese Einsicht auch keinen neuen Grund, mich von Stund an demselben hinzugeben.

Literatur

Glasersfeld E. v. (1987), Wissen ohne Erkenntnis. In: Pasternack G. (Hg,), Philosophie und Wissenschaften: Das Problem des Apriorismus. Frankfurt etc. (Lang)

Peter Faulstich – Viabilität statt Wahrheit? - Biologie statt Ontologie?

((1)) “Radikal-Konstruktivismus” wird auch in der Pädagogik und der Erwachsenenbildungswissenschaft breit rezipiert und hat sich zu einer einflußreichen Tendenz stilisiert (Arnold/ Siebert 1995). Fast hat die Attraktivität schon zu einer Dominanz gegenüber anderen eher auf dem Rückzug befindlichen Strömungen - wie zum Beispiel der lange einflußreichen “kritischen Theorie" - geführt. Gleichzeitig gibt es eine manchmal polemisch vorgetragene Skepsis, die sich - mit Ausnahmen - in kurzem Schlagabtausch erschöpft {Faulstich 1996). Dies wird sicherlich der “konstruktivistischen” Erwachsenenbildung nicht gerecht, resultiert aber gleichzeitig auf der Schwierigkeit, daß die zu diskutierenden Fragen keineswegs oder höchstens teilweise fachimmanent diskutierbar sind, sondern zwangsläufig generelle wissenschaftstheoretische Probleme aufwerfen.

((2)) Es ist auch deshalb schwierig, sich mit “dem" “Konstruktivismus" auseinanderzusetzen, weil er sich als Konglomerat verschiedenster Theoriefragmente zusammensetzt, Ernst von Glasersfeld durchstreift “vier Quellgebiete” ((3)) - den epistemologischen Untergrund, die Evolutionstheorie, die Kognitionstheorie und die Kybernetik die in seiner Sicht konvergieren. Es ist geradezu kennzeichnend, daß beansprucht wird, ein neues “Paradigma” als Basis verschiedenster Disziplinen konzipiert zu haben. Behauptet wird, gerade der “Radikale Konstruktivismus” habe “sich als Ferment zur Entwicklung einer empirisch begründeten Alternative zum neuzeitlichen Wissenschaftspositivismus erwiesen” (Schmidt 1987,7/8). Es wird eine hohe Ambition entfaltet, nämlich die zentralen Forschungsinteressen der Einzelwissenschaften in einem interdisziplinären Diskurs zu bündeln. Die Themen allerdings stammen zunächst vorrangig aus Biologie und Psychologie sowie einer dahinterstehenden Systemtheorie. Deren Schlüsselbegriffe sind Selbstreferentialität und Selbstorganisation, Evolution und Autopoiesis, Kontingenz und Viabilität. Mit diesem Sprachspiel haben Biologen, Neurologen, Physiologen, Psychologen, Soziologen, Ethnologen, Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaftler, Juristen, Betriebswirte, Pädagogen u.a. die Probleme ihrer Disziplinen »formuliert. Dabei ist durchaus zu konstatieren, daß die Übersetzung alter Fragen in neue Begriffe veränderte Sichtweisen und auch Einsichten ermöglicht. V. G. bezieht einen “engagierten Gesichtspunkt” und bekennt sich dazu, “der Konstruktivismus wolle einen.... großen Teil der herkömmlichen Weltanschauung untergraben." (1995,16). Riskant wird aber, wenn sich die Wörter ablösen von den realen Problemen der Wissenschaften und versehen mit dem Pathos des “Neuen” zu einer Publikationsstrategie theorieimmanenter Themenkonjunkturen verkommen.

((3)) Allerdings wäre eine solche Kritik “radikal-konstruktivistisch” eigentlich so gar nicht formulierbar, weil die Diskrepanz zwischen “realen Problemen” und “theorieimmanenten Themen” streng genommen nicht durchhaltbar ist, sondern gerad ein Frage gestellt wird. Im Kern ist Konstruktivismus ein erkenntnistheoretisches Programm; v. G. konzentriert sich konsequenterweise zunächst auf seine “epistemoiogische Stellungnahme” ((1-22)) mit den vier Quellen von Theorietraditionen: Skeptizismus, biologische Evolutionstheorie, Piaget und Kybernetik. Schon hier wäre zu fragen, ob hinter diesem Eklektizismus tatsächlich eine Theoriekonvergenz konstruiert werden kann.

((4)) Es wird aber zunächst grundsätzlicher, indem der Erkenntnisbegriff aufgegriffen wird. Dabei setzt sich v.G, ab gegen repräsentationstheoretische Positionen, welche eine “Welt an sich” erkennen wollen: Allerdings bleibt der Gegner eher im Schatten, weil unklar bleibt, wer mit “der herkömmlichen Erkenntnistheorie” ((1)) gemeint ist und nicht benannt wird, wer denn heute noch eine solch naive Vorstellung ernsthaft vertritt- Eine derartige von v.G. als „traditioneller Begriff von Erkenntnis“ unterstellte Hoffnung ist schon lange, schon – wie v.G. selbst zitiert – seit den Vorsokratikern aufgegeben. Als Zentrum der eigenen Überlegungen wird dann formuliert: “Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder ‘Repräsentation’ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet wenden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” ((1)). In dieser Formel und vor allem in dem rigorosen “nicht ... sondern” stecken alle komplizierten Probleme einer zweieinhalbjahrtausende alten Debatte um das Verhältnis von Sein und Bewußtsein und diese verworrenen Knoten scheinen nun mit dem Schwert radikal-konstruktivistischer Pose durchgehauen. Spätestens hier wäre zu fragen, ob dies nicht die Subjekt-Objekt-Dialektik auf neuer Ebene reproduziert, indem man sich auf die Seite des Subjekts schlägt und damit das eigentliche Problem, nämlich das der Vermittlung, ausblendet.

((5)) In v.G.s Rekurs auf die skeptizistische Tradition wird gerade deutlich, daß der “naive Realismus”, der als Gegner des Konstruktivismus im Schattenboxen aufgebaut worden ist, nie unangefochten galt. Der Bruch mit dem Unmittelbaren ist Ursprung aller Philosophie, unbestritten in der von v.G. pointierten Diskussionslinie von Xenophanes, über Lokke, Hurne und Berkeley bis Kant ((6-20)). Diese werden umstandslos in der Ahnenreihe des Konstruktivismus inventarisiert. Bemerkenswert ist, daß der große Bogen nicht weitergezogen wird. Eine Auseinandersetzung mit Fichte oder gar mit Hegel findet nicht statt (mit Marx sowieso nicht), obwohl gerade hier - bei den dialektischen Denkern - bezogen auf die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Geist der eigentliche Gegner steht. Die “Phänomenologie des Geistes” läßt sich als weit früher schon dagewesener Gegenentwurf lesen, Hegels Thema und das aller Dialektik ist das Selbst, das zur Erkenntnis kommt, das Subjekt, das in lebendiger Bewegung mit dem Objekt sich durchdringt. Hier erst, bei einem solchen Rückgriff, findet man eine hinreichende Basis für eine Kritik am "radikalen Konstruktivismus”, der eine falsche Eindeutigkeit herstellen will und sich letztlich einsperrt in das Gefängnis individuellen Bewußtseins.

((6)) Unterhalb eines solchen hochgesteckten Anspruchs, nämlich sich in die Diskussion zwischen Formalismus und Dialektik zu begeben, ist eine kritische Alternative nicht zu haben. Dialektisches Denken aber ist dem in echt empiristischer Tradition verfahrenden “Radikal-Konstruktivismus” fremd. Ausgeblendet bleiben in der weitgreifenden historischen Rekonstruktion konsequenterweise alle hermeneutischen oder gar dialektischen Positionen. Damit wird v.G.s. Konstruktivismus zu einem neuaufgelegten Empirismus, der dessen Einseitigkeiten und Paradoxien reproduziert. Insofern liefert er - wenn man den Begriff weit faßt - eine Spielart des Positivismus, den er zu bekämpfen vorgibt. V.G. greift auf die fortgeschrittenere Variante als Falsifikationismus zurück, indem er zustimmend zitiert, eine Hypothese als falsch erwiesen zu haben, sei der Höhepunkt des Wissens (1995,23).

((7)) Bei genauerem Hinsehen wird Erkenntnistheorie ersetzt durch Erkenntnisbiologie. V.G.s Auseinandersetzung mit dem Begriff der Anpassung erscheint inkonsistent. Wie kann man, nachdem „Erkenntnis“ konstruktivistisch reformuliert wurde, zustimmend Ernst Mach zitieren mit “Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und an einander” ((24))? Auch wenn später präzisiert wird, daß es nur um die Tatsachen der Erfahrung geht ((32)), ist dies doch genau die positivistische Position, die eigentlich kritisiert werden soll. Zwischen Mach und Piaget, der dann als Hauptkronzeuge aufgerufen wird ((25- 35)), liegen Welten. Von der hohen Warte des Radikal-Konstruktivismus verschwinden die Differenzen. Sicherlich haben die zentralen Prinzipien bei Piaget - Assimilation und Akkomodation - etwas mit der Frage der Anpassung zu tun, ihre Besonderheit im Kategoriensystem liegt aber gerade in ihrem Wechselspiel. Wie man radikal-konstruktivistisch das “unerwartete Resultat” ((35)) als Anstoß zum Lernen einführen kann, ist mir nicht nachvollziehbar.

((8)) Deshalb bleibt dieser Argumentationsstrang letztlich biologistisch reduziert. Zunächst wird hart darwinis tisch konstatiert: “Kurz, alles, was überlebt, war schon im Vornherein an die Bedingungen angepaßt, durch die die natürliche Auslese nun das Nichtangepaßte vernichtet.” ((26)) Die Konstruktivität dieser These liegt auf der Hand. Zwar wird dies für kognitive Systeme relativiert und anstelle des Begriffs Auslese das Prinzip der Viabilität eingeführt ((27)). Unter der Hand aber wird die “Gangbarkeit” weiterer Systemevolution doch zu einer formalen, quasi-ontologischen Zielgröße. “Viabilität” scheint naturgegebenes, allgültiges Systemprinzip. Hier zeigt sich die Fatalität, welche aus der Abstraktheit systemtheoretischer Begrifflichkeit resultiert. In den durch die Metapher ermöglichten Analogien zwischen Systemen unterschiedlichster Art verschwindet deren Qualität. Das Wesen menschlichen Handelns, seine ungeheure Differenz gegenüber Verhalten von Organismen wird unterschlagen. (Die Begriffe Qualität und Wesen sind selbstverständlich radikal-konstruktivistischer Terminologie fremd.) Der Mensch kann bewußt sterben wollen; die biologische Überlebenswahrscheinlichkeit wird dem Individuum gleichgültig und nichtig gegenüber humanem Sinn.

((9)) Nachdem noch die Bezüge zur Kybernetik durchforstet worden sind, wird von v.G. als Zusammenfassung und Gebrauchsanweisung herausgestellt: “Der Begriff der Viabilität ersetzt jenen der ontischen Wahrheit...” ((58)). Damit sind wir also bei des Pudels Kern: “Im konstruktivistischen Denken wird der Begriff der ontischen Wahrheit aufgegeben”((57)). Und wieder wird das Ausgangsmißverständnis reaktiviert, als sei die Alternative ein objektivistischer Realismus, Dogmatismus oder Fundamentalismus. Daraus werden dann durchaus moralische und politische - radikalkonstruktivistisch äußerst fragwürdige und eigentlich unhaltbare - Schlüsse gezogen, als sei das Viabilitätsprinzip die epistemologische Basis von Toleranz und Demokratie ((62,63)). Vielmehr ist umgekehrt zu fragen, ob nicht v.G.s radikal-konstruktivistischer Utilitarismus und der ihm implizite Sozialdarwinismus durchaus ins neoliberaiistische Konzept passen, das mit einem radikalisierten Individualismus gegenwärtig als Legitimation universeller Konkurrenz die Fundamente der demokratischen Gesellschaften zerstört.

((10)) Dies könnte einen Hinweis liefern für die aktuelle Konjunktur konstruktivistischer Programme. Der Konstruktivismus -jedenfalls in v.G.s Variante - unterstützt eine Hypertrophie des individualistisch gedachten Subjekts. Es fehlt ein Begriff des gesellschaftlichen Individuums. Es gibt höchstens noch “intersubjektive Viabilität” (1997,209). Kollektive Vernunft und praktische Wahrheit werden ausgeblendet. Letztlich verbleibt v.G.s. Radikal-Konstruktivismus ein individualistischer Reduktionismus. V.G. dazu; “Die Analyse sozialer Phänomene kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich vollkommen der Tatsache bewußt bleibt, daß der Verstand, der viable Begriffe und Schemas konstruiert, unter allen Umständen der Verstand eines Individuum ist” (1997,199). Demgegenüber ist richtig, daß der individuelle Verstand immer schon menschliche Sozietas voraussetzt.

((11)) Die Kennzeichnung des Radikal-Konstruktivismus als eine Spielart eines erkenntnistheoretischen Falsifikationismus verbunden mit moraltheoretischen Utilitarismus spitzt sich, wenn man die Probleme der Erziehungswissenschaft und besonders der Erwachsenenbildung im Auge hat, zu in der Frage nach der “Viabilität” des Konzepts für die Theorie dieses Wissenschaftsbereichs. Die Argumentationsfiguren des Radikal- Konstruktivismus unterstützen die “Gangbarkeit” von Theorie¬ varianten, welche auf einen Begriffe von Bildung und Aufklärung explizit verzichten. Zu fragen ist dann, was mit dem radikal-konstruktivistischen Programm angerichtet wird in der aktuellen ökonomischen und politischen Situation bezogen auf die Chancen persönlicher Identität und die Zukunft von Mündigkeit. “Viabilität” von Theoriekonzepten hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Chancen menschlicher Entfaltung ist aus “radikal-konstruktivistischer Sicht” als Relevanzkriterium wohl noch zulässig. Ob allerdings Begriffe wie Bildung und Aufklärung noch gefüllt werden können, erscheint fraglich.

Literatur

Arnold, R J Sieben, H.: Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Hohengehren 1995
Faulstich, R: Rezension zu Arnold/ Sieben. In Hessische Blätter für Volksbildung (1996) 184-186
Glasersfeld, Ernst von: Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In: Watzlawick, P. (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. 1995, 16-38
Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt/ M. 1997
Schmidt, S. J. : Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt / M. 1987

Text:Michael Flacke – Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie oder sozialkonstruktivistische Praxis?

Hans G. Furth – Not Radical enough: A critique of von Glasersfeld’s Radical Epistemology

((1)) The proposed theory of knowledge is critical of what philosophers used to call “realism,” or more recently, what Marxists referred to as “crude empiricism.” Human knowledge is not, so von Glasersfeld’s (1998) radical theory would have it, a “mirror” or a “re-presentation” of reality but a constructed “model” of reality; this model, moreover, can never attain the Status of an absolute (ontic) truth (57). However, with von Glasersfeld’s consistent focus on perception of “something that is already there” (1), he as well as “realists” and most others assume that there is something like a “brute reality,” independent of the human observer or agent.

((2)) In my Interpretation of Piaget’s theory, we cannot meaningfully talk of “reality” as something apart from us and our construction. The true radicalness of Piaget is his proposition that we construct not merely our knowledge and our Instruments of knowledge, but that we construct our reality (e.g„ Piaget’s Construction of reality in the child, originally published 1937). In Piaget’s theory the term “construction” literally means newness and creation. Thus, an apt model for a truly radical constructive theory would be to think of the relation between Bach and the Goldberg Variations, or (to take a less unique example) children and their cooperative make-believe play. These are instances, I would think, where we can evaluate the radicalness of a constructivist epistemology.

((3)) I would grant that Piaget failed to fully enlarge on this insight and that be labored all his life to have a self-contained logical/cognitive theory of knowledge and knowledge development, “Equilibration” became for Piaget the key concept as the motor of development. To make it work he, just as von Glasersfeld (37), had to assume an innate tendency toward an internal balance.

((4)) Consider von Glasersfeld’s description of primitive humans observing the physical world (5) and his Suggestion that unexpected results (35) and Chance mutations (26)&(29) are the motor of development. All this falls short of Piaget’s own constructive model. Many years ago Piaget argued vehemently against “chance” as an explanatory concept and in its place thought of “occasion” or “opportunity.” In any case, in today’s evolutionary Science the concept of chance mutations no longer seems to play the decisive role as it did then.

((5)) I am surprised that von Glasersfeld, as so many others, associates Piaget’s “assimilation” with stability (33) and “accommodation” with newness (35)&(37). This is almost the opposite of what Piaget means with these concepts! Similarly, I find it insufficient that he quotes Piaget’s equilibration concept without adding Piaget's adjective “majorante.” However you translate this word (“enlarging,” “growing”), it dramatically changes the meaning into almost the opposite of a mechanical balance. No wonder, it is not a helpful concept.

((6)) The Suggestion that in humans “equilibration” rather than “survival” has become the criterion of adaptation (27) shows again von Glasersfeld’s narrow focus on cognition and the uncritical assumption of a pre-given reality that we “perceive" and “observe” (31)&(32).

((7)) E. von Glasersfeld’s notions of “protospace” (47) and “prototime” (48) seem to me intriguing allusions to Piaget's sensorimotor schemes, even as the distinction between recognition and recall (50) parallels Piaget’s differentiation between sensorimotor and mental object know-how. I agree with von Glasersfeld (51) that the clearest instance of the construction of a mental object is the formation of an internal image or a symbol.

((8)) Nevertheless, by never clearly referring to sensorimotor or action know-how as preceding mental object know-how, von Glasersfeld fails to highlight what I would consider the most conspicuous and most constructivist component of Piaget’s theory of knowledge. Namely that action, not perception, is the key concept of an adequate theory of knowledge and that we humans in development first construct the reality of sensorimotor action knowledge before we continue to construct the reality of mental object knowledge

((9)) I fully recognize Piaget’s achievement of describing the formation of the mental object or the mental symbol as a logical-cognitive construction (rather than assuming the innate existence of this psychological power). But I am convinced that logic alone cannot ground this new power. Piaget ingenuously defines mentality as “action-differentiated” (= action separated) know-how and mental Symbols too as “action-differentiated” Signals. But it requires an extra-logical or extra-cognitive motivation to explain this new development.

((10)) I believe Freud’s theory of desire, of the libidinal object, provides this necessary motivational component. As we humans have the cognitive capacity to separate the object of action from the action, we also have the capacity to separate libido from sexuality proper. We are the animal that can fall in love with mental objects. In short I hold that Piaget’s logical mental object equals Freud’s libidinal object. You cannot have one without the other. I discuss these points in Furth (1987).

((11)) However, logic by itself is empty and desire by itself is blind. Concrete reality needs a concrete content. So does human evolution. What then is the content to which humans in evolution came to be adapted? I am critical of von Glasersfeld description of primitive humans attempting to observe and form concepts of reality, striving for equilibration in the sense of a true perception of reality. In fact, I insist that we humans “construct” our reality. The Creative construction of reality is what makes a theory of knowledge truly radical. But what concretely is this specific human reality?

((12)) Searching for an answer to the above question, 1 studied young children’s most spontaneous activities, such as pretend play, peer interactions, speech, particularity private speech. I found that all these activities presupposed what von Glasersfeld could call a “proto-reality.” The nature of this proto-reality is precisely the mental frame of a human society. In other words, by the time they acquire the competence to form mental objects and Symbols (around two years of age), children can be seen as falling in love with these objects and as being desirous of sharing them with peers. This desiring and sharing of mental objects and Symbols is in fact the foundation of all human societies. See my recent work, Furth (1996), particularity Chapter 14, “The Plot of the Mental Object Capacity: There is More in Piaget’s Permanent Object Than Meets the Eye.”

((13)) Consequently, I conclude that human mentality is at the origin of human societies, both individually and evolutionarily. We became humans as we created human societies (as distinguished from sensorimotor societies) and became adapted to them; we developed our human knowledge so as to construct, better: co-construct, human societies.

((14)) In this perspective, children’s pretend play, fantasies and peer interactions, (just as Bach’s Goldberg Variations) make sense as being different ways of “making society.” Making-society is what made us humans in evolutionary history and what makes each individual child become an active member of a human society, capable of contributing to and assimilating a present concrete society (“negotiating” society (63)).

((15)) Similarly, a truly radical constructive theory of knowledge must necessarily be anchored within a societal frame. And this frame includes in addition to Contemporary and recent history/culture, individual biases and desires which as such have nothing to do with objective truth or practical utility (58).

((16)) Moreover, I agree with von Glasersfeld (62) that short of a transcendent basis, a radical constructivism is a potent ground for rejecting a crude ethical relativism “where anything goes.” By seeing us as constructors of our reality/society, I at the same time stress my responsibility for a world that we now threaten with extinction and I acknowledge the quasi biological social constraints (such as sharing of symbols or mutual relations) that are already evident in spontaneous child development.

((17)) In conclusion, von Glasersfeld’s “radical” theory of knowledge certainly points in the right direction, but seems to me to lack the full radicalness that I detect, explicitly or implicitly, in Piaget’s work.

References

Furth. H.G. (1987). Knowledge as desire: An essay on Freud and Piaget. New York: University of Columbia Press.
Furth, H.G. (1996). Desire for society: Children's knowledge as social imagination. New York: Plenum Press.
von Glasersfeld, E. (1998). Die radikal-konstruktivistische Wissenstheorie. Ethik und Sozialwissenschaften (9).

Henk Goorhuis – Die Konstruktion der Erleuchtung

((1)) Der radikale Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld ist eine der revolutionärsten und erfrischendsten Wissenstheorien, denen ich je begegnet bin. In meiner Kritik werde ich daher meine Begeisterung für diese Ansätze nicht verheimlichen können und wollen. Diese Begeisterung gründet dabei nicht etwa auf der Ueberzeugung, dass in dieser Theorie irgendeine Wahrheit steckt, sondern sie ist aus rein pragmatischen Gründen entstanden: ich habe durch den Versuch des Einübens und Anwendens der konstruktivistischen Sichtweise sowohl in meiner Punktion als Erwachsenenbildner, als Forscher sowie in privaten Bereichen nur positive Erfahrungen gemacht.

((2)) Es ist eine offensichtliche Konsequenz des Konstruktivismus, dass Theorien oder Modelle nicht mehr auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden, sondern auf ihre Wirkung. Und dies kann konsequenterweise nie stellvertretend für andere eruiert werden, denn es kann eben für jede Person wieder anders sein. So gesehen können die Auseinandersetzungen über den Konstruktivismus meines Erachtens nie Konsensfindung sein, sondern immer nur aus Anregungen bestehen für das nachfolgende konkrete Experimentieren jedes Einzelnen. Oder wie Glasersfeld sagt: „Alles Rechthaberische verliert seinen Sinn“ ((60)).

((3)) Man müsste sich daher auch fragen, was der Sinn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung wie dieser sein könnte, wenn es nicht mehr um das Finden eines Konsenses geht. Persönlich könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass sich die Zielsetzung wissenschaftlicher Tätigkeit zunehmend dahin verlagert, sich über die subjektive Wirkung und nicht über die Evidenz der verschiedenen möglichen Welt- und Wirklichkeitsmodelle Gedanken zu machen. Ich werde im Folgenden zwei Aspekte der von Ernst von Glasersfeld vorgestellten Theorie aufnehmen, welche ich in meiner Erfahrung als überflüssige Begrenzungen der Theorie erlebt habe, und dann entsprechend mögliche Erweiterungen dieses Konstruktivismus diskutieren.

((4)) Es kann durchaus sein, dass Ernst meine nachfolgenden Vorschläge auch ohne Zögern unterstreichen würde, was wiederum nur zeigt, dass ich die Worte von Ernst von Glasersfeld eben nur wieder auf Grund meiner kognitiven Struktur lesen und mir einen Sinn konstruieren kann. So gesehen schreibe ich hier keine Kritik auf Ernst von Glasersfeld's Theorie, sondern eine Kritik auf mich selbst, nämlich auf die Art und Weise, wie ich mir aus dem vorliegenden Text einen Inhalt konstruiert habe.

Zirkuläre Kognition

((5)) Eine erste Begrenzung der Theorie liegt meiner Meinung nach in dem fehlenden Schluss, dass auch die Ueberprüfung, ob ein Konzept viabel ist oder nicht, wieder von derselben kognitiven Struktur vorgenommen werden muss, wie diejenige, welche das Konzept überhaupt entworfen hat. Dies stellt das Modell von Mach in Frage ((27)), der behauptet, kognitive Strukturen könnten einerseits von Tatsachen widerlegt werden oder miteinander in Konflikt geraten. Die entscheidende Frage ist doch dann, wie diese Unterscheidung festgestellt werden kann. Heinz von Foerster schlägt in seiner Variante des Konstruktivismus (z.B. Foerster 1993) vor, dass dies wohl oder übel wieder mit derselben kognitiven Struktur geschehen muss. Hier ist meines Erachtens die Annahme einer vollständig geschlossenen Zirkularität der Kognition nützlich. Oder wie Maturana und Varela es schreiben: „Each person finds himself in a completely closed and circular Situation“ (Maturana/Varela 1987).

((6)) Den Begriff der Viabilität habe ich deshalb in meinem Umgang mit dem Konstruktivismus dahingehend erweitert. Was nicht viabel ist, scheint sich bei Glasersfeld an irgendetwas stossen zu können, was NICHT aus derselben kognitiven Struktur stammt. Ich habe bessere Erfahrungen gemacht mit der Annahme, dass auch die Viabilität wieder nur von den gleichen kognitiven Strukturen begrenzt oder verhindert werden kann wie die Strukturen, welche das Modell, die Theorie bzw. das Wissen zuvor herstellten. Beide Annahmen lassen sich natürlich weder beweisen noch widerlegen, was auch nicht der Sinn der Sache wäre. Wenn nun also etwas nicht funktioniert, d.h. eine Hypothese oder ein Modell nicht viabel ist, liegt dies eben gar nicht an irgendeinem gegebenen Sieb ((28)), welches selektiert, sondern ausschliesslich am System selbst. Oder auf den Menschen bezogen: Wenn ein Mensch mit einer Hypothese auf Probleme stösst, liegt das an diesem Menschen und nicht an einer Aussenwelt, welche nicht zur Hypothese passt. Der grosse Vorteil dieses Modells scheint mir, dass sich das Subjekt nicht mehr als Opfer einer Welt wahrzunehmen braucht, die immer wieder anders ist als angenommen.

Ein ewiges Bemühen nach Anpassung

((7)) Die Form des Konstruktivismus, wie sie Glasersfeld beschreibt, hat für mich also dahingehend einen zentralen Nachteil, das es ein ewiges Bemühen bleibt, ständig bessere viable Modelle bilden zu müssen. Das Modell geht von Perturbationen aus, wie wenn dies eine unabänderliche Tatsache wäre. Die frühere Suche nach Wahrheit wird ersetzt durch die jetzige Suche nach möglichst viablen Modellen, welche geeignet auf die ewigen Perturbationen - seien sie von Innen oder von Aussen - reagieren lassen. Diese müssen dann wieder ständig dieser unbekannten Aussenwelt angepasst und revidiert werden. Diese Grundannahme könnte - in konstruktivistischer Weise - im Lebensgefühl des Autors begründet liegen. Die ganze Sache bleibt also ein endloses Bemühen um Stabilität und das scheint mir nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen, wie ich weiter unten aufzeigen möchte.

((8)) Der Konstruktivismus bedeutet natürlich, dass jeder Mensch die Welt so beschreibt, wie er oder sie die Welt eben erlebt. So gibt denn jede Aussage eigentlich Auskunft über diejenigen, welche die Aussagen machen und nicht über die Welt. Die Beobachtung beschreibt den Beobachter und nicht das Beobachtete. In diesem Sinne gibt der referierte Artikel Auskunft über die Welt von Ernst von Glasersfeld, aus welcher für mich vor allem auffällt, dass sie ein ständiger Versuch ist, das Gleichgewicht angesichts der Perturbationen aufrecht zu erhalten. Das Leben ist und bleibt anstrengend auf diese Art und Weise. Ich würde gerne wissen, ob Ernst es auch tatsächlich so erlebt, und bei nächster Gelegenheit werde ich ihn darauf ansprechen. Diese Schlüsse hingegen, welche ich als Leser aus dem Text ziehe, sagen natürlich hinwiederum über mich etwas aus, und nichts über den Text und schon gar nichts über Ernst von Glasersfeld. Oder wie Heinz von Foerster so schön konstruktivistisch sagt: „Nicht der Schreiber, sondern der Leser bestimmt den Inhalt eines Textes“.

Unanfechtbare Weltmodelle

((9)) Wenn nun aber die Kognition als vollständig zirkulär angenommen wird, gibt es die Möglichkeit von selbstreferentiellen Modellen, welche sich selber stabilisieren. Es sind natürlich Weltkonzepte denkbar, welche nicht mehr angepasst oder überprüft werden müssen, da sie gar nicht über eine Welt definiert sind. Das ist zum Beispiel der Weg einiger Religionen; die Welt wird über einen unsichtbaren Gott definiert, dann sind Aussagen möglich, welche nicht mehr überprüfbar sind und auch nicht überprüft werden müssen, wie z.B. „Alles ist Gottes Plan und dieser Plan ist unergründlich“. Solche Weltkonzepte sind unanfechtbar und daher ewig stabil, sie sind sozusagen „superviabel“, falls man sie wirklich internalisiert hat. Mir persönlich liegen religiöse Konzepte in dieser dogmatischen Form etwas weniger. Aber auch sie müssen meines Erachtens ganz nach konstruktivistischer Manier nicht in ihrem Wahrheitswert sondern in ihrer Wirksamkeit bzw. in ihren Auswirkungen auf den Alltag überprüft werden.

((10)) Einen anderen Weg gehen die selbstreferentiellen Konzepte. Das sind Modelle, welche sich auf sich selbst beziehen. Ein negatives Beispiel ist die Depression: „Alles was mir geschieht ist zu meinem Nachteil“. Ein hochviables Modell, denn es muss nie an Perturbationen angepasst werden: Es funktioniert immer. Aber natürlich ist es nicht zu empfehlen. Eine andere Möglichkeit ist der Wahn, z.B. „Ich bin Napoleon, aber alle sind zu dumm, um es zu merken“. Auch dieses Modell übersteht alle Perturbationen. Persönlich glaube ich, dass es möglich ist, positive selbstreferentielle Modelle zu konstruieren, welche nicht mehr den Perturbationen des Lebens unterliegen – falls man das will natürlich.

Stabilität durch Eigenwertbildung

((11)) Das Thema der Stabilität ist gerade auch die zweite Begrenzung des Modells, welche ich diskutieren möchte. Glasersfeld beschreibt, dass ein Organismus gegenüber den Perturbationen, die er wahmimmt, versuchen muss im Gleichgewicht zu bleiben ((37)). Wohlgemerkt sind es die Perturbationen, die der Organismus wahrnimmt, und nicht etwa unbedingt Perturbationen einer gegebenen Welt. Dies kann der Organismus nun eben bekanntlich gar nicht unterscheiden. Auch hier wieder scheint es mir von Vorteil anzunehmen, dass die Perturbationen ausschliesslich vom Organismus selbst stammen und dass es daher noch andere Möglichkeiten gäbe, das Gleichgewicht herzustellen. Hier wäre dann eine Stabilität möglich, welche Heinz von Foerster über den Begriff des Eigenwertes einführt (Foerster 1993). Aehnliche Konzepte sind Fixpunkte bzw. Attraktoren. Ein Eigenwert eines Systems ist so definiert, dass er sich selbst stabilisiert. Ein Pendel hat z.B. im Tiefpunkt seinen Eigenwert, denn nach jeder Perturbation geht das Pendel automatisch wieder in seinen Ursprungszustand über. Die Frage ist natürlich, ob es auch für komplexere Systeme bzw. für den Menschen Eigenwerte gibt. Ein solcher Mensch müsste sich nicht mehr über die Aussenwelt wie Beruf, Rolle, Zugehörigkeit etc. definieren. Natürlich sind solche Modelle auch gefährlich, denn sie passen sich nicht mehr an. Es empfiehlt sich da eine gewisse Vorsicht, um nicht in einen Wahn zu verfallen. Aber bei geschickten Modellen lässt sich so eine ganz andere Stabilität herstellen als die im Artikel beschriebene.

Autonomie

((12)) Dies öffnet den Weg zur Möglichkeit der inneren Autonomie eines Systems: ein System im Eigenwert ist sozusagen „frei“ von seiner Umwelt. Es ist beispielsweise dann denkbar, dass ein Mensch völlig autonom wird, wenn er oder sie das innere Gleichgewicht unabhängig aller Perturbationen erreicht, also zu einem Eigenwert findet. Hier wurde für mich schon früh eine deutliche Parallele zum Buddhismus ersichtlich, der eine sehr verwandte Philosophie hat, welche ausschliesslich zum Ziel dieser inneren Befreiung (Nirvana) entwickelt wurde.

((13)) Der buddhistische Begriff der Leerheit bedeutet, dass es keine vom Geist unabhängige Existenz, also nichts wirklich, objektiv existierendes gibt. Die Verwandtschaft zum Konstruktivismus ist offensichtlich. Nur ist das im Buddhismus in letzter Konsequenz keine Einladung um Weltsichten zu reflektieren, sondern eine Methode um sich von jeder Weitsicht zu lösen. Das Aufrechterhalten jeglicher Welt- und Selbstsicht bedarf einer ständigen Anstrengung und wird der Kreislauf des Leidens (Samsara) genannt. Bei jeder Auflösung von Vorstellungen setzt sich deshalb Energie frei. Wenn auch die letzte Vorstellung von sich und der Welt aufgegeben wurde, ist der Mensch erleuchtet (Gyatso 1996). Einen ähnlichen Beitrag kann der Konstruktivismus liefern, da er in sich selbst schon selbstreferentiell ist: er stabilisiert sich sozusagen selbst, er kann weder widerlegt noch bewiesen werden, er ist selbst auch einfach eine Konstruktion. Er ist nach meiner Erfahrung deshalb sehr viabel und führt zu einer ständigen Reflexion über die Unterscheidungen, welche man selbst über die Welt hat. Da jedes Weltmodell auf Unterscheidungen aufbaut, sind eigentlich alle Unterscheidungen fiktiv und in letzter Konsequenz überflüssig: auch die Annahme, dass man überhaupt ein Weltmodell braucht, baut auf einer ersten Unterscheidung auf, welche überwunden werden kann (Gyatso 1998, Goorhuis 1998). Der Konstruktivismus führt daher in meiner Erfahrung unausweichlich in die Welt der Paradoxien, wenn man ihn konsequent genug anwendet: wenn alles (m)eine Konstruktion ist, gilt dies auch dafür, dass gewisse Modelle bzw. Theorien viabel sind und andere nicht. Auch diese Unterscheidung beruht wieder auf Unterscheidungen, an welchen die Viabilität selbst gemessen wird. Jede Konstruktion von Wirklichkeit ist in sich selbst deshalb selbstbezüglich und damit letztlich überflüssig.

Diagonalisierung

((14)) Der Prozess, wie ein System diese innere Autonomie, also seinen Eigenwert findet, wird in der mathematischen Systemtheorie „Diagonalisierung“ genannt. Die Methode dazu ist jene, dass das System seinen eigenen Output wieder als Input verwendet, und zwar so lange, bis ein Fixpunkt bzw. Attraktor erreicht ist. Genau dasselbe tut man im Buddhismus mit Hilfe der Meditation: man beobachtet solange sich selbst, bis Input und Output übereinstimmen (x=Ax). Ich bin der Ueberzeugung, dass mit Hilfe der Systemtheorie und der konstruktivistischen Ansätze eine sehr wertvolle Integration der östlichen Philosophie in die heutige Wissenschaft und damit eine Modernisierung des Geheimnisses der Erleuchtung möglich wird.

Literatur

von Foerster H.: Wissen und Gewissen. Frankfurt: Suhrkamp, 1993.
Goorhuis H.: Distributer decision making. ln: Schwaninger K.: Intelligent Organisations. Proceedings of the Annual Congres of the Society for Econimical Cybernetics. To be published in 1998.
Gyatso. Geshe Kelsang: Einführung in den Buddhismus. Zürich: Tharpa, 1996.
Gyatso, Geshe Kelsang: Den Geist verstehen. Zürich: Tharpa, 1998.
Maturana H., Varela F.: Der Baum der Erkenntnis. Bern; 1987.

Gerhard Grössing – Globale Bilder in lokalen Farben

((1)) Selbst in vergleichsweise kleinen Kreisen, die sich eingehend mit epistemologischen oder ontologischen Grundsatzfragen beschäftigen, gilt das von Zygmunt Bauman (1995) formulierte Gesetz, daß “die öffentliche Aufmerksamkeit die knappste aller Waren” ist. Dies bedeutet auch, daß - heute vermutlich mehr denn je - für das “kulturelle Gedächtnis” (Jan Assmann 1992) in jeder Generation eine “Auffrischung” selbst von Erkenntnissen oder Einsichten vonnöten ist, die eine oder mehrere Generationen zuvor als selbstverständliche kulturelle Errungenschaft gegolten hat. So ist zu verstehen, warum es noch immer und schon wieder einen Streit um den Begriff der “ontischen Wahrheit” gibt.

((2)) Man wäre sicherlich erstaunt, wie hoch etwa unter Physikern der Prozentsatz jener ist, die noch immer am Phantasma der “einen Wahrheit” festhalten. Aber auch eine radikale Gegenposition, die ausschließlich (soziale u.a.) “Konstruktionen” physikalischer Sachverhalte anerkennen will (wie z.B. Bruno Latour 1993), übersieht, daß die Physik numerische Daten sammelt, die zumeist per se kontextfreie Verhältnisgrößen repräsentieren[13], und diese Daten in durchwegs kontext-gebundenen narrativen Schablonen oder “Erzählungen” (d.h, in den Theorien mit ihren “Prinzipien”, “Naturgesetzen”, etc.) miteinander verknüpft. Man könnte auch von einem hermeneutisch-zirkulären Verhältnis zwischen Empirie und Prinzipien sprechen, wobei wichtig ist, daß nicht eine der beiden Seiten als die “fundamentalere” angesehen wird.

((3)) Dies führt uns zur Kybernetik und zu Ernst von Glasersfelds Erwähnung eines “grundlegenden konstruktivistischen Prinzips" bei Jean Piaget, “daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget 1937, p.311)...” ((36)). Nun sind im Laufe eines Forscherlebens durchaus Entwicklungen anzunehmen, die mitunter zu mehr oder weniger geringfügigen Verschiebungen oder Korrekturen führen und somit ein Lebenswerk üblicherweise nicht in einem Guß modellieren lassen. In diesem Sinn würde mir der zitierte Rekurs auf Piaget als etwas zu verkürzte Darstellung seines “konstruktivistischen Prinzips” erscheinen. In Biologie und Erkenntnis beschreibt nämlich Piaget 1974 organische und kognitive Regulationen in aufeinander bezogenen Evolutionsstadien, wobei deren Verlauf gleichermaßen von endogenen wie von Umweltfaktoren gesteuert wird: “Die kognitiven Prozesse erscheinen ... zugleich als die Resultante der organischen Selbstregelung, deren Hauptmechanismen sie reflektieren, und als die differenziertesten Organe dieser Regulation innerhalb der Interaktion mit der Außenwelt.” (S. 27) Dies entspricht einer grundsätzlich dynamischen Sichtweise der Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt: “Die Erkenntnisse kommen tatsächlich weder aus dem Subjekt (somatische Erkenntnis oder Introspektion) noch aus dem Objekt (denn die Wahrnehmung selbst besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Organisation), sondern aus den anfangs ebenso durch die spontanen Aktivitäten des Organismus wie durch äußere Reize in Gang gebrachten Interaktionen zwischen Subjekt und Objekt.” (S. 29)

((4)) Diese Kernaussagen Piagets legen eine ausgewogene Balance zwischen internen und externen Determinanten der Kognition nahe, die eine entsprechende wechselseitig ko-determinierte Geschichte zur Folge hat. Demgegenüber schreibt Ernst von Glasersfeld: “Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, daß wir sie nicht rational erfassen können.” ((58)) Hier würde ich gerne das Wort “rational" durch “vollständig" ersetzt sehen. Denn einerseits ist auch die mögliche Implikation, daß wir Realität anders als rational - also etwa “irrational" - “erfassen” könnten, zweifelhaft, andererseits wäre die generelle Unmöglichkeit eines vollständigen Erfassens der Realität methoden-unabhängig und ließe die Möglichkeit eines temporären und/ oder teilweisen Erfassens offen. Dies scheint mit dem Hinweis auf die Historizität der Kognition mehr als plausibel, ja nachgerade unabdingbar: Da es überhaupt lebensfähige und viable Formen der Kognition gibt, müssen die “inneren” Prozesse ein “Echo” von Prozessen beinhalten, die sich in der Außenwelt abspielen. Beliebige Viabilitäten lassen sich nicht einfach ausdenken. [14] Und: Wie anders als über - zumindest teilweise - gegenseitige Abstimmung zwischen inneren und äußeren Prozessen könnten sich überhaupt komplexere biologische “Kognitionsapparate” entwickelt haben?

((5)) Abgesehen von der eingangs erwähnten Notwendigkeit permanenten “Auffrischens” kultureller Errungenschaften, zu denen zweifellos auch die Einsichten in die konstruktive Natur kognitiver Prozesse gehören, stellt sich aber heute die Frage nach weiteiführenden Konsequenzen. Die binäre Opposition zwischen “Realismus” und “Konstruktivismus” ist schon längst zu einfach, um den akademischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre auch nur in einer Kurzformel Rechnung tragen zu können. Die dominante Frage ist nicht mehr, zu welchem “Lager” man sich heute eher zählen würde, sondern wohin die Gesamtentwicklung der Diskussionen tendiert. Das von J.-F. Lyotard (1979) ausgerufene Ende der “großen Erzählungen” und die entsprechende Aufwertung “lokalen Wissens” in der Gefolgschaft von Clifford Geertz (1983) und anderen hat dazu geführt daß heute Heterogenität als die einzig adäquate Herangehensweise an komplexe Themenbereiche gilt, in eindeutiger Abgrenzung zur kohärenten, monolithischen Gesamt-Erzählung in einem globalen Bild.

((6)) In einer Sondernummer der Zeitschrift Configurations (Frühling 1998) zum Thema “The Scientific Revolution as Narrative” schreibt Peter Dear unter Verwendung des Begriffs der master narrative {Haupt-Erzählung) anstelle der Ausschließlichkeit beanspruchenden Großen Erzählung, daß es heute darum gehe, multiple master narratives zu erzeugen: “[A]ny single narrative necessarily forgrounds some things and backgrounds others, but there should be no Suggestion that any such narrative by itself exhorts everything of importance in the period and place under examination.” (S. 172) Haupt-Erzählungen wären also gewissermaßen “relativierte Große Erzählungen” und als solche mitunter von größerer Bedeutung (z.B. für die Wissenschaftsgeschichte) als ein Ballast von Marginalien lokalen Wissens. In bezug auf entsprechende Tendenzen in der neueren Wissenschaftstheorie und -Geschichte könnte man auch von “Großen Erzählungen mit lokaler Einfärbung” sprechen. Diese neueren Arbeiten, etwa von der Edinburgh-Schule, Bruno Latour oder Karin Knorr-Cetina, liefern nicht wirklich “lokale Erzählungen” über wissenschaftliche Praktiken, und zwar aus dem einfachen Grund, daß ihr soziologischer Ansatz insgesamt effektiv “paradigmatisch” geworden ist: eine Große Erzählung über die Lokalität von Wissen und Wissenserwerb.

((7)) Wir sehen uns also heute in einer Situation, in der Große Erzählungen "lokalen Sinn” machen - was, rückblickend auf die Geschichte, im Grunde ohnehin nie anders war. Es ist bloß das Bewußtsein für die Begrenztheit jeglicher Großen Erzählung aufgrund ihrer kontext-situierten und konstruktiven Natur enorm gewachsen. Daß sie dennoch, oft mit weitreichendem Anspruch, zu viablen Lösungen führt, spricht für eine “real” verankerte Kongruenz zwischen dem Werden der Erzählung und dem Geschehen des Erzählten, die sich nicht auf eine der beiden Ebenen reduzieren läßt.

((8)) Gleichermaßen gilt es, die grundsätzlich dynamische Bedingtheit des hermeneutischen Zirkels anzuerkennen. Auch wenn wir globale Bilder mit lokalen Farben malen, entscheidet erst die Auswahl eines bestimmten Auflösungsbereiches, was wir sehen werden: Konzentrieren wir uns auf eine lokale Färbung und steigern die Auflösung bis zur mikroskopischen Wahrnehmung der Materialität des verwendeten Stoffes, kann das Gesehene unversehens in etwas Globales umkippen, das wir uns wiederum in anderen Farben auszumalen hätten, und so weiter....

Literatur

Assmann, J. (1992). Das kulturelle Gedächtnis. München.
Bauman, Z. (1995). Ansichten der Postmodeme. Hamburg - Berlin.
Dear, P. (1998). Mathematical Principles of Natural Philosophy. Configurations 6, 2 (1998) 171 - 193.
Geertz. C. (1983). Local Knowledge. New York.
Latour, B. (1993). We have never been modern.
Cambridge. Lyotard. J.-F. (1979). La condition postmoderne. Paris.
Piaget, J. (1974). Biologie und Erkenntnis. Frankfurt am Main.

Elke Heise/Peter Gerjets – Welche Konsequenzen hat die radikal-konstruktivistische Wissenstheorie?

((1)) Die von v. Glasersfeld formulierte radikal-konstruktivistische Wissenstheorie läßt zwei Interpretationen zu: Zum einen kann sie als eine Theorie des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses und damit als eine wissenschaftstheoretische Position verstanden werden. Zum anderen läßt sie sich als eine Theorie des menschlichen Wissens und somit als eine kognitionspsychologische Theorie interpretieren. Für beide Interpretationen stellen sich aus unserer Sicht zwei grundlegende Fragen, denen wir im folgenden zunächst für die wissenschaftstheoretische und anschließend für die kognitionspsychologische Interpretation nachgehen werden: 1. Ist der radikale Konstruktivismus neu und radikal? 2. Welche Veränderungen in der Forschungspraxis bringt er mit sich?

((2))Radikaler Konstruktivismus als Wissenschaftstheorie: In seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen ((1) - (22)) plädiert v. Glasersfeld dafür, die Vorstellung einer objektiv erkennbaren Realität aufzugeben und durch die Vorstellung einer aktiven Konstruktion kognitiver Strukturen zum Umgang mit der Realität zu ersetzen. Er weist darauf hin, daß Beschreibungen und Erklärungen der Welt auf Begriffen beruhen, die von menschlichen Beobachtern erfunden und auf Erfahrungen mit der Realität angewandt werden ((7) - (9)). Wissenschaftliches Wissen sollte nach v. Glasersfeld nicht als Repräsentation der Realität im Sinne einer homomorphen Abbildung interpretiert werden. Diese Sichtweise erscheint vermutlich vor allem dann neu und radikal, wenn man einer naiven realistisch-empiristischen Perspektive anhängt, für die empirische Forschung „der goldene Weg zur Erkenntnis der realen, objektiven Welt“ ((20)) ist. Mit Weiterentwicklungen des Empirismus wie der strukturalistischen Theorienkonzeption (Balzer, Moulines & Sneed, 1987) ist v. Glasersfelds Auffassung dagegen problemlos vereinbar.

((3)) Aus strukturalistischer Sicht setzt sich eine Theorie T aus einem formalen Kern K und einer Menge von intendierten Anwendungen / zusammen: T = (K, I). Der formale Kem präzisiert Begriffe und Annahmen der Theorie durch die Definition verschiedener Mengen von mathematischen Strukturen. Zentral sind dabei vor allem die Menge der potentiellen Modelle und die Menge der (echten) Modelle einer Theorie. Während potentielle Modelle dadurch charakterisiert sind, daß sie die begrifflichen Axiome der Theorie über angenommene Objektmengen und darauf definierte Relationen und Funktionen erfüllen, genügen die Modelle zusätzlich den Gesetzesannahmen der Theorie, in denen die eingeführten Begriffe miteinander verknüpft werden. Eine Theorie auf einen Realitätsausschnitt anzuwenden bedeutet im Strukturalismus, diesen Realitätsausschnitt als potentielles Modell der Theorie zu rekonstruieren, d.h. ihn in der Begrifflichkeit der Theorie zu beschreiben. Mit jedem Realitätsausschnitt, der zur Menge der intendierten Anwendungen einer Theorie gehört, ist die empirische Hypothese verbunden, daß er auch die Gesetzesannahmen der Theorie erfüllt und sich somit als echtes Modell der Theorie erweist. Derartige Hypothesen werden in empirischen Untersuchungen geprüft. Erfüllt eine intendierte Anwendung die Gesetze der Theorie, so wird sie in die Untermenge der erfolgreichen Anwendungen aufgenonunen. Daß sich ein Realitätsausschnitt als erfolgreiche Anwendung einer Theorie beschreiben läßt, ist strukturalistisch gleichbedeutend damit, daß die Theorie diesen Realitätsausschnitt „erklärt“.

((4)) Aus strukturalistischer Sicht läßt sich jeder Realitätsausschnitt prinzipiell als potentielles Modell verschiedener Theorien rekonstruieren. Ganz im Sinne der Forderung v. Glasersfelds wird somit die Lösung eines Problems „nie als die einzig mögliche betrachtet“ ((58)) und „alles Rechthaberische [verliert] seinen Sinn“ ((60)). Auch der Begriff der ontischen Wahrheit, den v. Glasersfeld durch den der Viabi lität ersetzt wissen möchte ((58)), wird im Strukturalismus nicht benötigt. Aus strukturalistischer Perspektive erweist sich eine Theorie als umso nützlicher („viabler“ in der Terminologie v. Glasersfelds), je mehr erfolgreiche Anwendungen für sie gefunden werden können. Im Einklang mit der strukturalistischen Sichtweise bezeichnet Hetnnann (1983) (kognitions-)psychologische Theorien als „konzeptuelle Entwürfe, die sichHandlungssubjekte in bestimmten historischen Situationen unter bestimmten Zielsetzungen (Problemlösungsperspektiven) von einer Wirklichkeit machen“ (S. 96-97; Hervorhebungen im Original) und unterstreicht damit den konstruktivistischen Charakter von Theorien. Eine Theorie gleicht demnach weniger einem Abbild der objektiven Realität, als vielmehr einem Entwurf, in dem ein Bild der Realität konstruiert wird,

((5)) Um über die Nützlichkeit einer Theorie in einem bestimmten Anwendungskontext entscheiden zu können, ist die empirische Prüfung der mit dieser Theorie verbundenen Hypothesen unerläßlich. Dabei kann auch aus strukturalistischer Sicht die Falsifikationsmethodologie des Popperschen Kritischen Rationalismus nutzbar gemacht werden (Westermann, 1987). Falsifizierhar sind allerdings nach strukturalistischer Auffassung lediglich die mit Theorien verbundenen empirischen Hypothesen und Behauptungen, nicht aber die Theorien selbst, wie es von Popper angenommen wird. Theorien sind vielmehr als abstrakte Strukturen zu betrachten und stellen damit keine Gebilde dar, die sich sinnvollerweise als wahr oder falsch klassifizieren lassen. Dementsprechend zwingt auch im Falle der Falsifikation einer empirischen Hypothese kein logischer Mechanismus dazu, die zugrunde liegende Theorie aufzugeben. Statt dessen können die erfolglosen Anwendungen aus der prinzipiell offenen und nur pragmatisch eingegrenzten Menge der intendierten Anwendungen der Theorie entfernt werden.

((6)) Die strukturalistische Auffassung von Theorien und ihrer Funktion im Forschungsprozeß scheint uns durchgängig gut verträglich mit v. Glasersfelds Position zu sein. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern eine aus radikal-konstruktivistischer Perspektive-betriebene empirische Forschung sich von der Forschungspraxis innerhalb des strukturalistischen Paradigmas unterscheidet. Wendet man v. Glasersfetds Gütekriterium der „Anpassung“ {(23) - (25)) auf wissenschaftliche Theorien an, so stellt auch aus radikal-konstruktivistischer Sicht die Empirie den Prüfstein für die Qualität einer Theorie dar. Nur wenn die mit einer Theorie verbundenen Vorhersagen sich in der Empirie bewähren, kann die Theorie als wirklichkeitsangepaßt gelten. Wenn man die Poppersche Vorstellung einer im Verlauf des Forschungsprozesses zunehmenden „Wahrheitsnähe“ von Theorien durch diesen Anpassungsbegriff ersetzt, steht auch die strokturalistisch interpretierte kritisch-rationalistische Falsifikationsmethodologie im Einklang mit v. Glasersfelds Position. Kritische Rationalisten gehen wie Stnikturalisten vom Primat der Theorien gegenüber der Empirie aus und betrachten Empirie als „theoriegeladene“ Beobachtung, die im Forschungsprozeß benötigt wird, um die Nützlichkeit der vorgeordneten „erfundenen“ Konzepte zu prüfen. Weitergehende, mit der strukturalistischen Position unvereinbare methodologische Implikationen des radikalen Konstruktivismus sind uns aus v. Glasersfelds Erläuterungen nicht ersichtlich.

((7)) Radikaler Konstruktivismus als kognitionspsychologische Theorie: Unter der zweiten möglichen Lesart formuliert v. Glasersfeld nicht eine wissenschaftstheoretische Position, sondern eine allgemeine Theorie des menschlichen Wissens, d.h. eine Theorie über kognitive Strukturen, die Menschen verwenden, um mehr oder weniger erfolgreich mit der Realität umzugehen. Diese Strukturen sollten nach v. Glasersfeld nicht als Repräsentationen der Realität, sondern als “interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” ((1)) aufgefaßt werden. Um diesen Prozeß der Realitätskonstruktion zu beschreiben, zieht er Piagets Konzept des Handlungsschemas und die zugehörigen Prinzipien der Assimilation und Akkomodation heran ((29) - (35)). Aus unserer Sicht ist vor allem die Frage interessant, inwiefern sich die auf diesem Wege entstehenden Realitätskonstruktionen von den Wissensstrukturen unterscheiden, die in gängigen kognitionspsychologischen Theorien angenommen werden. Bedeutsam ist für uns auch, ob sich Unterschiede zwischen radikal-konstruktivistischer und traditioneller Auffassung in forschungspraktischen Konsequenzen niederschlagen.

((8)) Der Begriff der mentalen Repräsentation gilt in der kognitiven Psychologie als zentrales theoretisches Konzept “Mit diesem Begriff wird auf systeminteme Zustände verwiesen, von denen man annimmt, daß sie systemexterne Zustände abbilden” (Engelkamp & Pechmann, 1993, S. 7). Dieser Abbildcharakter mentaler Repräsentationen wird von vielen Autoren betont (z.B. Hermann, 1993; Kluwe & Haider, 1993; Tack, 1987), zugleich aber auch stark problematisiert. Unklar ist beispielsweise, was durch solche Repräsentationen abgebildet wird, die sich nicht auf einfache physikalische Reizkonfigurationen (z.B. grüne Dreiecke), sondern auf psychische (z.B. Emotionen) oder soziale Phänomene (z.B. den Konfuzianismus) beziehen (Hermann, 1993). Eine andere Frage bezieht sich darauf, was eigentlich durch bestimmte nicht-propositionale Formen mentaler Repräsentationen (z.B. durch motorische Programme) abgebildet wird (vgl. Pechmann & Engelkamp, 1993). Kritisiert wird auch die Annahme, daß mentale Repräsentationen passive Abbildungen der Umwelt sind. Um den Prozeß der aktiven und selektiven Konstruktion mentaler Repräsentationen zu betonen, spricht man daher oft auch von mentalen Modellen (z.B. Opwis & Lüer, 1996) oder allgemein von Wissensstrukturen (Mandl & Spada, 1988).

((9)) Dieser konstruktive Charakter mentaler Repräsentationen und die Probleme der Abbildtheorie werden also innerhalb der Kognitionspsychologie durchaus thematisiert. Beid Aspekte entsprechen wesentlichen Kritikpunkten v. Glasersfelds an der traditionellen Auffassung mentaler Repräsentationen. Dennoch ist es nur in wenigen Fällen zur Einnahme eines explizit konstruktivistischen Standpunktes im Sinne v. Glasersfelds gekommen. Wie läßt sich diese schwache Reaktion auf konstruktivistische Einwände erklären? Sind die angesprochenen Schwierigkeiten möglicherweise doch nicht von so fundamentaler Natur, wie es v. Glasersfeld annimmt?

((10)) Nach unserer Auffassung widerspricht die radikal-konstruktivistische Position traditionellen kognitionspsychologischen Vorstellungen nur dann, wenn diese in naiv-realistischer Weise mentale Repräsentationen als mehr oder weniger korrekte Abbilder einer objektiv gegebenen Realität ansehen. Dies ist aber im allgemeinen gar nicht der Fall, da Kognitionspsychologen üblicherweise nicht kognitive Strukturen mit einer objektiven Realität vergleichen, sondern Theorien über mentale Repräsentationen aufstellen, in denen sie diese Repräsentationen mit dem Bild vergleichen, das in anderen (wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen) Darstellungen der jeweiligen Domäne entworfen wird (vgl. Kluwe & Haider, 1993). Beispielsweise untersuchen Chi, Feltovich und Glaser (1981) anhand von verbalen Protokollen, wie Anfänger und Fortgeschrittene Aufgaben aus dem Bereich der Physik klassifizieren und bearbeiten. Aus diesen Daten erschließen sie die Qualität der zugrunde liegenden mentalen Modelle bei Experten und Novizen, wobei diese Modelle nicht mit einer objektiven Realität verglichen werden, sondern z.B. mit Lehrbüchern der Physik. Ob eine der physikalischen Repräsentation entsprechende Realität objektiv existiert, ist von diesem Standpunkt aus unerheblich.

((11)) Vergleicht man darüber hinaus die von v. Glasersfeld bevorzugte Realitätskonstruktion im Sinne Fiagetscher Handlungsschemata mit eher traditionellen Konzeptionen mentaler Repräsentationen, so ergeben sich nur wenige forschungspraktische Unterschiede. Die von Anderson (1983,1993) innerhalb des ACT-Rahmens entwickelten Theorien unterteilen das kognitive System z.B. in einen deklarativen Teil, der Faktenwissen in Form eines semantischen Netzes enthält, und einen prozeduralen Teil, in dem Regelwissen in Form von Wenn-Dann-Regeln, den sog. Produktionen, gespeichert ist. Das kognitive System interagiert mit seiner Umwelt, indem es Reize mit Hilfe der im Gedächtnis verfügbaren Konzepte und Regeln interpretiert, d.h. kognitive Strukturen aktiv konstruiert. Zur weiteren Informationsverarbeitung wendet das System jeweils die Regeln an, die mit seinen aktuell aktivierten Zielen übereinstimmen. Es findet also eine ziel- und konzeptgeleitete Verarbeitung von Reizkonfigurationen aus der Umwelt statt, die sich als Assimilation im Sinne von Präget verstehen läßt. Die Regeln oder Produktionen des kognitiven Systems sind den Piagetschen Handlungsschemata vergleichbar. Wenn die Anwendung einer Produktion auf eine bestimmte Reizkonfiguration sich wiederholt als nicht zielführend erweist, wird sie durchprozedurale Lernprozesse modifiziert und dadurch besser an die Umwelt angepaßt. Ein solcher Lernprozeß entspricht einer Akkomodation von Systemkomponenten im Sinne Piagets ((35)).

((12)) Die Piagetsche und die traditionelle kognitionspsychologische Position unterscheiden sich allerdings deutlich im Ausmaß des postulierten Handlungsbezugs von Wissen. Nach Piaget steht Wissen grundsätzlich im Dienste des Handelns: Der Zweck des Wissens besteht nicht darin, die Welt zu er* kennen, sondern vielmehr darin, ein gut angepaßtes Handeln zu ermöglichen ((25), (57)). Diese Handlungsrelevanz von Wissen wird in kognitionspsychologischen Theorien oftmals nicht hinreichend berücksichtigt. Um dieses Defizit zu beheben, ist es erforderlich, kognitive Prozesse stärker als bisher in einen handlungspsychologischen Rahmen einzubetten und z.B. auch mit handlungsrelevanten motivationalen und volitionalen Prozessen zu verknüpfen (vgl. Gerjets, 1995; Gerjets, Heise & Westermann, 1996). Aus der konstruktivistischen Grundannahme der Handlungsrelevanz von Wissen ergibt sich jedoch nach unserer Auffassung keine Veranlassung, typische kognitive Architekturen oder die zugehörige experimentelle Forschung grundlegend zu modifizieren oder aufzugeben.

((13)) Fazit, v. Glasersfeld wendet sich gegen die Annahme, daß wir über Repräsentationen einer objektiv gegebenen Realität verfügen. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht führt seine Auffassung zu der Konsequenz, wissenschaftliche Theorien als konstruierte Strukturen zu betrachten, die weniger in bezug auf ihre Wahrheit, als vielmehr hinsichtlich ihrer Nützlichkeit evaluiert werden müssen. Die Argumente v. Glasersfelds erscheinen uns überzeugend, rennen jedoch offene Türen ein, da sie in modernen wissenschaftstheoretischen Positionen wie der strukturalistischen Theorienkonzeption bereits hinreichend berücksichtigt und methodologisch umgesetzt werden. Als kognitionspsychologische Position aufgefaßt, beruht v. Glasersfelds Kritik hingegen auf einer inadäquaten Interpretation psychologischer Forschungsaktivitäten. In der kognitionspsychologischen Forschung werden nicht mentale Repräsentationen mit einer objektiven Realität verglichen, sondern verschiedene Realitätsentwürfe miteinander. Eine konstruktivistische Konzeption mentaler Strukturen in Anlehnung an Piaget bringt nach unserer Auffassung keine fundamentalen Unterschiede in der Forschungspraxis mit sich. Die Notwendigkeit eines „tiefgreifenden Umbau[s) herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge" ((2)) durch eine radikal-konstruktivistische Perspektive erkennen wir daher nicht.

Literatur

Anderson, J.R. (1983). The architecture of Cognition. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Anderson. J.R. (1993). Ruies of the mind. Hillsdale, NJ: Erlbaum.
Balzer, W., Moulines, C.U. & Sneed, J.D. (1987). An airhitectonic for Science. The structuralbt pmgram, Dordrecbt: Reidel.
Chi. M.T.H.. Feltovich, P.J. Sc Glaser. R. (1981). Categorization and represcntation of physics Problems by expeits and novices. Cognitive Science, 5, 121-152.
Engelkamp, J. & Pechmann, T. (1993). Kritische Anmerkungen zum Begriff der mentalen Repräsentation. In J. Engelkamp & T. Pechmann (Hrsg.), Mentale Repräsentation (S. 7-16). Bern: Huber.
Gerjets. P. (1995). Zur Verknüpfung psychologischer Handlungs- und Kognitionstheorien. Frankfurt/M.: Lang.
Gerjets, P., Heise, E. & Westermann, R, (1996). Motivalionstendenz und Kognitionsstärke: Exemplarische Prüfung eines intertheoretischen Bandes zwischen einer Handlungs- und einer Kognitionstheorie. Sprache und Kognition, 75, 136-151.
Herrmann, T. (1983). Nützliche Fiktionen. Anmerkungen zur Funktion kognitionspsychologischer Theoriebildungen. Sprache & Kognition, 2, 88-99. Herrrmann, T. (1993), Mentale Repräsentation - ein erläuterungswilrdiger Begriff. In J. Engelkamp Sc T. Pechmann (Hrsg.). Mentale Repräsentation (S. 17-30). Bern: Huber.
Kluwe, R.H. Sc Haider, H. (1993). Modelle zur internen Repräsentation komplexer technischer Systeme. In J. Engelkamp & T. Pechmann (Hrsg.), Mentale Repräsentation (S. 127-146). Bern: Huber.
Mandl, H. & Spada, H. (Hrsg.). (1988). Wissenspsychologie. München: Psychologie Verlags Union.
Opwis, K. & Liier, G. (1996). Modelle der Repräsentation von Wissen, ln D. Alben Sc K.-H. Stapf (Hrsg.), Gedächtnis (Enzyklopädie der Psychologie, Serie Kognition, Band 4) (S. 337-431). Güttingen: Hogrefe.
Pechmann, T. Sc Engelkamp, 1. (1993). Mentale Repräsentationen - Verschiedene Sichtweisen eines Begriffs, ln J. Engelkamp Sc T. Pechmann (Hrsg ), Mentale Repräsentation (S. 162-175). Bern: Huber.
Tack, W. H. (1987). Ziele und Methoden der Wisscnsrepräsentation. Sprache & Kognition, 3. 150-163.
Westermann. R. (1987). Slrukturalistische Theorienkonzeption und empirische Forschung in der Psychologie. Berlin: Springer.

Michael Hoffmann – Verzicht auf Wahrheit, Existenz von Tatsachen und die Frage nach der “Radikalität” der “Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie”

((1)) Die “Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie”, wie sie Ernst von Glasersfeld im hier zu kritisierenden Hauptartikel zusammenfassend darstellt, soll im folgenden vor allem im Blick auf die verwandte Begrifflichkeit betrachtet werden.

((2)) "Herkömmliche" versus "radikal-konstruktivistische" Erkenntnistheorie. Gleich in Abschnitt ((1)) definiert von Glasersfeld die radikal-konstruktivistische Erkenntnistheorie, indem er sie von einer traditionellen abgrenzt, welche Wissen als “Widerspiegelung oder 'Repräsentation’ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Weit betrachtet”. Stattdessen solle Wissen “unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” verstanden werden. Diese scharfe Entgegensetzung scheint jedoch allzu schematisch zu sein, wenn wir bedenken, daß zwar z.B. Platon durchaus von einer “rational strukturierten Welt” ausgegangen ist, aber keineswegs Erkenntnis als “Widerspiegelung” begriffen hat. Wenn er auch keinen entfalteten Subjektbegriffhat, so zeigt sein Bemühen um die “Dialektik” als wissenschaftliche Methode doch - wie auch schon seine Konzentration auf das menschliche Lernen in den frühen, aporetischen Dialogen daß Erkenntnis nicht ohne Aktivität zu haben ist. Und Kants “Konstruktivismus”, der ja einer der Ausgangspunkte der Piagetschen Epistemologie war, kann durchaus als “herkömmlich” gelten, ohne dem genannten Bild von “herkömmlicher” Erkenntnistheorie im geringsten zu entsprechen.

((3)) Im Vergleich zu Kants “Konstruktivismus” unterscheidet sich Piagets Ansatz vor allem dadurch, daß es sich bei letzterem um eine genetische Epistemologie handelt, welche den Apriorismus Kants in eine Theorie der Entwicklung kognitiver, insbesondere logisch-mathematischer Strukturen zu transformieren versucht. Von Glasersfelds Konstruktivismus ist insofern “radikaler” als der kantische, als er auf “objektive Wahrheit” verzichten will ((60; vgl. 57, 37)), während Kant alles daran gesetzt hatte, bei seiner berühmten “Wende” auf die konstitutive Rolle des Subjektes jeden "Subjektivismus zu vermeiden und die Möglichkeit objektiver Erkenntnis zu garantieren. Damit wären wir beim nächsten Problem:

((4)) Was heißt es, den “Begriff der ontischen Wahrheit" aufzugeben und "auf objektive Wahrheit“ zu verzichten? Es ist nicht einfach zu sehen, was von Glasersfeld mit diesen Begriffen genau meint. Vielleicht helfen hier die Argumente weiter, die er für diesen Verzicht aufführt. Wenn ich das richtig sehe, nennt von Glasersfeld zwei Argumente, eines, das sich aus der Geschichte des Skeptizismus ergibt, und eines, das man ein “moralisches” nennen könnte; “Mit dem Verzicht auf objektive Wahrheit verliert alles Rechthaberische seinen Sinn” ((60)); der Konstruktivismus fordert ‘Toleranz” und er unterstützt Kants kategorischen Imperativ, indem er zum einen feststellt, “daß alle Individuen für ihr Handeln und Denken verantwortlich sind, und zweitens zeigt er, indem er jede Berufung auf eine absolute Wahrheit grundsätzlich widerlegt, daß die Viabilität von Gesetzen und Beschränkungen der individuellen Freiheit in der Gesellschaft ausgehandelt werden muß” ((63)). Obgleich dies begrüßenswerte Ziele sind, und diese Ziele möglicherweise aus einer konstruktivistischen Lebenshaltung resultieren mögen - wenn es so etwas geben sollte -, so bleibt doch das Verhältnis der von Glasersfeldschen “Wissenstheorie” und ihren möglichen “Anwendungen” in lebensweltlichen Kontexten ganz unklar.

((5)) Vorrangig für von Glasersfeld ist jedoch das auf den Skeptizismus bezogene Argument. Aus einer - um das Mindeste zu sagen - etwas pointiert formulierten Paraphrase eines Xenophanes-Fragmentes (DK B 34) zieht er die Schlußfolgerung, “daß die Richtigkeit oder ‘Wahrheit’ eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist” ((12)). Hier wird deutlich, daß von Glasersfeld einen Wahrheitsbegriff verabschieden will, der traditionel! als veritas est adaequatio rei et inteliectus definiert wird, also als Übereinstimmung oder Korrespondenz von Aussage und Sache. In der Philosophie sind schon lange gute Argumente gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit entwickelt worden, u.a. daß sie zirkulär ist, insofern die Feststellung der adaequatio bereits einen Zugang zur “Wahrheit” der Sache selbst voraussetzt, oder daß sie in einen infiniten Regreß fuhrt, da die Wahrheit der adaequatio-Relation selbst wiederum nur dann erkennbar ist, wenn eine weitere adaequatio-Relation zwischen der Sache und der ersten adaequatio-Relation gegeben ist, usw. All das ändert aber nichts daran, daß es in der Philosophie noch genügend andere, natürlich genauso kontrovers diskutierte Wahrheitsbegriffe gibt, zu denen der radikale Konstruktivismus sich in irgendeiner Weise verhalten müßte, wenn er als Erkenntnistheorie ernst genommen werden will. Dazu gehören z.B, die Kohärenztheorie der Wahrheit oder die Wahrheitstheorie des Peirceschen Pragmatismus, die es beide erlauben, zumindest an einem Wahrheitsbegriff festzuhalten, der die Möglichkeit von Wissenschaft als sinnvoll erscheinen läßt.

((6)) Problematisch scheinen jedenfalls Formulierungen wie: “Das logisch unanfechtbare Prinzip der Skeptiker, nämlich daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht ‘erkennen* können, war ein peinliches Hindernis in der Suche nach einem ‘wahren’ Weltbild” ((14)). Und: “Da die Argumente der Skeptiker die naturgetreue Spiegelung oder Repräsentation einer Realität logisch ausschließen,...” ((57)). Der Rekurs auf “Logik” macht hier keinen Sinn, denn erstens hat die Formulierung von Prinzipien nie etwas mit Logik zu tun, und zweitens läßt sich eine extensionsorientierte Behauptung “logisch” weder ausschließen noch bestätigen, denn die Logik hat es allein mit der Form von Sätzen zu tun, nicht aber mit deren Inhalt. So sind die oben genannten Zirkel- und Regreßargumente nicht “logisch” anstößig, sondern allein erkenntnistheoretisch, insofern sie uns darauf verweisen, daß bestimmte Definitionen uns keinen Erkenntnisgewinn bringen. In bezug auf die Skeptiker ist daraufhinzuweisen, daß diese sich wohl ins eigene Knie geschossen hätten, wenn sie alles angefochten hätten, nur ihre eigenen “Prinzipien” nicht. Die Selbstanwendung der skeptischen Position ist z.B. gerade das Kennzeichen der sog. pyrrhonischen Skepsis im Gegensatz zur akademischen Skepsis: Die These, Wissen sei unmöglich, muß selbst der Skepsis ausgesetzt werden. Die Rede von “Prinzipien” macht hier so wenig Sinn wie die von “Logik”.

((7)) Der Verweis auf die Geschichte der Skepsis führt zu einem weiteren problematischen Begriff, dem des Ontischen oder der ontologischen Gegebenheiten ((57-58)). Denn in der Geschichte des Skeptizismus, auf die sich von Glasersfeld beruft ((10-14,57)), wurde ja nicht nur die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt kritisiert, sondern auch die der “Realität” einer solchen Welt. So behauptet Gorgias (483-376 v.Chr.) in seinen berühmten drei Thesen, “daß erstens und vor allem nichts existiert, zweitens, daß wenn es auch existieren würde, es dem Menschen unerfaßbar wäre, und drittens, daß wenn es erfaßbar wäre, es dennoch dem Mitmenschen nicht mitteilbar und für ihn unverständlich wäre” (DK B 3). Und Descartes weist in seinem “Traum-Argument” daraufhin, daß selbst die scheinbar evidente Tatsache, "daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze”, falsch sein könnte, denn “Wachsein und Träumen können niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden” (Descartes Med. 1,4-5); denn, wie Barry Stroud 1984 das Argument ergänzt, jeder mögliche Test - z.B. sich zu zwicken - könnte selbst Teil eines Traumes sein, und so weiter ad inßnitum. Besonders plastisch wurde das Problem des “Außenwelt-Skeptizismus” von Hilary Putnam 1990 mit seinem Gedankenexperiment geschildert, daß wir alle “Gehirne in einem Tank” wären, deren scheinbare Bezüge zur Außenwelt nichts als Simulationen eines SuperComputers sind. Es scheint unmöglich zu sein, angesichts dieser Vorstellungen Argumente für die Existenz einer Außenwelt zu entwickeln, die nicht auf Positionen aufbauen, die durch die Anlage der skeptischen Vorstellung explizit ausgeschlossen sind - auch wenn das unserem natürlichen Gefühl vom “Dasein in einer Welt” diametral entgegensteht.

((8)) Ich will hier nicht dafür argumentieren, daß wir alle in einer Nährlösung herumschwimmende Gehirne sind, sondern nur darauf hin weisen, daß skeptische Positionen nicht nur die Erkenntnistheorie immer wieder vorangetrieben haben, sondern auch entscheidendes zur Problematisienmg ontologischer Vorstellungen heigetragen haben. Von Glasersfeld betont, daß der Konstruktivismus zwar wie jede Theorie auf Voraussetzungen beruhe, sich aber davor hüte, “diese Voraussetzungen, seien sie bewußt oder unbewußt, als ontologische Gegebenheiten zu betrachten” ((58)). Gleichzeitig behaupteter jedoch ein paar Zeilen vorher: “Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität...” (ebd.). Sind das miteinander zu vereinbarende Behauptungen? Er will den Begriff der “ontischen Wahrheit” durch einen Begriff ersetzen, den er definiert als “Brauchbarkeit” konstruierten Wissens “angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen” ((vgl. 57-58)). Wie wären aber diese “Hindernisse” ontologisch zu bestimmen? Es ergibt sich folgendes Dilemma: Entweder sind diese Hindernisse keine vorauszusetzenden “ontologischen Gegebenheiten”, die unabhängig von uns “existieren”, dann ist kaum zu sehen, wie sie dazu taugen sollen, die Brauchbarkeit unserer Begriffe und Theorien zu erweisen; oder aber sie sollen unseren Konstruktionen so etwas wie einen “Widerstand” entgegensetzen - was unabdingbar zu sein scheint, wenn der Begriff der “Anpassung”, der hier zentral ist ((23-28)), einen Sinn machen soll - dann müssen sie auf irgendeine Weise unabhängig von unseren Konstruktionen existieren. Der “ontische” Status, die Weise der “Existenz” dieser Hindernisse, stellt ein Problem dar, das zu klären ist, wenn die Theorie aus philosophischer Sicht schlüssig sein soll.

((9)) Für die radikal-konstruktivistische Wissenstheorie, welche die Aufgabe von Erkenntnis darin sieht, “das physische und mentale Gleichgewicht des Organismus durch Anpassung zu erhalten” ((57)) und Wissen durch seine “Brauchbarkeit” angesichts von Hindernissen bestätigt sieht, ist die Existenz von ‘Tatsachen” eine zentrale Voraussetzung. Von Glasersfeld bestimmt mit Emst Mach das Wesen der kognitiven Anpassung als "Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und an einander” ((24)). In seinem BuchRadikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme sagt von Glasersfeld diesbezüglich, daß ein Zusammenstoß mit Hindernissen uns nichts darüber sagt, “welcher Art die Hindernisse sind und wie eine Realität, die aus solchen Hindernissen besteht, strukturiert sein könnte. Die Erfahrung einer Kollision oder eines Scheitems sagt uns bloß, daß das angewandte Schema unter diesen besonderen Erfahrungsumstanden nicht erfolgreich funktioniert hat” (Glasersfeld 1996,130). Die damit gegebene Unterscheidung von existenten, aber unerkennbaren Tatsachen und den begrifflichen oder schematischen Konstruktionen eines Subjektes steht deutlich in der kantischen Tradition, der Begriff der Tatsache oder des Hindernisses erinnert an das Kantische “Ding an sich”. Zu denken wäre auch an Peirce und dessen Unterscheidung von “zweitheitlichem” und “drittheitlichem” Wirklichkeitsbezug, wobei ersterer eine unvermittelte und unreflektierte Beziehung meint, und letzterer eine durch kulturgeschichtlich gewachsene “Zeichen” und “Verhaltensweisen” vermittelte. Die Frage ist aber, ob allein aus dieser Unterscheidung die Schlußfolgerung von Glasersfelds ableitbar ist, daß wir die als existent gedachte “ontologische Realität” “nicht rational erfassen können” ((58)). Was heißt hier “rational erfassen”? Ich würde behaupten, daß der Begriff der Rationalität zumindest insofern unverzichtbar ist, um vollkommen willkürliche “begriffliche und schematische Konstruktionen eines Subjektes” von angemessenen zu unterscheiden. So* wäre für Peirce Rationalität schon dann gegeben, wenn sich die Theorienbildung im Rahmen drittheitlicher - und sich natürlich entwickelnder - Kontexte bewegt. ((10)) Die Konklusion? Der “radikale” Konstruktivismus ist “radikal” nur dahingehend, daß er ohne Not die Rationalität und Objektivität wissenschaftlichen Erkennens für unmöglich erklärt, anstatt sich angesichts der richtig erkannten Probleme des Erkennens um einen Rationalitätsbegriff zu bemühen, der zumindest die Abgrenzung von Irrationalität erlaubt.

Literatur

Descartes, Reat (Med.). Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (Meditationes de prima philosophia). 2. cd. (Auf Grund d. Ausg. von Artur Buchenau neu hrsg. von Lödsr Gäbe. Durchges. von Hans Günter ZekL Philosophische Bibliothek 250a). Hamburg 1977: Meiner.
DK Die Fragmente der Vörsokratiker: griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. v. Walter Kranz. 17. cd. 3 vols. Zürich et al. 1989: Weidmann.
Glasersfeld, Emst von (1996). Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme (Radicat Constructivism, 1995). Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw 1326).
Putnam, Hilaiy (1990). Vernunft, Wahrheit und Geschichte (Reason, Truth and History, 1981). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Stroud, Barry (1984), The signiftcance of phitosophical sceptieism. Oxford: Clarendon Pr.

Peter Janich – Radikal halbherzig. Die Wissenstheorie E. v. Glasersfelds

((1)) Dem „Radikalen Konstruktivisten“ E. v. Glasersfeld in seinem Grundanliegen zuzustimmen, daß jede Theorie von Erkenntnis, Wissen oder Wahrheit konsequent instrumentalistisch zu sein hat, weil alle Varianten realistischer, ontologischer oder abbildtheoretischer Art sinnlos und/oder unhaltbar sind, fällt mir leicht. Der in meiner Philosophengruppe entwickelte „Methodische Kulturalismus“ ist eine Weiterentwicklung des .Methodischen Konstruktivismus“ der Erlanger Schule und weist in den Ahnengalerien der beiden Konstruktivismen bei S. Ceccato und H. Dingler sogar einen frühen Kontakt auf. Umso bedauerlicher ist es, daß v. Glasersfeld bisher mit der methodischen Philosophie unserer Tradition nicht in Berührung gekommen ist, da sie elaborierte Lehrstücke zu Handlungstheorie, Sprachphilosophie, Logik, Theorie der Wahrheit, geistesgeschichtliche Beiträge zu Grundsätzen des Konstruktivismus selbst sowie Prototheorien zu Physik, Chemie, Biologie und Psychologie aufzuweisen hat, die fundamentale Probleme des Glasersfeldschen Ansatzes vermeiden oder überwinden können.

((2)) In Kenntnis des im Hauptartikel (in ((3))) erwähnten Buches, der Kürze halber aber allein mit Bezug auf diesen Artikel, seien im folgenden drei Defizite dargestellt, nämlich ein sprachphilosophisches, ein pragmatisches und ein kulturalistisches Defizit, die sich alle drei einem grundsätzlichen Anschluß Glasersfelds an naturwissenschaftliche Ergebnisse verdanken. Dies zeigt sich insbesondere auch an Autoren (E. Mach, J. Piaget, Ch. Darwin und N. Wiener), auf die sich Glasersfeld exemplarisch bezieht.

((3)) Erster Einwand: Text wie Ansatz v. Glasersfelds weisen ein sprachphilosophisches Defizit auf, und zwar in zweifacher Hinsicht, nämlich (1) in der Ungeklärtheit seiner eigenen Schlüsselbegriffe, und (2) in seiner eigenen Sprachphilosophie (in Form einer Bedeutungstheorie). Zu (1): Folgende Wörter werden im Vertrauen auf eine hinreichend geklärte Verwendung (und in weitgehender Übernahme von Referenz-Autoren) benützt, ohne daß in ausdrücklichen Explikationsversuchen deren Verträglichkeit mit dem konstruktivistischen Grundanliegen geprüft bzw. hergestellt würde: Tatsache (nach Mach), Handlung (nach Piaget), Erfahrung (in allgemein bildungssprachlicher, empiristisch beeinflußter Verwendung), Bedeutung (in Piaget- Wiener‘scher Mischform). Die Konsequenzen dieser unkritischen Übernahmen sind in ((7)) und ((8)) dargestellt. Zu (2): Die Bedeutungstheorie Glasersfelds (in Hauptartikel und Buch) ist zwar kritisch gegen eine abbildtheoretische Auffassung von Referenz gerichtet, wird jedoch weder der semantischen und pragmatischen Struktur von Alltags-, Wissenschafts- und Philosophiesprache gerecht (mit Unterschieden zwischen Eigennamen, Prädikaten, abstrakten, ideativen und Reflexionsbegriffen, logischen Partikeln usw.) noch deren perfonnativen Varianten des Aufforderns, Fragens, Behauptens, Bestreitens, Versprechens usw., noch der Einbettung von Sprachenverb und Sprachausübung in eine konstruktivistisch rekonstruierte Praxis einer menschlichen Gemeinschaft, die nicht zum Selbstzweck kommuniziert, sondern kooperiert und dabei Sprache nur als einen Teil einer nach Gelingen und Mißlingen bewerteten Kooperation ausübt. (Vgl. hierzu Literaturverzeichnis)

((4)) Zweiter Einwand: Text und Ansatz Glasersfeld weisen insofern ein pragmatisches Defizit auf, als (in Übernahme des Biologismus von Piaget) ein Handlungsbegriff Verwendung findet, dem eine grundlegende Unterscheidung fehlt: die Unterscheidung von absichtsvollem Vollzug und bloß widerfahrnishaftem Ablauf. Für Glasersfeld sind es „Organismen“, die „handeln“, z. B. in ((25)) und ((30)). „Organismus“ ist aber ein Terminus der Biologie. Den Menschen als Organismus zu betrachten, ist für den Objektbereich biologischer, also bio-wissenschaftlicher Aussagen sinnvoll. Die Biologie aber, die übrigens von Menschen und nicht von Organismen (nämlich wegen der mit biologischen Aussagen verknüpften Geltungsansprüche) gemacht wird, unterscheidet in ihrem Objektbereich nicht, was jeder normalsinnige Mensch unterscheiden kann und muß, nämlich z. B. zwischen widerfahrnishaften Abläufen wie stolpern, erschrecken, niesen müssen, einer Sinnestäuschung erliegen, und Handlungen wie einen Schlüssel suchen, einen Kuchen backen, einen Freund grüßen, ein Verbum konjugieren, einen Satz auf seine Geltung hin beurteilen. Diesen Unterschied zu machen ist nicht nur eine unverzichtbare Bedingung für eine sozial hinreichend kompetente Teilnahme am Alltagsleben (und als Handlungskompetenz von Piaget glatt vergessen), sondern auch unverzichtbare Bedingung für das Treiben von Biowissenschaften. Neben anderem entgeht Glasersfeld damit die wichtige Rolle der Poiesis, d. h. des herstellenden Handelns mit seinen eigenen Formen der Rationalität (wie z. B. der Nichtvertauschbarkeit von Teilhandlungen einer Handlungskette bei Beibehaltung eines bestimmten Herstellungszwecks), und damit der klarste Paradefall für die Zweckrationalität menschlichen Handelns. Wo Naturalisten nicht zwischen einem Termitenhügel und einem gotischen Dom unterscheiden können, erlaubt eine Überwindung des pragmatischen Defizits v. Glasersfelds eine Beurteilung der Handlungsprodukte auf Erreichen oder Verfehlen der mit ihnen verfolgten Zwecke, kurz eine Beurteilung auf Gelingen und Mißlingen hin. Damit fehlt dem Konstruktivismus Glasersfelds das Kriterium der Zweckrationalität in der Mittelwahl menschlich-kultureller Praxen, darüber hinaus aber auch ein Zugang zum wohl wichtigsten Aspekt von Moral und Politik: der Möglichkeit und Verpflichtung, Zwecke, Folgen und Nebenfolgen eigenen Handelns in Rechtfertigungsabsicht zu bedenken. Kurz, die erkenntnistheoretisch wie ethisch unverzichtbare Unterscheidung von normativ und deskriptiv ist seinem handlungstheoretischen Defizit anzulasten.

((5)) Dritter Einwand: Man kann es als ein kulturalistisches Defizit bezeichnen, daß die Situiertheit des Menschen in einer menschlichen Gemeinschaft unberücksichtigt bleibt, die ihrerseits einen kulturhistorischen Ort hat, wenn das Individuum den Machschen Tatsachen ausgesetzt, den Piagetschen Assimilationen und Akkommodationen unterworfen wird und durch Wienersche Kybernetik und Selbstorganisation zu Wortbedeutungen findend seine Lebensjahre von Geburt an durchläuft. Es ist gleichsam das aus der Klassischen Physik in die Biologie hinein übernommene Vorurteil, den einzelnen Körper (Organismus) als eine Art passiven Empfänger von Umwelteinflüssen (einschließlich solcher der Umweltdinge „Mitmenschen“) zu konzipieren. Spracherwerb, Stabilität durch Äquilibration (Piaget) und schließlich „Viabilität“ sind nach v. Glasersfeld Erwerbungen bzw. Leistungen immer des Individuums. Sein ganzer Konstruktivismus betrifft jedoch nicht ein geschichts- und kulturloses Vakuum, weder auf der Ebene des Alltagslebens noch auf der Ebene der Objekte von Naturwissenschaften, die von Menschen mit Alltagsleben hervorgebracht werden, noch auf der Ebene eines philosophischen Konstruktivismus, der ebenfalls von Menschen mit Alltagsleben in Reflexion auf Alltagsleben, Naturwissenschaften und Philosophiegeschichte erzeugt wird. Neben manch zustimmungsfähigen Aspekten leidet daher die Glasersfeldsche Sprachphilosophie unter den rüden Anschlüssen N. Wieners an Descartes (im Telegrammstil: Tiere sind Maschinen. Menschen sind Tiere, also sind Menschen Maschinen.) und vergißt damit, daß, gut konstruktivistisch, die Konstitution von Objekten (Dingen, Halbdingen [H. Schmitz] wie „eine Stimme“, Ereignissen usw.) nur in der immer auch kultürlichen Zweckorientiertheit gemeinschaftlichen Zusammenlebens zustande kommt und auf ihren Nutzen hin bewertet werden kann.

((6)) These war, diese drei Defizite verdankten sich einem unkritischen Anschluß v. Glasersfelds an Ergebnisse und Denkweisen der Naturwissenschaften. Dem ist jetzt hinzuzufügen: Einem Anschluß, der unterstellt, es sei bereits ausgemacht, also konstruktivistisch verstanden, daß diese Resultate und Denkweisen ihrerseits ein Wissen sind, also mit einlösbaren Geltungsansprüchen vertreten werden können. Im Versuch, dies zu verdeutlichen, werden jetzt, wie oben versprochen, einige der unerläuterten Grundbegriffe bei Glasersfeld noch einmal betrachtet.

((7)) Zustimmend übernimmt Glasersfeld Machs Redeweise von Tatsachen. Hier wird der Teufel einer Ding-Ontologie mit dem Beelzebub einer Tatsachen-Ontologie ausgetrieben, denn „Tatsachen“ sind bei Mach gleichsam die unhintergehbaren, primären Bausteine seiner Theorie - so undefiniert wie unreflektiert. Mehr noch als „Erkenntnis und Irrtum" ist Machs Buch „Die Analyse der Empfindungen“ einschlägig. Da wird von „sinnlichen Tatsachen“, „Tatsachen der Wahrnehmung“, aber auch von „einfachsten geometrischen Tatsachen“ oder von einem „Gebiet von Tatsachen, das teleologisch vollkommen durchschaut ist“, gesprochen, aber auch „der wüsteste Traum“ eine Tatsache genannt. Tatsachen sollen in Gedanken dargestellt, Gedanken an Tatsachen angepaßt und Tatsachen mit neuen sinnlichen Elementen bereichert werden (alle Zitate aus „Die Analyse der Empfindungen“). Mach, der ja nicht beansprucht hat, ein Konstruktivist zu sein, hat übersehen, daß erst ein erwachsener, sprach- und handlungskompetenter Mensch, der außerdem an Naturwissenschaft und Philosophie geschult ist, seinen Begriff der Tatsache bilden kann. Ich setze die methodisch-konstruktive Auffassung dagegen: Das Wort „Tatsache“ soll synonym mit „wirklicher Sachverhalt“ verwendet werden. Es dient zur Unterscheidung z. B. von fingierten Sachverhalten in Märchen und Lügen. Jede Aussage (im logischen Sinn) stelle per definitionem einen Sachverhalt dar. So kann man z. B. von einem geometrischen, einem historischen oder einem psychischen Sachverhalt sprechen, wenn die ihn darstellende Aussage der Geometrie, der Geschichtswissenschaft oder der Psychologie zugerechnet wird. Ebenfalls per definitionem mögen wahre Aussagen wirkliche Sachverhalte darstellen. Das auch von Glasersfeld angegriffene Ontologie-Schema, die Wirklichkeit für etwas menschenunabhängig Gegebenes zu halten, wird in diesem methodisch-konstruktiven Vorschlag dadurch vermieden, daß Tatsachen (wirkliche Sachverhalte) als Konstruktionen in wahren Aussagen verhandelbar werden, wo „wahr“ selbstverständlich dann nicht mehr durch Bezug oder Passung auf irgendeine menschenunabhängige Wirklichkeit definiert werden kann. Vielmehr muß man angeben, nach welchen Kriterien und Regeln etwa eine Aussageform logisch wahr, ein Satz über die Winkelsumme im Dreieck geometrisch wahr, ein Satz über die Kaiserkrönung von Karl dem Großen historisch wahr, ein Satz über Sinnestäuschungen psychologisch wahr ist usw.

((8)) Das Wort „Erfahrung“ ist bei Glasersfeld so unbestimmt wie in den begrifflich völlig unscharfen Selbstverständigungsaussagen und Bekenntnissen von Naturwissenschaftlern. Es scheint die ganze Spannweite abdecken zu sollen, die von lebensweltlichen zu wissenschaftlichen und philosophischen Widerfahrnissen reichen, sich an einem Dom zu stechen, eine Sternschnuppe zu sehen, in dünnes Eis einzubrechen, einen geometrischen Beweis nicht fertig zu bringen, ein Experiment durchzuführen, von einem Menschen enttäuscht zu werden, einen Satz Hegels nicht zu verstehen usw. Nicht kommt dabei in den Blick, daß wir lebensweltlich, wissenschaftlich und philosophisch, auch als Konstruktivisten, über Erfahrungen reden, diese dabei durch Erfahrungsurteile darstellen, dafür den Unterschied von gelungener und mißlungener Darstellung sowie den Unterschied von gültiger und nicht gültiger Darstellung in Anspruch nehmen und außerdem unverbrüchlich sicher wissen, daß wir in diesem Zusammenhang die überraschenden Erfahrungen (wenn lästig oder köstlich) gerne in Wiederholung vermeiden oder provozieren wollen. Insbesondere in den Wissenschaften finden wir eine hochentwickelte Kunst vor, Erfahrungen systematisch im Experiment zu wiederholen. Kurz, Erfahrung ist, wo sie zu gültigen Erfahrungsurteilen führen soll. Widerfahrnis im Handeln. Im bezweifelnden und begründenden Dialog über Erfahrungen wird immer die absichtsvolle Wiederholbarkeit von Handlungen zur Wiederholung des betreffenden Widerfahrnisses eine zentrale Rolle spielen. Die von den Naturwissenschaften in der Forschung de facto immer praktizierte, in ihren Theorien aber nie berücksichtigte Zwecksetzungsautonomie des handelnden Menschen ist dafür unverzichtbar. Insofern ist oben behauptet worden, v. Glasersfeld übernimmt unkritisch eine Denkweise von den Naturwissenschaften und bleibt gerade in dieser Hinsicht ganz und gar unkonstruktivistisch.

((9)) In der Hoffnung, Herr v. Glasersfeld wird es nicht als unfair empfinden, ihn mit einem anderen Radikalen Konstruktivsten zu konfrontieren, beziehe ich mich auf die These H. v. Foersters, die Wahrheit sei eine Erfindung eines Lügners („Die Zeit“ Nr. 4,1998, S. 41). (Sicher verstehen wir unter „lügen“, absichtsvoll etwas anderes zu sagen, als man für wahr hält, so daß nicht nur das Lügen als Handlung ein Für-wahr-halten in Anspruch nimmt; auch das Wort „lügen“ kann nicht ohne das Wort „wahr“ sinnvoll erläutert werden, auch nicht durch H. v. Foerster.) Ich bin nicht überzeugt, daß die radikal-konstruktivistische Kritik an abbildtheoretischen Wahrheitsbegriffen im ernst so weit getrieben werden kann, daß überhaupt nicht mehr wahr und falsch unterschieden, und dazu selbstverständlich entsprechende Diskurse geführt und die entsprechenden philosophischen Klärungen bereitgestellt werden sollen. Es würde nämlich nicht nur unser gesamtes Rechtssystem, ja überhaupt unser Gemeinschaftsleben zusammenbrechen, viel schlimmer noch, die Radikalen Konstruktivsten könnten ihre Position weder konstruieren noch formulieren. Bei allen, zum Teil erheblichen Differenzen zwischen den Vertretern des Radikalen Konstruktivismus sind sie alle (bis auf S. J. Schmidt) Naturalisten geblieben insofern wenigstens, als sie spezifisch naturwissenschaftliche Denkweisen übernommen und dabei Resultate der Naturwissenschaften als gültig unterstellt haben, bei v. Glasersfeld mit Sicherheit nicht mit derselben Naivität wie z. b. bei U. Maturana, aber letzten Endes doch. Sie tun dies, weil sie selbstverständlich selbst nicht ganz ohne Behauptungen und Einwände auskommen, im Vollzug von Handlungen. Dabei werden sie nicht gewahr, daß der vermeintliche Rückzug auf die Rolle des (naturwissenschaftlichen oder Naturwissenschaftler-ähnlichen) Beobachters und damit des reinen Beschreibers selbst wieder nur im Vollzug möglich ist. Durch diese Lücke im Gewahrwerden des eigenen Handelns unterläßt es v. Glasersfeld, die in seinen Ansatz investierten Übernahmen naturwissenschaftlicher Denkweisen und Resultate selbst konstruktivistisch in Frage zu stellen und zu rekonstruieren. In diesem Sinne ist paradoxerweise der Konstruktivismus, der sich in der Namensgebung durch v. Glasersfeld (im Anschluß an Piaget) selbst „radikal“ nennt, nicht im geringsten radikal, sondern nur halbherzig.

Literatur

Gutmann, M.: Die Evolutionstheorie und ihr Gegenstand. Beitrag der methodischen Philosophie zu einer konstruktiven Theorie der Evolution, Berlin 1996.
Hartekamp, G.: Protochemie. Vom Stoff zur Valenz, Würzburg 1997.
Hartmann, D., Janich, P. (Hg.): Methodischer Kulturalismus Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt 1996.
Hartmann, D., Janich, P. (Hg.): Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt 1998.
Hartmann, D.: Konstruktive Fragelogik. Vom Elementarsatz zur Logik von Frage und Antwort, Mannheim/Wien/Zürich 1990.
Hartmann, D.: Philosophische Grundlagen der Psychologie, Darmstadt 1998.
Janich, P.: Grenzen der Naturwissenschaft. Erkennen als Handeln, München 1992.
Ders.: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kuliuralismus, Frankfurt 1996.
Ders.: Was ist Wahrheit? München 1996.
Ders.: Das Maß der Dinge. Protophysik von Raum. Zeit und Materie, Frankfurt 1997.
Kamlah, W.; Lorenzen, P.: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Marnnheim/Leipzig/Wien/Zürich 1992.
Mach, E.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. 2. Aufl. 1900.
Schmidt, S. J. (Hg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt 1992.
Schmitz, R: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990.
Weingarten, M.: Wissenschaftstheoric als Wissenschaftskritik. Beiträge zur Kulturalistischen Wende in der Philosophie, Bonn 1998.

Marlis Krüger – Über einige Schwierigkeiten des Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld

((1)) Die Lektüre des Artikels über „Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie“ von Ernst von Glasersfeld hat bei mir eine gewisse Hilflosigkeit hinterlassen. Es ist mir nicht klar geworden, warum und wozu der Autor dies geschrieben hat: Eine reine PR-Aktion für sein Buch, wie sie in der Zusammenfassung impliziert ist, möchte ich ihm nicht unterstellen. Warum aber dann?

((2)) Seit längerer Zeit haben konstruktivistische Ansätze in der Philosophie und Wissenschaftstheorie neue Perspektiven eröffnet und die gemeinhin akzeptierten Standards der ‘Wahrheit’, ‘Objektivität’ und ‘wissenschaftlichen Methoden’ in den Sozial- und Geisteswissenschaften und z.T. auch in den Naturwissenschaften herausgefordert oder wie im französischen Poststrukturalismus ganz ad acta gelegt.

((3)) In Einzelwissenschaften wie z.B. Neurobiologie, Psychologie, Kulturwissenschaften, Soziologie, Ökonomie gibt es konstruktivistische Ansätze z.T. schon seit mehr als 30 Jahren, wenngleich sie in der Soziologie und Ökonomie nur bei der Analyse von Mikroprozessen relevant geworden sind.

((4)) Vertreter des sog. ‘strong Programme in the sociology of knowledge’ haben in Untersuchungen zur Geschichte der Naturwissenschaften die Behauptung aufgestellt, daß unendlich viele andere Theorien hätten erfunden (“konstruiert”) werden können, um bestimmte Daten zu interpretieren. Die “Unterdetermination” der Theorien durch Daten in den Naturwissenschaften mache Wissenschaft zu einem Unternehmen der Überredung, der Rhetorik und der Verfolgung und Durchsetzung von Machtinteressen.

((5)) Philosophen wie z.B. Christopher Noms (1997) und Naturwissenschaftler wie z.B. der Embryologe Lewis Wolpert (1993) haben sich kritisch mit den Herausforderungen des sozialen Konstruktivismus auseinandergesetzt und den privilegierten Status wissenschaftlichen Wissens verteidigt. Im Feminismus - um einen anderen relevanten Diskurs zu nennen - wird engagiert über die Konstruktion des “Geschlechts” und die Gefahren einer “Entleiblichung” diskutiert.

((6)) Es ließen sich viele andere Beispiele von Diskursen anführen, in denen die Fragen diskutiert werden, die der Autor in seinem ersten (philosophischen) Teil (((4)) - ((22))) anspricht: Merkwürdig ist, daß Glasersfeld in dem von ihm propagierten Radikalen Konstruktivismus nicht auf eine (oder mehrere) der gegenwärtig ablaufenden Debatten über sein Thema Bezug nimmt. Hält er alle diese Diskussionen für überflüssig oder für seine eigene Arbeit irrelevant? Warum ignoriert er den (sozialen) Kontext von miteinander kommunizierenden Philosophlnnen bzw. Wissenschaftlerlnnen, die z.B. über den Status von ‘Realität’, die Möglichkeiten einer ontischen Wahrheit sowie Kriterien von Wissenschaftlichkeit heftig streiten? Wie unterscheidet er seine konstruktivistische Position von den vielen anderen, die heute auf dem Markt sind?

((7)) Der Autor argumentiert auf drei Ebenen: 1. auf der Ebene der Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie, 2. auf der Ebene einzelwissenschaftlicher Theorien, Modelle, Befunde, wobei Piagets Entwicklungspsychologie im Zentrum steht; 3. benennt er in der Zusammenfassung mögliche Praxisfelder seines Konstruktivismus wie z.B. Familientherapie und Didaktik (vgl. ((59))).

((8)) Glasersfeld erklärt nicht, wie diese drei Ebenen zusammenhängen (sollen). Ich habe den Eindruck, daß er seine konstruktivistische Erkenntnisteorie durch Piagets ‘Genetische Epistemologie’ begründen will. Das halte ich für problematisch, da dies der Hypostasierung einer einzelwissenschaftlichen Theorie gleichkäme, einer Theorie, die vielfältigen Kritiken ausgesetzt war und ist.

((9)) Was die praktische Anwendung seiner konstruktivistischen Position betrifft, so überrascht mich, daß der Verfasser dabei primär an das ‘tägliche Leben’ ((60)) denkt, denn die von ihm diskutierten ‘Handlungen’ weisen sich primär dadurch aus, daß sie tendenziell un-sozial, d.h. rein individualistisch, a-kulturell und unhistorisch gedacht werden. Es fehlen außerdem jegliche Formen von Objektivationen, die für die Dialektik des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in der Alltagswelt konstitutiv sind (vgl. Berger/Luckmann 1966).

Literatur

Peter Beiger/Thomas Luckmann 1966: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. New York
Feministische Studien, Kritik der Kategorie 'Geschlecht', 11. Jg„ Nov. 1993. Nr . 2
Christopher Nortis 1997: Against Relativism. Philosophy of Science, De- construction and Critical Theory, Oxford
Lewis Wolpert 1993: The Unnatural Nature of Science, London

Ronald Kurt – Das Prinzip Beliebigkeit

((1)) Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie ist sowohl für die Wissenschaft als auch für den Alltag ein brauchbares Modell - behauptet Ernst von Glasersfeld. Ich möchte dem hier in aller Schärfe widersprechen und meinerseits behaupten, daß sich die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie in jeder Hinsicht in Beliebigkeit verfängt. In meiner Kritik beschränke ich mich auf drei Einwände. Sie beziehen sich auf a) den universalistischen Anspruch einer ahistorischen Argumentation; b) die Nichtberücksichtigung der Phänomenologie; c) die Beliebigkeit des Brauchbarkeitsprinzips.

((2)) ad a) Das beste Argument für die Brauchbarkeit der radikal-konstruktivistischen Wissenstheorie ist, daß sie gebraucht wird (59). Aber diese rekursive Begründung ist Glasersfeld nicht wichtig. Wichtig ist ihm etwas anderes: Er will die Relevanz der von ihm vertretenen Theorie durch die Rekonstruktion ihrer Quellen begründen. Das ist in der Wissenschaft nichts Unübliches. Doch in diesem Fall verwickelt diese Problemstellung in ein anspruchsvolles Erklärungsprogramm: schließlich will Glasersfeld eine Theorie ohne Wahrheitsanspruch gegen Theorien mit Wahrheitsanspruch behaupten. Er startet sein Verfahren mit der Absage an die Annahme, daß die Welt an sich erfahrbar ist. Die These lautet, daß subjektunabhängige, also objektiv wahre Erkenntnis unmöglich ist (1). Das ist die conditio sine qua non der Argumentation. Nicht umsonst beginnt (1) und endet (64) der Text mit der Behauptung dieses antiontologischen Standpunktes.

((3)) Für die richtige Einsicht, daß subjektive Vorstellungen von der Welt nie mit der (angenommenen) Welt an sich, sondern immer nur mit anderen subjektiven Vorstellungen von der Welt verglichen werden können (12), wird viel philosophische Autorität bemüht: von Xenophanes (11) und Protagoras (9) bis hin zu Einstein (8) und Piaget (25). Dennoch, Glasersfelds Bezug auf die Geschichte überzeugt mich nicht. Denn ihm geht es nicht um die systematische Rekonstruktion der soziohistorischen Entwicklung (s)eines Denkmotivs. Vielmehr will Glasersfeld zeigen, daß seine Theorie immer schon da gewesen ist und daß es einer gut zweitausendjährigen Inkubationszeit bedurfte, bis der radikale Konstruktivismus zum Durchbruch kommen konnte. Diese seltsame Teleologie wird von einem Anspruch getragen, der die ganze Menschheit umfassen will (5)(10). Diesen Universalismus halte ich für völlig unangemessen. Mit welchem Recht kann man ein typisch abendländisches Denkmotiv zum Maß der Menschheitsgeschichte machen? Der Geist des Skeptizismus ist nicht überall zu Hause. Für die meisten Menschen ist die wirklich wahre reale Weit nach wie vor eine fraglose Gegebenheit. Ein Hindu im Himalaya zum Beispiel wird sich gegenüber den Prinzipien der Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie wenig verständig zeigen (können).

((4)) Auf der Rückseite dieses universalistischen Anspruchs steht ein äußerst partikularistischer Umgang mit dem abendländischen Denken. Glasersfeld nimmt sich (gemäß der obersten Maxime seiner Theorie), was ihm viabel erscheint. Dabei führt er philosophische und naturwissenschaftliche Konzepte ineinander, ohne über die Bedingungen für die Möglichkeit dieser Syntheseversuche aufzuklären (23). Patchwork mag in der Kunst seine Berechtigung haben, in der Wissenschaft sind Collagetechniken meiner Meinung nach jedoch fehl am Platz. Glasersfelds Argumentation hätte mich mehr überzeugt, wenn sie sich noch konsequenter auf die Epistemologie Piagets bezogen hätte.

((5)) ad b) Vermißt habe ich bei Glasersfelds Streifzug durch die Philosophiegeschichte den Hinweis auf die Phänomenologie. Schließlich beschäftigt sich die phänomenologische Theorie schon seit nunmehr hundert Jahren mit genau den Problemen, die auch der Radikal-Konstruktivistischen Wissenstheorie zu Grunde liegen. Ein Vergleich dieser beiden Ansätze ist aufschlußreich.

((6)) Genauso wie die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie, so verzichtet auch die Phänomenologie Edmund Husserls auf die Annahme der Erkennbarkeit „einer realen Welt“ (64). An die Stelle der Welt an sich tritt bei Husserl die Welt für uns: die Lebenswelt. (Auch Glasersfeld verwendet diesen Begriff (58) (!)). Die Lebenwelt ist die Welt, in der wir gemeinsam mit anderen leben. Und diese Welt erfinden wir nicht (9). Wir finden sie vor. Natürlich nicht als ontologische Vorgabe, sondern in Form von soziohistorisch bedingten Sinnkonstruktionen, die wir im sozialen Aufeinanderbezogen-sein erlernen, anwenden und verändern. Sozialer Sinn wird dabei in der Regel nicht ausgehandelt (42) (62), sondern zumeist mit Macht (oder auch Liebe) durchgesetzt. Bedeutungen aushandelnde freie Individuen gibt es nur in der Theorie. In der Praxis wird kontextbezogen kommuniziert, nach Spielregeln, die die Handelnden wechselseitig als bekannt voraussetzen. Von diesen Vorgaben sozialer Ordnung scheint das radikal-konstruktivistische Subjekt befreit zu sein. Es erfindet sich seine Welt.

((7)) ad c) Glasersfeld schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn er aus der Unmöglichkeit der Erkenntnis der realen Welt folgert, daß Wissen unbedingt „als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts“ (1) zu verstehen sei. Dieser Schluß ist nicht logisch; er ist ideologisch. Er (ver-)führt zu der illusionären Auffassung, daß sich jeder Mensch ganz und gar selbst bestimmen kann. (In diesem Punkt halte ich den radikalen Konstruktivismus für radikal konstruiert.) Losgelöst von intersubjektiv geteilten Nonnen, Werten und Wahrheiten soll der Mensch als pragmatischer Problemlöser viable Konzepte kreieren. Das entspricht dem abendländischen Zeitgeist, aber mit diesem utilitaristisch verkürzten Menschenbild kann ich mich nicht anfreunden. ‘Alles ist immer auch anders möglich' und 'was sich „beim Verfolgen unserer Ziele“ (58) bewährt, wird als Problemlösungsschema beibehalten’. Zwischen diesen beiden Polen pendelt das radikal-konstruktivistische Individuum hin und her. Mit dem damit einhergehenden „Verzicht auf objektive Wahrheit verliert alles Rechthaberische seinen Sinn“ (60). Das ist wohl wahr. Allein: auch das Rechthaben wird durch diese Einstellung unmöglich gemacht.

((8)) Die radikal-konstruktivistische Wissenstheorie kann weder für die Wissenschaft noch für den Alltag ein brauchbares Modell sein. Hier wie dort verführte sie zu einem beliebigen Gelten-lassen. Toleranz ist etwas anderes.

Theodor Leiber – Bemerkungen zum Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld

((1)) Ernst von Glasersfeld (EvG) gibt in seinem - notwendigerweise straffenden - EuS-Artikel “Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie” einen zusammenfassenden Überblick seiner Erkenntnislehre und erläutert deren Herkunft aus den vier Quellen des Skeptizismus, der Genetischen Epistemologie Piagets, den Ideen der Kybernetik und der operationalen Analyse der sprachlichen Kommunikation. Im folgenden werde ich mich auf einige kritische Bemerkungen aus meiner Perspektive beschränken, möchte jedoch zugleich feststellen, daß ich grundsätzlich und auf weiten Strecken auch in Details (z.B. ((23))-((44)), ((46))-((56))) mit den Auffassungen von EvG übereinstimme (vgl. auch Leiber 1996a; Leiber 1996b; Leiber 1997; Leiber 1998).

((2)) Mit den ersten drei Sätzen charakterisiert EvG diejenigen philosophischen und erkenntnistheoretischen Grundhaltungen, die er zurecht als Gegenpositionen seiner Auffassung betrachtet, wenn er bei dieser Charakterisierung - man verzeihe die Spitzfindigkeit - manchmal vielleicht auch etwas pauschalisierend formuliert. Denn ob die Bedeutung (d.h. eine Interpretationspraxis, und welche genau?) von “Erkenntnis” gemeinhin darauf hindeutet, “daß etwas, das bereits vorhanden ist, wahrgenommen wurde und von nun an als bekannt, gewußt und darum als unabänderlich betrachtet wird” (Glasersfeld ((1))), erscheint mir zumindest fraglich. Mit seinem zweiten Satz macht EvG seine Gegenpartei, die von obigem Erkenntnisbegriff geprägt und dominiert sein soll, noch deutlicher aus und zieht einen drastischen Schnitt zwischen der “herkömmlichen Erkenntnistheorie der abendländischen Welt”, der es “immer um die Erkenntnis einer Welt an sich” ging (Glasersfeld ((1))), und dem in die Gemeinschaft der Konstruktivisten aufgenommenen Rest. Unter die “herkömmliche Erkenntnistheorie” werden wohl all diejenigen subsumiert, die einen naiven oder dogmatischen Realismus, einen starken metaphysischen oder wissenschaftlichen Realismus vertreten haben. Dazu zählen nach EvGs eigenen Ausführungen z.B. nicht Xenophanes, Protagoras, Johannes Scotus Eriugena, John Locke, Giovanni Battista Vico, George Berkeley, David Hume, Immanuel Kant1, Ernst Mach, Georg Simmel, William James, Hans Vaihinger, Albert Einstein (Glasersfeld 1996)[15]; Aristoteles, der z.B. in seiner “Physik” deutliche Kritik am Begriffsrealismus übt, William von Ockham und Thomas Hobbes, die Gruppe der (Neu-) Kantianer oder Bas van Fraassen, um nur einige weitere Autoren zu nennen, können ebenfalls nicht dem Lager der “herkömmlichen Erkenntnistheorie” zugeschlagen werden; bleiben vermutlich nur noch Denker und Begriffsrealisten des Platonismus, des Neuplatonismus und der (Hoch-) Scholastik, René Descartes sowie die aussterbende Art klassischer logischer Empiristen und natürlich alle Arten hartgesottener Szientisten, kurz: die Klasse der Erkenntnisobjektivisten. Gegen diese vielleicht nicht gerade kleine, aber doch nicht die Tradition der (kritischen) philosophischen Erkenntnistheorie des Abendlandes dominierende Gruppe setzt EvG[16] zurecht eine (Er-) Kenntnislehre, die sich vom realistischen WIierspiegelungs-Repräsentationalismus der “Dinge, wie sie an sich sind”, verabschiedet und Wissen “unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” betrachtet (Glasersfeld ((1))).

((3)) Diesen Konstruktivismus nennt EvG nun “radikal” aufgrund folgender zwei Aspekte: “(a) Wissen wird vom denkenden Subjekt nicht passiv aufgenommen, sondern aktiv aufgebaut; (b) die Funktion der Kognition ist adaptiv und dient der Organisation der Erfahrungswelt [Viabilität], nicht der Entdeckung der ontologischen Realität” (Glasersfeld 1996, 48,96). Der alltagsweltlichen Bedeutung von “radikal” haftet ein pejorativer Beigeschmack des Extremen und kompromißlos Rücksichtslosen an und erkenntnistheoretische (oder wissenschaftstheoretische) Radikalität scheint prima facie vielleicht auch in der Gefahr zu stehen, mit dogmatischen, monistischen und antj-pluralistischen Auffassungen in Beziehung gebracht zu werden. Die ethymologische Wurzel von “radikal” liegt jedoch bei eben dieser (radix) bzw. beim Schlagen von eben solchen (radicare). Somit steht “radikal” also für “entwicklungsgenetisch von Anfang an”. Laut Duden ist außerdem ein “Radikaler” jemand, der u.a. die bestehende Ordnung bekämpft, eine radikale Einstellung entspricht einer rigorosen Denk- und Handlungsweise und eine “Radikalkur” meint die Behandlung einer Krankheit mit sehr starken, allerdings den Organismus belastenden Mitteln, eine “Radikaloperation” schließlich beseitigt ein krankes Organ oder einen Krankheitsherd vollständig. In diesem Sinne verstanden ist EvGs Namensgebung plausibel und akzeptabel, wenngleich sie sicher oft auch in anderen und nicht verteidigbaren Bedeutungen verwendet wird.

((4)) Die Behauptung, “erst in unserem Jahrhundert ... haben Wissenschaftler einzusehen begonnen, daß ihre Erklärungen der Welt stets auf Begriffen beruhen, die der menschliche Beobachter formt und seinen Erlebnissen aufprägt” (Glasersfeld ((7))), scheint mir auch für Wissenschaftler nicht zuzutreffen. Explizite Gegenbeispiele sind für mich Hermann von Helmholtz (1821 -1894) und Ludwig Boltzmann (1844-1906), aber auch James Clerk Maxwell (1831-1879). So entwickelte Helmholtz im Rahmen seiner Form von (Neu-) Kantianismus z.B. Grundideen zu einem sinnesphysiologisch und sensomotorisch basierten experimentalistischen Empirismus[17], und mit klaren Hypothetisierungstendenzen ihres Wissenschafts- und Theorienbegriffs bauen Helmholtz und Boltzmann (wenn auch auf je unterschiedliche Weise) einem grundsätzlich (wenn auch noch nicht ausgereiften) modelltheoretischen Theorienverständnis und einem wissenschaftlich hoffähigen Hypothesenbegriff vor (Leiber 1998). Und gerade Einstein hat in dieser Beziehung viel von Boltzmann (und Helmholtz) gelernt, wovon Karl Popper wiederum mehr profitiert haben dürfte, als manchmal deutlich wird.

((5)) In der Konsequenz des Radikalen Konstruktivismus wird Erkenntnistheorie zu einer Theorie der Genese von Wissen als Erfahrungmachen (Glasersfeld 1996, 22), wobei ein “Minimalrealismus”[18] damit ebenso kompatibel ist wie die Berücksichtigung der Rolle sozialer Interaktion (wobei ich jedoch betonen möchte, daß ich die Auffassungen, vor allem das Naturwissenschaftsverständnis, vieler extremer und monistischer Sozialkonstruktivisten für dominant fehlerhaft halte). Wissen und Erkenntnis dienen der strukturierenden und orientierenden Organisierung der Erfahrungswelt des Subjekts (Konstruktion viabler Erwartungen, Handlungsschemata und begrifflicher Strukturen) und jedenfalls nicht der Entdeckung einer subjektunabhängigen “Realität an sich” oder der schrittweisen Approximation an eine absolut objektive Wahrheit (eines “gods eye point of view”). Damit vertritt EvG auch die Auffassung der Begriffsbedeutung als Interpretationspraxis im Sinne konstruktiv-diskursiver und viabilitätssteigender Kommunikationsprozesse (z.B. Glasersfeld 1996, 99). ln der Pädagogik und Didaktik führt die Arbeitshypothese der unhintergehbaren Subjektivität allen Wissens dazu, die Aufgabe des Lehrens vor allem darin zu sehen, die Kunst des Lernens auszubilden, um den Lernenden den Selbstaufbau von Wissen zu ermöglichen. Da EvGs Radikaler Konstruktivismus Ausschließlichkeitsansprüche auf Wahrheit und Gewißheit in selbstkonsistenter Weise aufgibt, sind seine Voraussetzungen in letzter Konsequenz immer nur pragmatisch plausibilisierbar, d.h. “sie werden als Annahmen gedacht, um Modelle zu bauen, die sich in der Welt des Erlebens bewähren sollen" (Glasersfeld ((58))). Deshalb gilt - und dies ist zu unterstreichen -, daß der Radikale Konstruktivismus “keine Weltanschauung ist, die beansprucht, das endgültige Bild der Welt zu enthüllen. Er beansprucht nicht mehr zu sein als eine kohärente Denkweise [oder ein “Modell des rationalen Wissens” in der Tradition der Aufklärung], die helfen soll, mit der prinzipiell unbegreifbaren Welt unserer Erfahrung fertig zu werden, und die ... die Verantwortung für alles Tun und Denken dorthin verlegt, wo sie hingehört: in das Individuum nämlich” (Glasersfeld 1996, 50-51, 57). Zurecht betont EvG deswegen, “daß es verfehlt wäre, die Frage zu stellen, ob der Radikale Konstruktivismus wahr oder falsch ist: er ist keine metaphysische Hypothese, sondern ein begriffliches Werkzeug, dessen Wert sich nur nach seinem Erfolg bemißt” (Glasersfeld 1996, 55).

((6)) Den Begriff der Evolution möchte ich allerdings für die biologische Entwicklungstheorie im Sinne der modernen synthetischen Evolutionstheorie reservieren. Der größte Teil menschlichen Wissens und menschlicher Erkenntnisse wird wohl nicht genetisch kodiert und ist damit nicht vererbbar und somit nicht (oder allenfalls sehr indirekt) der differentiellen Selektion der Bioevolution ausgesetzt. EvG vertritt diese Auffassung ebenfalls und differenziert klar die Begriffe der differentiellen Selektion, der Anpassung und der Passung (z.B. Glasersfeld ((23))-((28)); Glasersfeld 1996, 85, 87, 92), wenn er auch manchmal die Bezeichnung “Evolution” statt “begrifflicher Äquilibration” zu benutzen scheint.

((7)) Insgesamt schließe ich mich gerne der werbenden Empfehlung von S.J. Schmidt an, der EvG viele interessierte Leser wünscht, “die seine Klarheit des Denkens und Schreibens zu schätzen wissen und seine Argumente zum Anlaß nehmen, sich in ihren Kognitionen in eine ähnliche Richtung zu orientieren, wie Ernst von Glasersfeld sie vorgelebt und vorgedacht hat” (Glasersfeld 1996, 15).

Anmerkungen 1 Zu den Möglichkeiten einer - allerdings allenfalls partialen - “Versöhnung” von Kants Konstruktivismus (auf der Basis der unumschränkten Anerkenntnis der formalen Urteilslogik als Struktur der apriorisch-apodiktischen Verstandesfunktionen) und einem Konstruktivismus der Handlungs- und Erkenntnisschemata vgl. auch (Leiber 1996a). EvGs Interpretation der Transzendentalphilosophie Kants (Glasersfeld 1996,78-82) halte ich für fragwürdig und stellenweise unrichtig. In der Darstellung von EvG fehlen: die Differenzierung von erkenntniskonstitutiven Verstandeskategorien und regulativen Vernunftideen; die Bedeutung der Tafel der logischen Urteilsformen; die Rolle des Empirischen bei Kant. Und sicher hat Kant selbst synthetische apriorische Kategorien (wie z.B. die Kausalitätskategorie) nicht als “heuristische Fiktionen" verstanden, wie EvG suggeriert (Glasersfeld 1996, 83). Dies wäre eher die spätere Kantinterpretation Vaihingers und entspricht auch in gewissem Maße den Umdeutungen der logischen Empiristen, die synthetisch-apriorische Verstandeskategorien negieren, indem sie sie zu bloß forschungsregulativen Hypothesen herabstufen. Andererseits möchte ich bezweifeln, ob Vaihingers Konzeption der “nützlichen Fiktionen“ den “Erklärungsprinzipien” [konventionalistische Wissenschaftsaxiome] Gregory Batesons entspricht (Glasersfeld 1996, 88-89). Treffender wäre hier vermutlich der Hinweis auf zumindest die Verwandtschaft von Vaihingens “Fiktionen” mit Kants “regulativen Ideen”. Für zumindest erläuterungsbedürftig halte ich auch EvGs Feststellung, daß Kant "nicht bereit [war], die Suche nach ontologischer Wahrheit aufzugeben” (Glasersfeld 1996, 96). 2 Als dem Radikalen Konstruktivismus grundsätzlich (irgendwie) zustimmend werden von EvG außerdem erwähnt(Glasersfeld 1996): Werner Heisenberg, Hermann von Helmholtz, Niels Bohr, Paul Adrian Maurice Dirac, Max Bons, Erwin Schrödinger. 3 EvG stellt ja auch mehrfach fest, daß an seiner Position - außer der Form ihrer Zusammenfügung und ihrer Befreiung von metaphysischer Verbrämung - eigentlich nichts grundsätzlich Neues sei (Glasersfeld 1996, 19, 56). 4 Helmholtz versteht das wissenschaftliche Experiment als konsequente Weiterentwicklung handlungspraktischer Wissensgenerierung und kognitiver Orientierungsleistung. Demnach konstituiert sich ein Erkenntnissubjekt in einem je bestimmten Entwicklungszustand durch seine Vorerfahrungen und Erwartungshaltungen, aufgrund derer es Handlungseingriffe in den nur hypothetisch als “real" angenommenen Ablauf der “äußeren Natur” vornimmt (hypothetisch-konstruktionistischer Realismus). Werden die Erwartungen bestätigt, - wobei “Bestätigung" ein quasi-induktiver, langwieriger Etkenntnisgenerierungsprozeß ist, der nie von seinen deduktivistischen Bestandteilen abgetrennt wird -, kommt es zu einer allmählichen Stabilisierung der entsprechenden Vorerfahrungen und Erwartungshaltungen und sie werden in die Menge praktisch erfolgreicher Handlungsweisen und empirisch adäquater Theorien integriert. Vollständige Bestätigungen oder absolute Wahrheit gibt es dabei nicht mehr. Unsere Handlungsschemata, in noch stärkerem Ausmaß aber unsere wissenschaftlichen Theorien und theorieimprägnierten Experimentalkonzeptionen bleiben in letzter Konsequenz stets hypothetisch und fallibel (ohne daß man Helmhoitz deswegen den FaJsifi- kationisten zurechnen könnte). Helmholtz’ Konzeption eines experimentalistischen (bzw. konstruktivistischen) Empirismus korrespondiert dabei grundsätzlich dem dreigliedrigen Reflexschema (Glasersfeld ((29))) und damit den Begriffen der Assimilation und der Akkomodation von Piaget (Leiber 1998, Kap. 11). 5 Auf jeder Entwicklungsstufe des Wissenssystems wird etwas als “gegeben” oder "real” vorausgesetzt; die Voraussetzung der Existenz solcher Entitäten bleibt jedoch stets hypothetisch und steht insbesondere unter der Möglichkeit eingehenderer Analyse seiner Struktur und Genese; inbesondere muß natürlich ab initio angenommen werden, daß es überhaupt “irgendetwas" zu wissen gibt. EvG lehnt letztlich nur einen “Realismus" im Sinne des Glaubens an die Erlangbarkeit eines (apriorischen und letztbegründbaren) Wissens von der “Welt an sich“ (als einer vollständig erkenntnissubjektunabhängigen Entität) ab; er gesteht jedoch zu, daß es ontische Beschränkungen unserer Erkenntnis gibt, die festlegen, was uns unmöglich ist (d.h. die bestimmte Hypothesen als bloße Fiktionen und als nichtviabel erweisen). Vielleicht wird der (Typ des) Minimalrealismus bei EvG manchem Kritiker des Radikalen Konstruktivismus nicht immer deutlich genug, wobei letztere ihrerseits in aller Regel deutlich mehr als einen Minimalrealismus (und damit zu viel) postulieren (wie sich z.B. an den neuerdings bei einigen ehemaligen funktionalistischen Instrumentalisten wieder in Mode gekommenen “Realdispositionen” der “Natur* oder des “Geistes” zeigt).

Literatur

Glasersfeld, E. von: 1996, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Leiber. T.: 1996a, Kategorien, Schemata und empirische Begriffe: Kants Beitrag zur kognitiven Psychologie, Kant-Studien 87, 1-41.

Willhelm Lütterfelds – Für eine Realismus-vertragliche Variante des Konstruktivismus

((1) Selbstwidersprüche und Aporien gehören essentiell zur Theorie des menschlichen Wissens. Deswegen haben sie auch keine widerlegende Kraft. Umgekehrt ist auch die Kritik nicht frei von derartigen Defiziten. Und es ergibt sich das “Theorie-Spiel” von These, Widerlegung und Antithese - ohne daß dieser “dialektische Schein” in einer Theorie des Wissens vermieden oder gar aufgelöst werden könnte. Die Konzeption eines “radikal-konstruktivistischen Wissens” ist ein schönes Beispiel dafür, daß sich Theorien gerade wegen ihrer immanenten Widersprüche und Selbstwiderlegungen bestens am Leben erhalten.

((2)) Wissen sei nicht wie in der Tradition “als Widerspiegelung oder ‘Repräsentation’ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt” zu betrachten, “sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” ((1)). Diese zentrale These des Konstruktivismus ist in der Tat “keineswegs neu” ((9)). Sie findet sich nicht nur in der sophistischen und skeptischen Tradition, sondern liegt natürlich auch allen Spielarten eines Idealismus zugrunde. Entsprechend lassen sich traditionelle antisophistische, antiskeptische und antiidealistische Argumentationen auch gegen den Konstruktivismus geltend machen.

((3)) Selbstwidersprüchlich ist bereits das philosophische Fundament desselben, nämlich die Überzeugung, es sei ein “logisch unanfechtbare[s] Prinzip der Skeptiker,... daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht ‘erkennen’ können” ((14)). Mit Hegel formuliert lautet dieselbe skeptische These: Menschliches Wissen scheint “nicht dahinter kommen zu können”, wie ein Gegenstand “an sich ist”, denn alle Gegenstände sind nur “für dasselbe”. Und Hegels Entkräftung dieses skeptischen Einwandes lautet: ‘‘Gerade darin”, daß menschliches Wissen “überhaupt von einem Gegenstände weiß”, unterscheidet es den Gegenstand, wie er unabhängig von ihm existiert, vom Gegenstand, wie es ihn weiß. Dadurch wird die skeptische Behauptung, man könne nicht wissen, ob es eine Welt an sich gebe und ob die Welt wirklich so sei, wie wir sie vorstellen, in sich selbst widersprüchlich. Denn der Skeptiker setzt ja gerade in seiner These den Begriff einer vernunftunabhängigen Welt ebenso voraus wie den eines “Vergleich[es]” des menschlichen Wissens “mit der Welt an sich”, indem er behauptet, daß "dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist” ((12)). Zudem weiß er, “daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht ‘erkennen’ können” ((14)). Wenn demnach der Konstruktivismus eine “ontologische Realität” annimmt und gleichzeitig behauptet, “daß wir sie nicht rational erfassen können” ((58)) oder zumindest diese Frage offenläßt und damit auch die Frage eines Zusammenhanges von Begriff und Welt sowie eines Wahrheitsvergleiches unseres Weltbildes mit der Wirklichkeit, dann widerspricht der Konstruktivismus sich selber. Denn in der Angabe dessen, was wir nicht rational erfassen können, liegt eine rationale Wirklichkeitserfassung bereits vor. Diesem Selbstwiderspruch könnte der Konstruktivismus nur dadurch entgehen, daß er auf jede begriffliche Bestimmung dessen verzichtet, worauf menschliches Wissen bezogen ist. Doch dann würde er keine Theorie des menschlichen Wissens mehr darstellen.

((4)) Wenn der Konstruktivismus mit einem Begriff des Wissens operiert, worin dieses als eine Art kognitive Anpassung gilt, und wenn diese Anpassung wiederum eine doppelte ist, nämlich eine solche der “Gedanken an die Tatsachen und an einander" ((24)), dann kann in der Tat die Funktion des Wissens für einen Organismus darin bestehen, “daß er mit der Lebenswelt nicht in Konflikt kommt” ((25)). Höchst fragwürdig ist jedoch dieser Begriff von “Tatsachen”. Er darf keine ontologische Bedeutung haben, in dem Sinne, daß Tatsachen etwas vom menschlichen Wissen unabhängig Existierendes in der Welt bedeuten, das bereits rational strukturiert ist ((1)). Denn dann verfügte kognitive Anpassung doch über ein repräsentierendes Wissen um eine “vom Wissenden unabhängige Welt” ((25)). Sind umgekehrt Tatsachen ihrerseits nur interne Konstruktionen des Wissens und bloße Gedanken, dann hat die Anpassung keine doppelte Struktur. Denn dann würde die Anpassung von Gedanken an Tatsachen auf die Anpassung der Gedanken untereinander reduziert.

((5)) Insofern setzt der Anpassungsbegriff des Konstruktivismus ein realistisches Wahrheits- und Wissensverständnis voraus. Dies liegt auch dem Gedanken zugrunde, daß der Zweck des Wissens für den Organismus die Konfliktvermeidung mit der Lebenswelt bedeutet ((25)). Denn die fraglichen Konflikte sind gleichfalls zweierlei. Sie betreffen in der Tat einmal die interne Widersprüchlichkeit von Gedanken, Hypothesen und Begriffen untereinander und damit das “inneren Gleichgewicht” der Kognitionen eines Organismus ((27)). Dies ist natürlich kein Lebensweltkonflikt. Umgekehrt, handelt es sich um einen letzteren, dann besteht der Konflikt zwischen “kognitive[n]” Strukturen und “Tatsachen” (ebd.). Das diesem entsprechende “Gleichgewicht” betrifft dann jedoch das Verhältnis des kognitiven Organismus zu seiner externen Welt Auch in diesem Konzept der kognitiven Anpassung kann demnach der Konstruktivismus auf ein realistisches Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis nicht verzichten. Würde ein Organismus durch “sein internes Gleichgewicht” nicht zugleich ein “objektives Wissen von der Außenwelt” erhalten ((37)), dann wäre bereits dieses “interne Gleichgewicht” die hinreichende Bedingung dafür, daß ein Organismus “viabel” ist (ebd.). Dies ist jedoch nicht der Fall. Konfliktfreie, d. h. intern widerspruchsfreie Systeme von Gedanken, Begriffen und Theorien sagen allein noch nichts darüber aus, ob sie der Wirklichkeit angepaßt sind oder mit der Lebenswelt in Konflikt stehen.

((6)) In ähnliche Schwierigkeiten führt die konstruktivistische These, daß Wissen keine Repräsentation einer unabhängig existierenden rationalen Welt sei, sondern “unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” aufzufassen sei ((1)). Von welchem Subjekt ist hier die Rede? Ist es das psychophysische Subjekt, das über leibliche Sinneswahmehmungen verfügt und diese (wie auch immer) durch “aktive Reflexion”, und d. h. durch “tatsächliche Mechanismen der mentalen Operationen” bearbeitet, in Beziehung zueinander setzt, miteinander vergleicht, in Klassen zusammenfaßt und auf Muster bezieht usw. ((16ff, 32,40)), dann ist es absurd anzunehmen, dieses Subjekt existiere in einer Wirklichkeit, von der es schlicht und einfach nichts wissen könne. Denn es weiß um sich als leibliches Subjekt, und es existiert in einer Raum-Zeit-Welt physischer Körper und Leiber - wenn man nicht zu der außerordentlich merkwürdigen Annahme Zuflucht suchen möchte, daß man zwar von sich als einem leiblich und rational operierenden Subjekt wüßte, jedoch von sonst nichts.

((7)) Was bedeutet darüber hinaus die Kennzeichnung des Wissens als “interne” Konstruktion? Soll dies nicht bedeuten, daß es für das menschliche Subjekt überhaupt kein Außenweltwissen geben kann, dann kann umgekehrt dieses Wissen doch nicht derart intern sein, daß es - wie im Falle der “Gehirne im Tank” (Putnam) - nur eine subjektimmanente Konstruktion der Welt darstellt. Denn menschliches Wissen könnte dann auch nicht über diesen Gedanken der Internalität verfügen, weil es keinen Begriff von der Außenwelt hätte, also auch nicht einen bloß internen.

((8)) Entsprechend ist es eine unhaltbare Radikalisierung der Aktivität des denkenden Subjekts, daß dessen Begriffe und Theorien subjektive Erfindungen und “freie Schöpfungen des Geistes” sind ((8,9)). Denn dann würden seine Begriffe und Theorien ebensowenig einem Kriterium wie dem der Tatsachenanpassung unterliegen können, noch gäbe es Konflikte mit der Lebens weit, die nicht ihrerseits als freie Produktionen des menschlichen Geistes gelten dürften, so daß dieser sich bei der Konfliktbewältigung keineswegs auch (!) an den Tatsachen der Lebenswelt zu orientieren hätte und nicht nur an einer internen Stimmigkeit seiner Gedanken und Begriffe untereinander. Andernfalls könnte man auch den Ursprung der “ersten, unerläßlichen Wortbedeutungen” im Falle des kindlichen Spracherlernens nicht in der “Erfahrungswelt des Kindes” sehen ((40)), oder erst recht die “Wahrnehmung” nicht als den “Schlüssel zur begrifflichen Verallgemeinerung und zur Klassenbildung” auffassen ((32)), wenn derartige Empirie samt Informationen nicht allen rationalen Konstruktionen voraus läge. Alle aktive Produktivität des menschlichen Geistes im Bilden und Erfinden von Begriffen - und dies gilt selbst für die sogenannten apriorischen Kategorien etwa der idealistischen Philosophie eines Kant oder Hegel - bleibt an diesen empirischen Erfahrungsgehalt zurückgebunden und von ihm abhängig. Deswegen ist der interne Konstruktionscharakter des menschlichen Wissens nur eine Seite seiner Struktur - freilich auch eine unaufgebbare, wie vor allem aus der idealistischen Tradition bekannt ist.

((9)) Soll der “Begriff der Viabilität... jenen der ontischen Wahrheit” ersetzen, so daß Wissensbestätigung nicht im Realitätsvergleich gesucht wird, sondern in der Brauchbarkeit des Wissens “angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen” (( 58)), so ist die Realität dieser “Hindernisse” wie auch der gesamten Lebenspraxis gerade nicht bloß intern, schöpferisch und frei konstruiert, sondern durchaus von “ontischer Wahrheit”. Andernfalls gäbe es nur eine subjektiv konstruierte Form von “Brauchbarkeit” des Wissens, das sich selber “Hindernisse” konstruiert. Allerdings - und darin ist dem Konstruktivismus wiederum Recht zu geben - lassen sich derartige “Hindernisse” nur in “unseren Formen des Erlebens und Denkens” begrifflich fassen ((12)). Doch derartige “Formen” müssen dann einen anderen Status haben als den von lediglich bewußtseinsintemen Faktoren eines leiblichen Subjekts und seiner inneren begrifflichen Konstruktionen. Denn sie müssen gleichermaßen geistig wie realistischs ein.

((10)) Derartige Schwierigkeiten werden auch nicht dadurch behoben, daß Anpassung “nicht eine Tätigkeit der Organismen, sondern eine Beschreibung ihres Zustandes” ist ((26)). Denn dann verlagert sich die geschilderte Aporie nicht nur auf eine solche des Zustands, sondern es fragt sich auch, was die Ursachen dieses Zustandes sind und wie seine Genese zu erklären ist. Und dies wird kaum möglich sein, ohne die Anpassung auch (!) als ‘Tätigkeit des Organismus” aufzufassen.

((11)) Dies gilt auch für die berechtigte Feststellung, daß wir nicht davon ausgehen können, daß unser Weltbild und unsere wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Wirklichkeit die “einzige (und somit “wahre”) Erklärung" ist ((21)). Denn aus der Tatsache, daß es noch andere wissenschaftliche Beschreibungen und Erklärungen der Wirklichkeit als die unseres Weltbildes gibt, folgt nicht, daß unsere Erklärung kein “getreues Bild geben könnte, wie eine von uns unabhängige Welt tatsächlich funktioniert” (ebd.), vorausgesetzt, wir gehen davon aus, daß unser Weltbild nicht das einzige “getreue Bild” der Wirklichkeit ist und daß es in einem komplementären Ergänzungsverhältnis zu anderen Wirklichkeitsbeschreibungen und Welterklärungen stehen kann. Die These des Konstruktivismus, ein möglicher Pluralismus der Welterklärung und Weltbeschreibung schließe eine Objektivität und Wahrheit derartiger Modelle aus, ist nicht haltbar.

((12)) Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob konstruktivistisches Wissen im Sinne einer “internen Konstruktion” mit der Überzeugung verträglich ist, daß es so etwas wie “tatsächlichst] Mechanismen der menschlichen Operationen ”des Geistes gebe ((20)) und daß es darum gehe, “die unerläßliche Rolle der mentalen Operationen” bei der Konstruktion des menschlichen Wissens zu eruieren (ebd.). Denn konstruktivistische Theorien müssen derartige “mentale Operationen” bereits benützen, um diese wiederum ihrerseits zu rekonstruieren. Diesem Paradox und seiner zirkulären Struktur entkommen sie so wenig wie alle Erkenntnistheorien, samt ihrer Kritik; erst recht nicht jene, in der das “Gehirn” das Wissen um die Außenwelt konstruiert - denn das Wissen um dieses Gehirn und seine Funktionen muß natürlich die Qualität eines “tatsächlichen Mechanismus” besitzen und kann zugleich doch nur eine Art von “interner Rekonstruktion” der tatsächlichen Operationen sein. Dieses Paradox kennzeichnet alle Begriffe, die von menschlicher Wahrnehmung und reflexiven Operationen ausgebildet werden, und auch der Konstruktivismus muß ihm Rechnung tragen, wenn er nicht den scheinbar Paradox-auflösenden Ausweg in die “Metaphysik” gehen möchte, wie es in der Tradition häufig der Fall war ((22)). Nimmt man dieses Paradox im Konstruktivismus nicht einmal zur Kenntnis, kann man die “metaphysische Zuflucht” der Erkenntnistheorie um so eher kritisieren.

((13)) Die selbstkritische Einsicht, auch der Konstruktivismus beruhe auf “Voraussetzungen”, ohne daß er freilich diese als “ontologische Gegebenheiten” betrachte ((58)), stellt zwar eine radikale Relativierung des Theorieanspruches des Konstruktivismus im Rahmen eines Pluralismus anderer, entgegengesetzter Erkenntnistheorien dar. Doch wenn der Konstruktivismus zugleich davon ausgeht, daß es eine Art Bewährung von unterschiedlichen Erkenntnistheorien “in der Welt des Erlebens” gibt (ebd.), dann unterstellt er eben diese “ontologischen Gegebenheiten” als theorieexterne Kriterien, die wiederum über die Qualität einer Erkenntnistheorie entscheiden. Diese Voraussetzung ist jedoch konstruktivistisch nicht zu rechtfertigen, sondern nur in einer realistischen Erkenntniskonzeption.

((14)) Daß der radikale Konstruktivismus - selbstwidersprüchlich - auf Voraussetzungen eines realistischen Konzeptes von Wissen, Wahrheit und Wirklichkeit beruht, geht nicht zuletzt auch aus der These hervor, daß es die “Praxis” sei, die über die Viabilität und den Wert konkurrierender konstruktivistischer Weltbilder und ihrer Wirklichkeitsinterpretationen entscheide ((60)). Denn entweder gehört auch diese “Praxis” des gemeinsamen Lebens zum Konstruktionsgehalt eines jeweils subjektiven Wissens. Doch dann läge keine echte Bewährung der Weltbildkonstruktionen durch die “Praxis” vor, sondern nur eine zirkulär selbstimmunisierende und selbstbestätigende. Oder aber die “Praxis” ist ein der Weltbildkonstruktion externes und vorausliegendes Wirklichkeitselement. Dann kann jedoch das Wissen um diese “Praxis” eben nicht konstruktivistisch interpretiert werden, sondern es muß als Wissen um eine subjektunabhängige, vorgegebene, an sich existierende Realität des gemeinsamen Handelns verstanden werden. “Praxis” als Bewährungsinstanz für konkurrierende Weltbildkonstruktionen und Wirklichkeitsverständnisse besteht dann in der Tat aus nicht konstruierten ‘Tatsachen”, die nur in einer (zumindest auch (!)) realistischen Konzeption von Wissen und Wahrheit zugänglich sind.

((15)) Dies gilt nicht zuletzt auch für ein konstruktivistisches Verständnis von Moral. Wenn nämlich selbst das “Zusammenleben mit anderen” “letzten Endes eine Frage der subjektiven Interpretation ist” ((61)), dann läßt sich der Vorwurf, ein konstruktivistisches Wirklichkeitsverständnis mit seinem Pluralismus gleichwertiger Wirklichkeitsinterpretationen und Handlungsverständnisse könne unmoralische und barbarische Selbstverständnisse wie z, B. den “Nazismus” ((62)) nicht ausschließen, sondern müsse sie vielmehr akzeptieren, nicht entkräften. Der Gegeneinwand, “daß es im Laufe der Menschheitsgeschichte” keine rationale Konzeption und Begründung von ethischen Grundsätzen gegeben habe und schon gar keine durch derartige Grundsätze ermöglichte Verhinderung von Verbrechen (ebd.), dieser Gegeneinwand weist lediglich überzogene Anforderungen an einen ethischen Konstruktivismus zurück. Der Relativismuseinwand wird dadurch nicht widerlegt. Und wenn es auch hier letztlich nur die “Praxis” ist, die darüber entscheidet, welche konstruktivistische “Handlungs- oder Denkweise voraussichtlich zu dem gemeinsam erwünschten Ziel führen wird oder nicht” ((60)), dann handelt es sich dabei nicht nur um eine außer- und vormoralische Instanz, die über den Wert unterschiedlicher Moralkonzeptionen entscheidet. Sondern die Instanz dieser “Praxis” mit der “Tatsache” ihrer Entscheidung (ebd.) muß den Status einer ontologischen und rational erfaßbaren Realität haben, wenn es sich dabei um eine außertheoretische Entscheidung zwischen unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen und Weltinterpretationen handeln soll. Andernfalls wäre diese Entscheidung wiederum eine subjektive Konstruktion - und damit genau das, was es zu bewähren und zu überprüfen gilt. Auf diese Weise wird jene “objektive Wahrheit” mit ihrem Anspruch auf das “Rechthaberische” ((60)) durch die Tatsache der Praxis wieder eingeführt. Auch damit gerät der Konstruktivismus in eine Situation, die seinem Theoriegehalt widerspricht. Nur auf dem Boden eines Realismus-verträglichen Konstruktivismus läßt sich die “Viabilität von Gesetzen und Beschränkungen der individuellen Freiheit in der Gesellschaft” aushandeln ((63)) - und nicht auf dem Boden eines vielfältigen, subjektiv konstruktivistischen Für-Real-Haltens. Und darin liegen zugleich auch die Grenzen einer konstruktivistischen Toleranz. Für die “Praxis denkender Individuen” ((64)) ist demnach der radikale (!) Konstruktivismus kein angemessenes “Denkmodell".

((16)) All diese kritischen Argumente legen es nahe, eine Variante des Konstruktivismus zu entwickeln, die Realismusverträglich ist. Zweifellos liegt die Unverzichtbarkeit und Starke einer konstruktivistischen Theorie des Wissens darin, daß sie gegenüber allen Konzeptionen eines ontologischen Realismus von Wissen, Wahrheit und Handlung - zusammen mit der idealistischen Tradition - die apriorische Rückbindung dieser Phänomene an das individuelle, je eigene Subjekt und seinen leiblich-geistigen Kognitionsmechanismus geltend machen kann. Die Vereinbarkeit beider Konzeptionen, nicht deren Alternität und nicht eine Entscheidung für oder gegen eine dieser Theorievarianten, die realistische oder die konstruktivistische, ist das eigentliche epistemologische Problem.

Werner Meinefeld - Gegen eine Halbierung des Piagetschen Konstruktivismus

((1)) In zahlreichen Schriften hat Ernst von Glasersfeld dazu beigetragen, die Idee eines Radikalen Konstruktivismus zu entwickeln und weiterzutreiben. Als ein Kernpunkt seiner Argumentation erweist sich dabei das Postulat einer erkenntnistheoretischen Wende: “Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder ,Repräsentation‘ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.” ((1))

((2)) Da ein direkter Vergleich von Aussagen mit der “Welt an sich” nicht möglich ist, tritt für von Glasersfeld an die Stelle des Ziels, Erkenntnisse an die Beschaffenheit der realen Welt anzunähern und zu “wahren” Aussagen zu kommen, die Gewinnung von Wissen, das “viabel” ist. Darunter versteht er ein Wissen, das menschliches Wahrnehmen und Handeln anleiten kann, das ein problemlösendes Handeln in der Realität ermöglicht und nicht in ihr scheitert. Aussagen über “die” Struktur “der” Realität sind mit diesem Wissen nicht möglich, da es für die Viabilität genügt, wenn die Aussagen “passen” - es gibt für ihn keine Möglichkeit, aus der Passung auf die reale Struktur zu schließen, da auch alternative Lösungen passen könnten. ((21)), ((23)) - ((28)), ((57f)) (von Glasersfeld 1986, 37; 1988, 405, 409f, 427ff, 439f)

((3)) Die erkenntnistheoretische Einsicht, auf der diese Position basiert, ist auch innerhalb der klassischen Wissenschaftstheorie nicht neu: daß jede Wahrnehmung "theoriegeladen” ist, daß wir immer nur Aussagen mit Aussagen (bzw. Theorien mit alternativen Theorien) und nicht mit der Realität “an sich” vergleichen können, daß unser Wissen das Produkt eines kollektiven Konstruktionsprozesses ist, findet sich auch in den Arbeiten von Karl R. Popper, Imre Lakatos und Thomas S. Kuhn. Neu am Radikalen Konstruktivismus ist dagegen die Schlußfolgerung, daß wir aus diesen Gründen nichts über die Struktur der Realität aussagen könnten. Während Popper u.a. aufgrund dieser Einsicht zwar die Vorläufigkeit allen Wissens betonen, dennoch aber - auch in der Kuhnschen Version - daran festhalten, daß wir Aspekte der Realität angemessen erfassen können, radikalisieren von Glasersfeld u.a. diese Einsicht, indem sie prinzipiell von mehreren möglichen viabien Realitätsdeutungen ausgehen, so daß die Passung einer Aussage (d.h. ihr Nicht-Scheitern) kein Kriterium für die Erfassung realer Strukturen sein kann.

((4)) Die Position des Radikalen Konstruktivismus besticht auf den ersten Blick durch die radikale Konsequenz ihrer Argumentation, doch werden bei genauerer Prüfung grundlegende Mängel erkennbar, die sich an der Prämisse der Strukturlosigkeit der Welt, an der selektiven Rezeption des Piagetschen Konstruktivismus und an der unvollständigen Analyse des Erkenntnisprozesses festmachen lassen und die seinen Nutzen als eine wissenschaftliches Handeln anleitende Theorie in Frage stellen.

((5)) Eine die Grundlagen des Radikalen Konstruktivismus betreffende Unstimmigkeit zeigt sich in seiner ontologischen Prämisse einer Unstrukturiertheit der Welt vorab einer jeden Konstruktionsleistung eines denkenden Subjektes: “es gibt auch keinen guten Grund zu der Annahme, daß die ontologische Realität etwas besitzt, das wir ,Struktur‘ nennen könnten”. (Richards/von Glasersfeld 1988,221) - Einerseits ist diese Prämisse notwendige Voraussetzung für das Postulat der Möglichkeit “zahlloser anderer Arten”, diese Welt wahrzunehmen und zu deuten (von Glasersfeld 1987, 109) - andererseits steht sie im Widerspruch zu der ebenfalls zentralen Annahme, daß Deutungen, die nicht “passen”, an der Welt scheitern ((26f)): “Scheitern” kann man nur “an” etwas, und “Passung” setzt eine Form voraus - ein “an und für sich formloser Fluß des Erlebens” (von Glasersfeld 1986, 37) läßt sich in jede Form einpassen, an ihm kann man nicht scheitern. - Zum zweiten gibt es Indizien dafür, daß diese Prämisse nicht zu halten ist. So belegen kulturvergleichende Studien, daß basale Wahrnehmungen unabhängig von kulturellen Variationen erfolgen.[19] Die Annahme einer Existenz von Strukturen, an denen sich Wahrnehmung festmachen kann, gewinnt damit eine größere Überzeugungskraft als die gegenteilige These von der Unstrukturiertheit der Welt - die im übrigen von von Glasersfeld u.a. nur postuliert, nicht aber begründet wird. - Schließlich enthält die von von Glasersfeld in dem eingangs zitierten Kernsatz gewählte Formulierung “einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt” eine Vermengung zweier unterschiedlicher Bedeutungsgehalte, die es gerade zu trennen gilt. Die Unterstellung einer “rational strukturierten Welt” impliziert bereits die Aktivität eines erkennenden Subjektes, das die Strukturierung unter Bezug auf eine spezifische, von ihm selbst mitgebrachte Rationalität vomimmt, während es doch zunächst nur darum gehen kann festzustellen, daß die dem Erkennen präexistente Welt über dauerhafte Charakteristika verfügen kann, die sich dem Subjekt als Widerstandigkeit gegenüber beliebigen Handlungs- und Deutungsversuchen darstellen.[20] Die Gleichsetzung von “vorgängiger Strukturiertheit” mit “rationaler Strukturierung im Erkennen” verhindert im Radikalen Konstruktivismus die Konstruktivismus als Handlungsanleitung für die Forschung Auseinandersetzung mit solchen realen Ankerpunkten der menschlichen Konstruktionsleistung.

((6)) Ein zweiter zentraler Kritikpunkt betrifft die Rezeption des Piagetschen Konstruktivismus, dessen grundlegende realistische Komponente keineswegs - wie von Glasersfeld nahelegt (1987, 99, 221f) - auf sprachliche Ungenauigkeiten und Unzulänglichkeiten zurückzuführen ist: sie ist für Piagets Position viel mehr konstitutiv. Während im Radikalen Konstruktivismus der Prozeß des Erkennens weitgehend als eine Einbahnstraße vom erkennenden Subjekt zur Realität entworfen wird, ist für Piaget ein Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem erkennenden Subjekt und der Widerständigkett des Objektes grundlegend (wie er es im Begriffspaar von Assimilation und Akkomodation zum Ausdruck gebracht hat).

((7)) Piaget gewinnt diese breitere Perspektive auf den Erkenntnisprozeß, indem er nicht das Erkennen selbst, sondern das Handeln zum Ausgangspunkt des Erkenntnis(!)prozesses macht: die Erfahrung der Welt im Handeln geht ihrer kognitiven Kategorisierung voraus. ((44)) (siehe auch Piaget 1972, 38ff; 1975, 343ff) Im Handeln aber kann das Kind nicht umhin, bestimmte Erfahrungen mit bestimmten Objekten zu machen - und indem das Objekt, innerhalb bestimmter Grenzen, andere Handlungsmöglichkeiten nicht zuläßt, wirkt es auf die Ausbildung der kognitiven Konzepte ein.[21] Das Ergebnis des Erkenntnisprozesses ist daher für Piaget nicht ein Konstrukt, das nur der Logik des erkennenden Systems folgt, sondern in ihm sind sowohl konstruktive als auch realistische Elemente enthalten. Indem die Kategorien an der Welt entwickelt werden, enthalten sie auch Informationen über die Welt - Wahrnehmungsstrukturen existieren nicht vor der Wahrnehmung, sondern sie werden erst in der Auseinandersetzung mit der Realität aufgebaut.[22] Für Piaget besteht daher eine “unauflösliche Wechselwirkung” zwischen Subjekt und Objekt, die es völlig illusorisch macht, realistische und konstruktivistische Elemente der Erkenntnis voneinander trennen zu wollen (Fatke 1981,38) – die es aber auch verbietet, die realistische Komponente zu ignorieren, wie es der Radikale Konstruktivismus tut.

((8)) Schließlich bleibt die Analyse des Erkenntnisprozesses im Radikalen Konstruktivismus rudimentär und vage. Das Konzept des “epistemologischen Solipsismus”[23] erweist sich als ein Gefängnis, das weder der Objektadäquanz unseres Wissens (wie sie sich in dem bekannten Grad der Naturbeherrschung durch den Menschen darstellt) noch der Qualität zwischenmenschlicher Kommunikation gerecht wird. Insbesondere vermag dieses rein atomistische Konzept von Erkennen die zentrale Rolle der sozialen Umwelt, in der jeder Erkenntnisprozeß verankert ist, nicht zu integrieren. Als überzeugender erweisen sich dagegen alternative Modelle des Erkenntnisprozesses, die erklärungskräftiger und anschlußfähiger (wenn auch weniger spektakulär) sind als der Radikale Konstruktivismus. Verwiesen sei nur auf Arbeiten von Günter Dux, Karl Mannheim, George H. Mead und eben auch Piaget, denen ein konstruktives Grundverständnis des Erkenntnisprozesses gemeinsam ist, die dieses aber alle mit einer realistischen Fundierung des Wissens verbinden.[24]

Aufgrund dieser Mängel ist der Nutzen des Radikalen Konstruktivismus als Handlungsanleitung für die Forschung nicht nur eng begrenzt, sondern teilweise auch dysfunktional. Positiv zu vermerken ist, daß durch die Verabsolutierung des Konstruktionsaspektes eine Un-Aufmerksamkeitsschwelle gegenüber erkenntnistheoretischer Reflexion durchbrochen wurde, die die Idee des prinzipiell konstruktiven Charakters aller Erkenntnis populärer gemacht hat, als dies frühere, “abgewogenere" Entwürfe vermochten. Dem steht allerdings der Nachteil gegenüber, daß eine radikal-konstruktivistische Position den Schwerpunkt ihrer Aufmerksamkeit nicht auf die Beziehung zwischen den Erkenntniskategorien und “der" Realität richtet, sondern auf den Konstruktionsprozeß selbst. An die Stelle des kollektiven Bemühens um Kontrolle des Realitätsbezuges tritt - nicht als logische, aber als faktische Alternative - die Konzentration auf Fragen der Produktion und Durchsetzung von Deutungsansprüchen im sozialen System “Wissenschaft”. Für den konstruktiven Aspekt im Erkennen lassen sich gute Gründe anführen - eine radikal-konstruktivistische erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Wende läßt sich damit aber nicht legitimieren.

Literatur

Falke, Reinhard (Hrsg.), 1981. Jean Piaget über Jean Piaget Sein Werk aus seiner Sicht, München: Kindler (1970)
Glasersfeld, Ernst von, 1986, Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München/Zürich: Piper (1981), 16-38
Glasersfeld, Ernst von, 1987, Wissen. Sprache und Wirklichkeit: Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus. Braunschweig: Vieweg
Glasersfeld, Ernst von, 1988, Siegener Gespräche über Radikalen Konstruktivismus, in: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt: Suhrkamp (1987), 401-440
Meinefeld, Werner, 1995, Realität und Konstruktion, Erkenntnistheoretische Grundlagen einer Methodologie der empirischen Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich
Piaget, Jean, 1972, Die Entwicklung des Erkennens I: Das mathematische Denken, Stuttgart, Klett (1950)
Piaget, Jean, 1975, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde, Stuttgart: Klett (1937)
Richards, John/Emst von Glasersfeld, 1988, Die Kontrolle von Wahrnehmung und die Konstruktion von Realität. Erkenntnistheoretische Aspekte des Rückkoppelungs-Kontroll-Systems, in Siegfried J. Schaidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt: Suhrkamp (1987), 192-228
Rösch, Eleanor, 1987, Linguistic Relativity, in: ETC. et cetera, 44,254-279
Werten, Iwar. 1989, Sprache, Mensch und Welt. Geschichte und Bedeutung des Prinzips der sprachlichen Relativität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Peter Meyer – Wissen, Wahrheit, Wirklichkeit: “Individuelle” oder “soziale” Konstruktion?

((1)) Die epistemologischen Konsequenzen ((58)) der radikal-konstruktivistischen Wissenstheorie von Glasersfelds beruhen teilweise auf einer problematischen Auslegung ihrer - in einer ‘harmloseren’ Lesart durchaus zutreffenden - theoretischen Prämissen, von denen im weiteren einige näher betrachtet werden sollen. Unser Ergebnis wird sein, daß Wirklichkeit nicht zwingend entweder als unzugängliche ‘Welt an sich’ oder aber als individuelles, nicht verallgemeinerbares Erfahrungskonstrukt begriffen werden muß, nämlich dann nicht, wenn man die soziale Dimension unserer Wissenskonstitution berücksichtigt.

((2)) Hier soll nicht bestritten werden, daß wir in all unserem Beobachten und Erklären nicht ‘hinter’ die impliziten Voraussetzungen unserer Wahrnehmung und unserer Begrifflichkeit zurücktreten können ((4ff.)). Wenn man daraus folgert, eine losgelöst von uns vorhandene ‘Welt an sich’ ((21)) sei für den menschlichen Beobachter nicht rational erfaßbar ((58)), weil unsere Überzeugungen nicht durch einen ‘Vergleich’ mit den Verhältnissen in ihr überprüfbar sind ((12)), dann ist dies dennoch zunächst nur eine mögliche façon de parler. Ebensogut ließe sich sagen, die Rede von dieser ontologischen Realität jenseits unserer ‘Erlebenswelt’ sei sinnlos, weil sie keinerlei Implikationen für irgendwelche unserer Argumente haben kann; denn über sie können wir ja nach Voraussetzung nichts aussagen. Das Konzept einer 'Welt an sich’ wird dann überflüssig und bedeutungslos; es kürzt sich gewissermaßen aus unseren Überlegungen heraus.

((3)) ln der von v. Glasersfeld gewählten Formulierung des “skeptischen Problems” wird jedoch suggeriert, unser Wissen und unsere Theorien seien gerade deswegen in gewisser Weise defektiv, weil ihnen der entscheidende, ‘objektive Wahrheit’ ((60)) erst ermöglichende, Vergleich mit der ‘Welt an sich’ verwehrt bleibt. Aber im gewöhnlichen Verständnis von ‘objektiver Wahrheit’ ist nur impliziert, daß man in vielen Fällen sehr wohl “Grund hat zu behaupten, man wisse wie dies oder jenes ist' ((60)), nämlich immer dann, wenn es eine von der jeweiligen Gemeinschaft akzeptierte und geteilte Praxis gibt, innerhalb derer hinreichend klar ist, was es heißt und unter welchen Umständen als wahr zu gelten hat und als ‘gewußt’ und ‘objektiv’ rechtfertigbar ist, daß dieses oder jenes so-und-so ist. Innerhalb der je geteilten Handlungs- und Sprachpraxis sind manche ‘Wahrheiten’ so objektiv, wie man es sich nur wünschen kann; außerhalb dieser Praxis sind sie nicht falsch, sondern unverständlich oder irrelevant.

((4)) Auch wenn man v. Glasersfelds nicht-repräsentationalistische Auffassung von Wissen teilt, wird man dennoch sorgfältig prüfen müssen, ob die Vorstellung von einer kognitionsinternen “Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und an einander” ((24)) eine echte Alternative darstellt. Fraglich ist nämlich, was ‘Viabilität’ in bezug auf kognitive Strukturen ((27)) überhaupt heißen mag. Verschiedene kognitive Strukturen, als interne, z-B. ‚physische‘ Sachverhalte verstanden, können nur die Möglichkeit zum gleichzeitigen Vorliegen haben oder auch nicht; miteinander in Konflikt geraten können sie ebensowenig wie von ‘Tatsachen’ widerlegt werden ((vgl. 27)), die ja aus radikalkonstruktivistischer Sicht selber wieder nur als kognitive Strukturen vorliegen bzw. durch sie erfaßt werden müssen. Wir müssen daher von vornherein konzedieren, daß wir als Beobachter Individuen solche Strukturen oder Operationen zu bestimmten Erklärungs- oder Vorhersagezwecken lediglich zuschreiben, und können dabei die Frage nach der physikalischen oder biologischen ‘Realisierung’ dieser Eigenschaften durchaus offenlassen.

((5)) Die Verhaltenserklärungen und -vorhersagen, um deretwillen der Beobachter kognitive Strukturen zuschreibt, setzen nun aber trivialerweise voraus, daß von der vom Individuum wohlunterschiedenen Außenwelt und von den Interaktionen des Individuums mit dieser Außenwelt geredet wird. Dies läßt sich an der Rede von “unerwarteten Resultaten” ((35)) verdeutlichen: Ein System verändert seine Handlungsweise nicht etwa, weil es ein unerwartetes Resultat gibt - aus der Innenperspektive des einzelnen Systems macht die Rede von Erwartungen, wie betont, keinen wohldefinierten Sinn -, umgekehrt: weil sich das System in bestimmten neuen Situationen aus Sicht des Beobachters anders verhält als sonst, spricht der Beobachter von einem für das System unerwarteten Resultat.

((6)) Die kybernetische Redeweise von ‘festgelegten Soll- werten ’ ((37)) macht den normativen und beobachterrelevanten Charakter der Rede von einer ‘Anpassung’ kognitiver Strukturen (Erwartungen usw.) an ‘Tatsachen’ noch deutlicher. Ein Thermostat etwa ((37)) ‘hat’ keine Sollwerteinstellung als objektive, intrinsische Eigenschaft, sondern der menschliche Benutzer betrachtet den Thermostaten bereits unter dem Gesichtspunkt seiner intendierten Nutzung, wenn er gewisse Eigenschaften der Interaktion Thermostat/Umwelt mit dem Konzept des Sollwertes beschreibt. Was im Falle von höheren Organismen Verhaltens-Sollwerte (z.B. Lernziele) sind, legt entsprechend entweder eine soziale Praxis erst fest (auch die Rede von “Handlungszielen” und "Problemen” macht erst relativ zu einer sie definierenden, kontingenten Praxis überhaupt Sinn) - oder wir beschreiben damit, in einer ganz anderen Verwendung des Wortes ‘Sollwert’, das von uns unter normalen Umständen erwartete, biologisch konditionierte Resultat gewisser ontogenetischer Entwicklungen. Die Erklärung, kognitive Aktivität erhalte das “mentale Gleichgewicht” ((57; 27)) des Organismus durch Anpassung, hat demzufolge metaphorischen Charakter. Zum Problem wird die Metaphorizitat indes erst dann, wenn man die ‘Äquilibration’ fälschlich als eine wesentlich organismusinterne Eigenschaft versteht und sodann schlußfolgert, daß “der Organismus kein objektives Wissen von der Außenwelt” gewinnen könne ((37)). In Wirklichkeit können ja, wie gesehen, Zustände ‘mentalen Gleichgewichts’ immer nur charakterisiert werden, indem der Organismus und sein Verhalten zu einer bereits auf konsensfähige Weise beschriebenen Außenwelt so in Beziehung gesetzt werden, daß ein Vergleich mit einem beobachterseits festgelegten Soll Zustand möglich wird. Auch wenn man also durchaus sagen kann, der ‘intelligente’ Organismus reagiere “lediglich auf Unterschiede zwischen Wahrnehmungen und vorbestimmten Sollwerten” ((37)), folgt daraus noch nicht, daß es unzulässig ist zu sagen, da Organismus reagiere “auf Stimuli der Umwelt" ((37)) oder ‘erkenne’ die Welt ((57)). Es handelt sich hierbei um eine und dieselbe Beschreibung, einmal aus der ‘internen’ Perspektive des Organismus und einmal aus da ‘externen’ Perspektive des Beobachters formuliert. Homöostatische Mechanismen in unserer kognitiv-biologischen Ausstattung sind allenfalls das physische Substrat, das unsere Erkennensprozesse und kognitiven Konstruktionen möglich macht. Die Konstruktionen selbst sind jedoch sozial konstituiert; sie sind Eigenschaften unserer Interaktionen, nicht der diese bedingenden subjektiven Erfahrungen. Möglicherweise ist eine systemtheoretische Betrachtung von sozialen Interaktionsstrukturen (vgl. Luhtnann 1984) eine Alternative.

((7)) In gewissen unserer verbalen-plus-nichtverbalen Interaktionsmuster spielen nun aber auch sprachliche Konzepte wie “Welt” und “(objektiv) wahr” eine hinreichend etablierte und in unserer Lebenspraxis verankerte Rolle; wir müssen auf solche Konzepte ja, wie erläutert, auch zurückgreifen, wenn wir für unsere konstruktivistischen Erklärungen verschiedene mentale Operationen oder kognitive Strukturen auch nur identifizieren oder individuieren wollen. Mit dem Konzept der Viabilität wird daher nur scheinbar eine neue Methode der epistemologischen Erklärung geboten. Wir können den Begriff einer Lebens- oder Erlebenswelt bzw. unseres Wissens davon nicht aus einer Betrachtung nur-interner mentaler Konstruktionen denkender Subjekte gewinnen. Eine als in einem bestimmten Sinne ‘unabhängig’ und ‘objektiv’ konzipierte Außenwelt ist ein unverzichtbares sozial-kommunikatives Konstrukt, das wir benötigen, um ein anderes solches Konstrukt, nämlich Wissen, theoretisch erfassen zu können - und umgekehrt.

((8)) Eine auch in verwandten Ansätzen (vgl. Malurana 1985) häufige Strategie, eine Semantik kognitiver Konzepte doch noch auf eine Betrachtung interner Zustände von Individuen zu begründen, besteht in da Annahme höherstufiger, 'reflexiver‘ Weiterverarbeitung von mentalen Operationen im Organismus. Dem entsprechen bei v. Glasersfeld die Begriffe, die nicht “direkt aus Elementen der Wahrnehmung gewonnen werden können” ((43)), sondern gewissermaßen eine Wahrnehmung (Reflexion) von Wahrnehmungen voraussetzt. Hier sind zwei Fragen aufzuwerfen: (i) Gibt es überhaupt Konzepte, die unmittelbar mit bestimmten ‘Wahrnehmungen’ korrelieren, oder müssen nicht alle konzeptuellen Unterscheidungen immer schon als Weiterverarbeitungen von (fiktiven) ‘raw sense data’, als Abgleichungen mit früheren ‘Klebnissen’ beschrieben werden? Sind nicht alle organismusinternen Prozesse notwendig Weiterverarbeitungen anderer solcher Prozesse? Wie läßt sich dann ein Bereich spezifisch höherstufiger Operationen überhaupt abgrenzen? (ii) Was bedeuten in den vorgeschlagenen Begriffsanalysen ((43ff.)) Ausdrücke wie “Gewahrwerden”, “einen Bereich schaffen”, “betrachten als”, “Zuschreiben von Identität”, "Re-präsentieren”, “sich etwas vorstellen” usw.? Wittgenstein hat in seinen späteren Schriften auf überzeugende Weise darlegen können, daß es sich hier nicht um Etiketten für unzugängliche interne Prozesse handeln kann (auch wenn es solche Prozesse natürlich gibt). Kriterial dafür, daß ich z.B. überzwei ‘Wahrnehmungsinstanzen' einer anderen Person hinweg Objektpermanenz erzeuge, ist immer nur mein sozial interpretiertes nichtverbales und verbales ‘identifikatorisches’ Verhalten. Daß ich mir die betreffende Person ‘vorstellen’ kann, ist völlig irrelevant und sicher meistens nicht der Fall.

((9)) Die Radikalität fehlt der radikalkonstruktivistischen Epistemologie dort, wo sie lediglich eine Ontologie der ‘Dinge an sich' durch eine ebenso unklare Ontologie der subjektiven Vorstellungen oder internen mentalen Prozesse ersetzt; und sie ist dort zu radikal, wo sie, ihre eigenen Prämissen mißdeutend, den Bereich sinnvollen Redens verläßt.

Literatur

Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt * M.: Suhrkamp.
Maturana, H. (H985). Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie. Braunschweig /Wiesbaden: Vieweg.

Josef Mitterer – Der Radikale Konstruktivismus: „What difference does it make?“

((1)) (Radikaler) Konstruktivismus und Realismus besetzen verschiedene Positionen im erkenntnistheoretischen Spektrum. Die Unterschiede werden von den jeweiligen Vertretern als so groß empfunden, daß es kaum zu ausführlichen Auseinandersetzungen kommt. Die Kritik beschränkt sich meist auf Standardsätze oder verständnislose Abwertungen. Jeder findet, daß seine Auffassung verfälscht oder unzulässig verkürzt wiedergegeben wird oder gar, daß er die ihm unterstellten Ansichten (etwa Leugnung der Realität hier und naiver Abbildrealismus dort) nie vertreten hat.

((2)) Der Hauptvorwurf des Realisten ist, daß der Konstruktivismus ohne realistische Voraussetzungen nicht auskommen könne. (Und für Niklas Luhmann ist der Konstruktivismus sogar explizit eine realistische Erkenntnistheorie.) Der Konstruktivist ist in Wirklichkeit ein Realist - und spätestens dann, wenn er mit dem Kopf durch die Wand will, müßte er dies auch eingestehen.[25]

((3)) Der Konstruktivist kritisiert vor allem den realistischen Grundsatz einer zumindest prinzipiell erkennbaren Realität. Unsere Vorstellungen von der Realität können nur mit anderen Vorstellungen verglichen werden und nicht mit der Realität selbst. Richtigkeit oder gar Wahrheit von Weltbildern ist nicht feststellbar. Eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe ist nicht erkennbar. Jeder konstruiert seine eigene Wirklichkeit - wenn auch nicht unabhängig von seiner Umwelt und in Abstimmung mit anderen.

((4)) In seiner Kritik universalisiert der Konstruktivist jedoch die eigenen Grundsätze zu Voraussetzungen, die auch für Realisten gelten. Er kann dem Realisten nicht zubilligen, daß er im Gegensatz zu ihm die Welt tatsächlich erkennt und also zu Recht Realist ist Wenn die Welt zu 100% die Welt meiner Erfahrung und mein Erleben ist, wenn Wissen ausschließlich eine interne Konstruktion des menschlichen Subjekts ist, dann gilt dies auch für den Realisten, ob er dies wahr haben will oder nicht: Der Realist ist in Wirklichkeit ein Konstruktivist.

((5)) Der Realismus wird so zu einem Sonderfalt des Konstruktivismus, der versucht seine Konstruktion der Wirklichkeit zu verabsolutieren, indem er sie mit der unabhängigen Realität gleichsetzt Damit reduziert der Konstruktivismus den Unterschied zum Realismus auf einen Unterschied in der Erkenntnishaltung und Erkenntniseinstellung - also auf eine Attitüde. Da sich die Idee, daß wir alle Konstruktivisten sind, ob wir dies einsehen oder nicht, auf bestimmte biologische und psychologische Voraussetzungen stützt, muß sich der Konstruktivismus hier genau den Vorwurf der Verabsolutierung gefallen lassen, den er gegen den Realisten erhebt.

((6)) Konstruktivismus und Realismus setzen in der gegenseitigen Kritik einander die jeweils eigene Position voraus. Die Wirklichkeit wird dem Konstruktivisten vom Realisten „realistisch“ vorgegeben und dem Realisten vom Konstruktivisten „konstruktivistisch“ geschaffen. Beide unterstellen, daß die wissenschaftliche Praxis ihre Seite unterstützt. Die Realisten sagen, daß die Wissenschaftler letztlich realistisch Vorgehen; die Konstruktivisten, daß sie konstruktivistisch vorgehen. Die wissenschaftliche Praxis ist sowohl realistisch als auch konstruktivistisch interpretierbar. Ob die Wissenschaftler sich eher als Realisten oder als Konstruktivisten sehen, hängt vor allem davon ab, welche (Wissenschafts-)philosophie gerade in Mode ist. Es gibt keine Anzeichen, daß realistisch orientierte Wissenschaftler erfolgreicher sind als konstruktivistische Wissenschaftler und es macht für die Ergebnisse von Wissens- oder Erkenntnisanstrengungen auch wenig Unterschied, ob sie als Erfindungen oder als Entdeckungen interpretiert werden. Zwar haben nach Glasersfeld ((7)) erst im 20. Jahrhundert „Wissenschaftler einzusehen begonnen, daß ihre Erklärungen der Welt stets auf Begriffen beruhen, die der menschliche Beobachter formt und seinen Erlebnissen aufprägt." Aber auch schon vor dieser Einsicht haben die Wissenschaftler genau das getan, wovon sie inzwischen eingesehen haben, daß sie es tun.

((7)) Glasersfeld ersetzt Wahrheit/Richtigkeit durch Viabilitat und Falschheit/Irrtum durch Nicht-Viabilität. (Manchmal tun es statt „wahr“ auch Ausdrücke wie „unbestreitbar“, „unwiderlegbar“ oder „logisch unanfechtbar“.) Die konstruktivistischen Ersatzbegriffe sind jedoch mit den gleichen Problemen behaftet wie jene, die sie ersetzen wollen. Viable Konstruktionen können mit der Realität nicht positiv abgeglichen werden. Merkwürdigerweise kann es gerade dann, wenn unsere (deshalb?) nicht-viablen Konstruktionen mißlingen oder scheitern zu einem direkten Kontakt, zu einer Konfrontation mit der „ontischen Realität“ kommen. Zwar erlaubt uns das Scheitern unserer Konstruktionen eine bloß negative Bestimmung der Realität, ein ,So (geht‘s) nicht!‘: „Die Realität kann nur mit Bezug auf jene Gedanken beschrieben werden, die sich als erfolglos erwiesen haben.“[26] Glasersfeld sagt, daß „für den Konstruktivisten völlig gleichgültig ist, wie das Sein ist.“[27] Aber daß die Realität ein ,Rad ist, das nichts dreht‘ gilt wohl nur solange, als unsere Konstruktionen viabel sind und nicht durch die „natürliche Auslese“ ausgeschieden werden.

((8)) Die Inkonsequenz des Konstruktivismus gerade dann, wenn Konstruktionen „scheitern“, ist ein Zeichen dafür, daß der Konstruktivismus mit der Voraussetzung einer zumindest negativ erkenntnisrelevanten sprachunabhängigen Realität auch die damit verbundene dualistische Argumentationstechnik übernommen hat. Aber vielleicht ist diese Inkonsequenz vermeidbar? Ein radikaler Konstruktivismus könnte auch argumentieren, daß unsere (theoretischen) Konstruktionen weder positiv noch negativ mit der Realität abgeglichen werden können. Das immer wieder beschworene Argument der Skeptiker gilt wohl nicht bloß für Ansichten oder Vorstellungen, die richtig oder viabel sind.

((9)) Wie werden Scheitern oder Widerlegung von theoretischen Konstruktionen bestimmt? Für das Gelingen unserer Konstruktionen sind wir selbst verantwortlich - ist für das Mißlingen die Natur, die Realität verantwortlich? Wer bestimmt, ob unsere Konstruktionen nicht-viabel sind? Die Realität oder eine (andere) Theorie über die Realität? Der Konstruktivismus würde an Konsequenz gewinnen, wenn er sich für die zweite Variante entscheidet. Diese wird in der Praxis von wissenschaftlichen Diskurskonflikten über die Viabilität/Nicht-Viabilität von theoretischen Konstruktionen angewandt. Das Scheitern von Theorien, ihre Widerlegung, wird dabei immer von anderen theoretischen Positionen aus konstatiert, die als (noch) nicht gescheitert den gescheiterten Konstruktionen vorausgesetzt werden. Das erklärt auch teilweise, warum sich Theoretiker nur selten davon beeindrucken oder beirren lassen, daß ihre Theorien von anderen für gescheitert erklärt wurden.

((10)) Der Konstruktivismus behauptet häufig, daß die „natürliche Auslese” oder gar die „Realität“ gleich einem „Sieb” über die Viabilität von Konstruktionen entscheidet. Vielleicht wäre der Konstruktivismus stringenter, würde er einräumen, daß hier von der Basis einer zur Voraussetzung für diese Konstruktionen mutierten Evolutionstheorie aus geurteilt wird.

((11)) Daß eine Theorie scheitert oder widerlegt wird, heißt nicht mehr, als daß sie der Theorie zuwiderläuft, von der aus Scheitern und Widerlegung konstatiert werden. ln der Wissenschaft finden sich vermutlich kaum theoretische Konstruktionen - es sei denn, niemand kennt sie außer ihren Vertretern - die nicht von irgendeiner anderen Theorie aus widerlegt wurden. Wie oft wurde die Relativitätstheorie schon für „widerlegt“ oder „gescheitert“ erklärt oder, worauf die Widerleger bestehen, tatsächlich widerlegt. Weder lassen sich Evolutionstheoretiker davon beeindrucken, daß sie von den Creationisten falsifiziert wurden noch umgekehrt In den verschiedensten Wissenschaften wurden oder werden die seltsamsten Ansichten vertreten: daß die Erde eine Scheibe ist, daß die Menschheit nicht älter als ein paar tausend Jahre ist, daß alle Höhlenmalereien Fälschungen sind, daß das Universum mit oder gar aus einem Knall entstanden ist, daß Aids (k)eine Viruserkrankung ist, daß die Materie aus Quarks und anderen Teilchen oder aus Energie besteht, daß es schwarze Löcher gibt, daß Phlogiston existiert etc. etc. - und alle diese Konstruktionen haben in der Überzeugung ihrer Konstrukteure funktioniert oder funktionieren immer noch. Viele, wenn nicht die meisten Vertreter ihrer Theorien haben diese trotz aller Anfechtungen und Vorwürfe des Scheiterns, trotz aller Falsifizierungen bis zum Ende ihres Lebens vertreten. Oft haben sie auf die Widerlegung ihrer eigenen Theorie mit der Widerlegung jener Theorie geantwortet, von der aus sie widerlegt wurden. Und wenn sie denn ihre Theorie zugunsten einer anderen aufgegeben haben, dann haben sie erst vom Ansatz einer Nachfolgetheorie aus ihre frühere Theorie als gescheitert erklärt.

((12)) Realistische, traditionell wahrheitsorientierte Denker behaupten manchmal, wie Glasersfeld in ((62)) hervorhebt, daß der Konstruktivismus und andere verwandte Denkweisen mit relativistischer Tendenz und multiplen Wirklichkeiten „gefährlich seien, weil sie Verirrungen, wie zum Beispiel dem Nazismus, nichts entgegensetzen können.“ Karl Popper hat dem Relativismus sogar unterstellt daß er „zur Anarchie, zur Rechtlosigkeit und zur Herrschaft der Gewalt führt.“[28] Nun schützen aber auch realistische Überzeugungen keineswegs davor, beliebige Auffassungen zu vertreten und zu rechtfertigen. Dazu braucht es nicht die in durchaus realistischem Jargon verfaßten Texte von Creationisten wie Ross oder Morris oder gar von Revisionisten wie Faurisson oder Buckley, - es genügt vielleicht der Hinweis auf die Unterstützung der Vereinigungskirche („Mun-Sekte“) durch realistisch orientierte Theoretiker wie Eccles, Bartley und Radnitzky, der auch im rechtsextremen Schrifttum prominent vertreten ist.

((13)) Ich bezweifle, daß Konstruktivisten (Glasersfeld ((63)) „aus rein epistemologischen Gründen“ tolerant sein müssen. Zum einen nehmen auch (Kritische) Realisten und Rationalisten das Toleranzpostulat für sich in Anspruch und begründen es mit der Irrtumsanfälligkeit der Menschen. Und warum sollte es nicht dogmatische, intolerante und ignorante Konstruktivisten einerseits und tolerante und bescheidene Realisten andererseits geben (auch wenn Popper seine Toleranz nur gepredigt hat und Glasersfeld sie auch lebt)?

((14)) Beide Denkmodelle - das realistische wie das konstruktivistische - sind Manifestationen einer Argumentationstechnik, mit deren Hilfe beliebige Auffassungen als wahr, falsch oder gescheitert im realistischen Fall und zumindest als nicht-viabel, gescheitert oder widerlegt im konstruktivistischen Fall ausgewiesen werden können, je nachdem, ob sie vertreten oder abgelehnt werden. Dies geschieht unter Berufung auf eine „unabhängige Realität“ oder andere Instanzen, die durch die Realisierung und Universalisierung von theoretischen Konstruktionen aus der Biologie oder anderen Bereichen erzeugt werden. Dem Radikalen Konstruktivismus von Ernst von Glasersfeld ist immerhin anzurechnen, daß er sich bei dieser Argumentationsweise nicht wohl fühlt und mit dem Problem kämpft, eine Terminologie zu verabschieden, die zutiefst objektivistisch und realistisch geprägt ist. Wie schwierig solche Versuche sind, zeigt sich in ((60)) und ((61)). „Daß andere ihre Wirklichkeit nicht so sehen müssen, wie man die eigene sieht“ ist trivial, wenn es sich dabei um verschiedene, vom jeweiligen Subjekt abhängige Wirklichkeiten handelt. Wenn aber für den anderen die gleiche Wirklichkeit vorliegt wie für mich und wir sie verschieden sehen, dann geht dem „Sehen“ das konstruktive Moment verloren. Und wenn „alles, was gesagt, gesehen oder gefühlt wird verschieden interpretiert” werden kann, - dann stellt sich wieder die Frage, ob gleiche oder verschiedene Objekte verschieden interpretiert werden, und dann, welche dieser Interpretationen viabel sind und welche nicht.

((15)) Der Widerstreit zwischen konstruktivistischer Hervorbringung von Wirklichkeiten und realistischer Reduktion in Richtung auf die eine Realität wird nach Präferenzen zu entscheiden sein, die sich aus Voraussetzungen ergeben, die nur dann zwingend sind, wenn wir sie machen.

Richard Schantz – Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus - eine Kritik aus realistischer Sicht

((1)) In seinem Artikel Die Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie schlägt Ernst von Glasersfeld vor, die traditionellen Begriffe des Wissens und Erkennens aufzugeben. Nach der klassischen, auf Platon zurückgehenden Analyse ist Wissen wahre, gerechtfertigte Überzeugung. Auf diese Analyse geht von Glasersfeld nicht direkt ein, obwohl wir seine Position so verstehen können, daß sie die Wahrheitsbedingung fallenläßt. Was ihn an der gesamten traditionellen Erkenntnistheorie vor allem stört, ist, daß sie, wie er glaubt, auf inakzeptablen realistischen Prämissen beruht. So sagt er gleich eingangs: ln der herkömmlichen Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um die Erkenntnis einer Welt an sich, das heißt einer Welt, so wie sie ist, bevor der Erkennende sie berührt und durch seine Erkundung gestört oder verändert hat. ((1))

((2)) Er nimmt insbesondere Anstoß daran, daß Wissen, so wie es traditionell verstanden wurde, “objektiv”, “von den Eigenschaften und Vorurteilen des Subjekts unabhängig” sein sollte ((1)). Sein radikal-konstruktivistischer Gegenvorschlag lautet: Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder ‘Repräsentation’ einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts. ((1))

((3)) Ich habe in meinen beiden Büchern Der sinnliche Gehalt der Wahrnehmung (München 1990) und Wahrheit, Referenz und Realismus. Eine Studie zur Sprachphilosophie und Metaphysik (Berlin & New York 1996) einen realistischen Standpunkt entwickelt und verteidigt, einen Realismus hinsichtlich der physischen Außenwelt. Ich habe für die Auffassung argumentiert, daß es eine objektive Welt gibt, eine Welt interagierender physischer Gegenstände in Raum und Zeit die kontinuierlich und völlig unabhängig von unseren Wahrnehmungen, unseren Gedanken und unserer Sprache existieren und die unabhängig von uns gewisse Eigenschaften haben und in gewissen Beziehungen zueinander stehen. Erkenntnistheoretisch habe ich eine Form des direkten Realismus vertreten. Dies ist die Sichtweise, daß wir äußere Gegenstände und Tatsachen direkt wahmehmen, d.h. ihre Existenz und Natur nicht auf der Basis grundlegenderer sinnlicher Gegebenheiten allererst erschließen müssen.

((4)) Zu behaupten, daß ein Gegenstand unabhängig von unseren epistemischen Fähigkeiten existiert, heißt nicht, zu behaupten, daß er unerkennbar ist, oder daß wir keine wahren Überzeugungen über ihn haben können. Es heißt nur, daß er durch unsere Überzeugungen oder durch die Begriffe, die wir gebrauchen, nicht konstituiert wird. Anders als für die verschiedenen Formen des Antirealismus gibt es für den Realismus - den Standpunkt des reflektierten Common sense - keinen Konflikt zwischen der Unabhängigkeit eines physischen Gegenstandes, seiner Autonomie, und seiner epistemischen Zugänglichkeit, der Möglichkeit, Wissen über ihn zu erwerben. Deshalb muß der Realist weder äußere Gegenstände zu bloßen Konstruktionen aus den Materialien der subjektiven Erfahrung degradieren, noch muß er bei der skeptischen Behauptung Zuflucht suchen, daß die objektive Realität jenseits unseres Erkenntnisvermögens liegt, daß sie unsere Fähigkeiten, sie zu erkennen, prinzipiell überschreitet. Wir werden sehen, daß von Glasersfelds Position eine eigentümliche Mixtur aus Konstruktivismus und Skeptizismus ist.

((5)) Ich verteidige nicht nur eine realistische Metaphysik und einen direkten Realismus in der Erkenntnistheorie, sondern auch einen realistischen Wahrheitsbegriff. Eine Aussage ist meines Erachtens genau dann wahr, wenn es sich in der Welt so verhalt, wie die Aussage sagt, daß es sich in ihr verhält. Ich habe auf diesem Grundgedanken aufbauend, die Konespondenztheorie der Wahrheit zu rehabilitieren versucht, der zufolge, grob gesprochen, eine Aussage genau dann wahr ist wenn es einen Sachverhalt gibt dem sie korrespondiert Korrespondenz wiederum erkläre ich durch Referenz - durch Beziehungen zwischen sprachlichen Ausdrücken und außersprachlichen Entitäten.

((6)) Es dürfte also klar sein, daß von Glasersfelds Position und meine diametrale Gegensätze bilden. Das heißt jedoch nicht, daß ich genau die Sichtweise akzeptiere, die er über Bord werfen will. Meine Sichtweise schließt z.B. nicht die Behauptung ein, daß unsere Sprache oder Gedanken die Welt widerspiegeln, oder daß die Welt, bevor wir sie erkennen, bereits rational strukturiert ist. Von wessen Ratio sollte sie denn strukturiert worden sein?

((7)) Von Glasersfeld leugnet die Objektivität der Wahrheit, des Wissens und der Erfahrungswelt. Er räumt jedoch erstaunlicherweise die Existenz einer “ontologischen Realität” ein ((58)), die wir allerdings, wie er hinzufugt, rational nicht erfassen können. Dieser ontologischen Realität stellt er die “Wirklichkeit” gegenüber ((58)), die Welt, die wir erleben, die “Lebenswelt” ((22)). Es ist diese Welt, die Welt unserer Praxis, der sein eigentliches philosophisches Interesse gilt. Manchmal läßt von Glasersfeld die nötige begriffliche Sorgfalt vermissen. So proklamiert er, daß der radikale Konstruktivismus keinerlei ontologische Behauptungen aufstellt. Aber seine Behauptung, daß es eine ontologische Realität gibt, ist natürlich, wie jedes einzelne Wort unterstreicht, eine ontologische Behauptung. Schließlich ist die Ontologie schlichtweg die Lehre von dem, was es gibt. Und auch die Lebenswelt scheint es ihm zufolge doch zu geben. Ferner sagt er, daß der radikale Konstruktivismus nicht als Beschreibung einer “realen Welt” verstanden werden darf ((64)). Damit impliziert er jedoch, daß die wirkliche Welt und die reale Welt auseinanderfallen. Ist das begrifflich zumutbar?

((8)) Wahrheit. Wissen und die Erfahrungswelt sind laut von Glasersfeld abhängig von den Aktivitäten denkender Subjekte; sie sind mentale Konstruktionen. Aber was heißt das? Er betont, daß wir die Begriffe, die wir in unseren Beschreibungen und Erklärungen der Welt benutzen, nicht entdecken, sondern erfinden. Es ist sicherlich richtig, daß wir die Begriffe, mit denen wir die Dinge um uns klassifizieren, selbst gemacht haben. Aber die Konsequenz, die von Glasersfeld daraus zieht, ist, daß die Existenz und die Natur von Gegenständen von unserem Begriffssystem abhängig ist. Betrachten wir Sterne. Ihre Existenz und Natur ist von unserer Sprache und unserem Denken kausal völlig unabhängig. Wir haben nicht die Sterne gemacht, sondern lediglich den Begriff “Stern”. Wir sind nicht die Ursache dafür, daß es Sterne gibt. Es würde Sterne auch dann geben, wenn wir nicht existierten. Und ebensowenig ist die Existenz von Sternen logisch von der Sprache abhängig, in der wir Beschreibungen von ihnen geben. Die Existenz von Sternen ist mithin weder logisch noch kausal von unserem Begriffssystem abhängig. In welchem Sinn sind also die Sterne von unserer mentalen Konstitution abhängig? Es gibt keinen Sinn von “abhängig” - zumindest keinen Sinn, den ich verstehe -, in dem die Welt von unserem begrifflichen Repertoire abhängig ist.

((9)) Von Glasersfelds Hauptargument gegen das traditionelle, realistische Bild geht von Xenophanes’ Bemerkung aus, daß, selbst wenn es einem Subjekt gelänge, die Welt so zu repräsentieren, wie sie wirklich ist, es dennoch niemals wissen könnte, daß es ihm gelungen ist. Von Glasersfeld fährt dann fort: Die Schlagkraft dieser Aussage beruht auf der Einsicht, daß die Richtigkeit oder ‘Wahrheit’ eines Weltbildes nur durch einen Vergleich mit der Welt an sich bestätigt werden könnte und daß dieser Vergleich für uns ausgeschlossen ist. ((12))

((10)) Das skeptische Prinzip, daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne nicht erkennen können, akzeptiert er bereitwillig ((14)). Argumente dieser Art sind in der zeitgenössischen Philosophie sehr populär. Der realistischen Auffassung zufolge müssen wir, um den Wahrheitswert einer Überzeugung zu bestimmen, feststellen, ob sie mit den Tatsachen übereinstimmt oder nicht. Aber, so wird eingewandt es ist für uns unmöglich, aus dem Zirkel unserer Erfahrungen und Überzeugungen auszubrechen, um die Welt an sich zu untersuchen. Da alle unsere Erkenntnisse der Welt durch unsere Vorstellungen vermittelt sind, können wir niemals an die externen Tatsachen herankommen, um zu sehen, ob sie unseren Überzeugungen korrespondieren. Der angebliche Vergleich einer Überzeugung mit der Realität stellt sich zu guter Letzt als lediglich ein Vergleich einer Überzeugung mit anderen Überzeugungen heraus. Überzeugungen, so lautet die Konklusion, können nur durch die interne Kohärenz in einem System von Überzeugungen gerechtfertigt werden.

((11)) Dieses Argument verdient eine sorgfältigere Untersuchung, als ich sie hier geben kann. (Vgl. meinen Artikel: The role of sensory experienee in epistemic justification: a problem for coherentism, erscheint demnächst in Erkenntnis). Mein wesentlicher Einwand beruht auf der besonderen Rolle, die die sinnliche Wahrnehmung im Prozeß des Erwerbs und der Rechtfertigung von Wissen spielt. Die Verfechter des Arguments weisen den natürlichen Gedanken, daß uns die Wahrnehmung einen direkten Zugang zu den externen Tatsachen verschafft, als naiv zurück. Die Wahrnehmung, zumindest die Wahrnehmung von Tatsachen, so argumentieren sie, beinhaltet die Anwendung von Begriffen und mithin beinhaltet sie Urteile. Deshalb sind wir in der Wahrnehmung nicht direkt mit den Tatsachen konfrontiert. Die Tatsachen sind uns nicht einfach gegeben. Die Welt präsentiert sich unserem passiven Bewußtsein nicht bereits als in Tatsachen zerlegt. Der Versuch, einen Zugang zu einer externen Tatsache zu finden, um zu sehen, ob sie mit einem Urteil übereinstimmt, endet letztlich mit einem weiterem Urteil, einem Wahrnehmungsurteil.

((12)) Aber selbst wenn es keine Wahrnehmung einer Tatsache ohne ein Urteil gibt, so folgt daraus doch nicht, daß ich, wenn ich z.B. sehe, daß ein Apfel rot ist, bloß urteile, daß er rot ist. Das Wahmehmungsurteil beruht auf der sinnlichen Erfahrung. Die visuelle Präsentation des Apfels ist ein wesentliches Element meines perzeptiven Bewußtseins; sie ist es, die mein Sehen des Apfels von einem bloßen Denken an ihn oder einer Erinnerung an ihn unterscheidet. Deshalb vermag der Umstand, daß die Wahrnehmung von Tatsachen wesentlich Urteile beinhaltet, keineswegs zu zeigen, daß wir durch die Wahrnehmung kein Wissen von etwas erwerben können, das nicht selbst wiederum ein Urteil ist. Mein Standpunkt ist just, daß unsere durch begriffliche Tätigkeit strukturierte sinnliche Erfahrung uns einen kognitiven Zugang zu den objektiven Tatsachen verschafft.

((13)) Das geschilderte Argument, daß wir in der Wahrnehmung ein Bewußtsein nur von einem Urteil erreichen können, ähnelt dem Schluß von der Prämisse, daß Essen Kauen und Schlucken beinhaltet auf die Konklusion, daß die einzigen Dinge, die wir essen können, unsere Zähne und unsere Kehle sind. Urteile fungieren in der gewöhnlichen perzeptiven Erkenntnis nicht als Gegenstände der Wahrnehmung; sie sind vielmehr ein Teil dessen, was es uns ermöglicht, ein propositionales, sinnliches Bewußtsein von externen Tatsachen zu erwerben. Wir können demnach, so scheint es, Tatsachen daraufhin untersuchen, ob sie ein Urteil wahr oder falsch machen. Eine reine, begrifflich und doxastisch unvermittelte Präsentation der Tatsachen ist dazu nicht nötig. Es wird oft übersehen, daß ein Wahmehmungsurteil direkt d.h. nichtinferentiell, und interpretativ zugleich sein kann.

((14)) Einige Bemerkungen noch zum Begriff der Wahrheit. Von Glasersfeld plädiert dafür, diesen Begriff durch den Begriff der “Viabilität” zu ersetzen, den er in pragmatistischer Manier als "Brauchbarkeit angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen" erläutert ((56)). Aber er unterschätzt die Schwierigkeiten, die die Preisgabe des Begriffs der Wahrheit mit sich bringt gewaltig. Wir brauchen Wahrheit z.B. in der Logik, um solch elementare logische Beziehungen wie Implikation und Widerspruch zu kennzeichnen. Eine Aussage impliziert eine andere dann und nur dann, wenn es unmöglich ist daß die erste wahr und die zweite falsch ist. Und eine Aussage steht dann und nur dann im Widersprach zu einer anderen, wenn sie notwendigerweise unterschiedliche Wahrheitsweite haben.

((15)) Auch in der Semantik oder Bedeutungstheorie spielt der Begriff der Wahrheit eine zentrale Rolle. Gottlob Frege, der frühe Wittgenstein, Rudolf Carnap und in jüngerer Zeit Donald Davidson, der an Alfred Tarskis endlich axiomatisierte Wahrheitsdefinitionen für formalisierte Sprachen anschließt, haben alle die These vertreten, daß die Bedeutung eines Satzes aus seinen Wahrheitsbedingungen besteht, daß, anders ausgedrückt, einen Satz zu verstehen, heißt, seine Wahrheitsbedingungen zu kennen. Übrigens klingen von Glasersfelds eigene bedeutungstheoretische Bemerkungen recht obsolet - wie etwa, daß die subjektive Erfahrung das Material ist, aus dem die Bedeutung eines Zeichens besteht ((42)), oder daß Zeichen ihre Bedeutung durch einen “Interpretationsprozeß an beiden Enden des Kommunikationskanals” erhalten ((38)). Der späte Wittgenstein hat ausführlich dargelegt, daß die Erfahrung nicht konstitutiv für Bedeutung und Verstehen ist, und daß ein Zeichen zu verstehen im allgemeinen nicht heißen kann, es in einer bestimmten Weise zu interpretieren. Aber das ist ein weites Feld.

((16)) Und schließlich darf die Funktion der Wahrheit im praktischen Schließen nicht vergessen werden. Offensichtlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir unsere Ziele erreichen, viel größer, wenn unsere Handlungen durch wahre statt durch falsche Meinungen geleitet sind. Ein Chirurg, der eine Herzoperation durchführt, tut gut daran, sich auf wahre statt auf falsche Meinungen über den Aufbau und die Funktionsweise des Herzens zu stützen. Es ist im allgemeinen wichtig für uns, zu wissen, wie es sich in der Welt verhält, damit wir uns erfolgreich in ihr verhalten können. Der Begriff der Anpassung, den von Glasersfeld seinen eigenen konstruktivistischen Zwecken dienlich zu machen versucht ((23)H(28)), kann und sollte besser realistisch verstanden werden - als Anpassung an die objektiven Gegebenheiten, deren Kenntnis die Basis unserer Handlungen ist. Seine oftmals überhasteten Angriffe vermögen die Auffassung, daß Wahrheit eine wesentliche Rolle in unseren theoretischen und praktischen Beziehungen zur Welt spielt, nicht zu erschüttern.

Rudolf Taschner – Der Blick in Gottes Karten

((1)) Aus einigen Passagen des Artikels von Ernst von Glasersfeld zieht der hellhörige Mathematiker Parallelen zwischen radikalem Konstruktivismus und formaler Mathematik:

((2)) Beide gründen auf einer fundamentalen Ablehnung: Der radikale Konstruktivismus lehnt den Begriff der ontischen Wahrheit ab ((57)). Die formale Mathematik verwirft die Forderung, Axiome haben evident zu sein.

((3)) Beide entwerfen eine gleichsam „systemimmanente“ Rechtfertigung des von ihnen gebilligten Denkens: Der radikale Konstruktivismus ersetzt Wahrheit durch Viabilität, womit die Forderung gemeint ist, Aussagen haben einerseits in bezug auf bereits getroffene Aussagen und andererseits in bezug auf die vom denkenden Subjekt als „Tatsachen“ benannte Erfahrungen angepaßt zu sein ((27)). Die formale Mathematik ersetzt die Evidenz von Axiomen durch die Forderung der Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und Unabhängigkeit eines Axiomensystems und demgemäß ersetzt sie Wahrheit durch Ableitbarkeit aus den Axiomen gemäß eines formalen Kalküls.

((4)) Beide erfreuen sich totaler Immunität: Der Skeptiker des radikalen Konstruktivismus gilt, sobald er mit den strengen Regeln der „Grammatik“ dieses Denksystems bricht, als heillos verwirrter Metaphysiker ((20)). In der formalen Mathematik ist die Lage ähnlich: Hilbert, der Ahnherr der formalen Mathematik, hat dieses in sich geschlossene und daher von außen unangreifbare System deshalb geschaffen, damit ihn niemand aus dem von Cantors Mengenlehre geschaffenen „Paradies“ hinauswerfen könne. Tatsächlich hielt Poincarä Cantors Mengenlehre für eine „Krankheit“ und empfand demgemäß das von Hilbert aus seiner Innensicht Paradies genannte System eher als eine unheilvolle Falle, in die Hilbert und mit ihm alle anderen formalen Mathematiker getappt sind. Bekanntlich verschärfte sich der mathematische Grundlagenstreit im dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ohne entschieden worden zu sein: Gegen ein immunes System zu kämpfen, wie es die formale Mathematik ist, erwies sich letztlich als sinnlos.

((5)) Beide gebärden sich im Unterschied zu „fundamentalistischen“ Ideologien wie Marxismus, Darwinismus oder Psychoanalyse als tolerant - wenn auch mit dem Anflug einer gewissen Herablassung: Der radikale Konstruktivismus leugnet keineswegs ontische Realität, er hat ja nicht einmal die Veranlassung, dies zu tun, weil er jedes sinnvolle Sprechen darüber für obsolet erklärt ((58)). Die formale Mathematik leugnet keineswegs die Anwendbarkeit der Mathematik (ihre Vertreter würden sich sogar eher die Zunge abschneiden, als dieszu tun, weil allein in der Nützlichkeit der Mathematik ihr Prestige und damit ihre gesellschaftliche Förderung politisch argumentierbar ist), obwohl aus dem System der formalen Mathematik unverständlich bleibt, warum Mathematik so flexibel anwendbar ist, ja was „Anwendung“ letztlich überhaupt bedeutet.

((6)) Beide sind - ebenfalls im Gegensatz zu „fundamentalistischen“ Ideologien - frei vom unbedingten Anspruch auf Wahrheit: Der radikale Konstruktivismus deshalb, weil ihm der Begriff der „Wahrheit“ als solcher prinzipiell suspekt ist Die Ausführungen von Ernst von Glasersfeld über die „Quellgebiete“ seines Denkens verstehe ich dementsprechend als Bekundung für die Plausibilität, nicht aber als Beweis für die unbezweifelbare Gültigkeit des radikalen Konstruktivismus. Genauso ist der formalen Mathematik der Gedanke, man könne ihre Gültigkeit stringent herleiten, völlig fremd: ihr genügte die Absicherung bezüglich Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit (selbst diese ist nach den Sätzen Gödels nicht zu erreichen) - daß damit die Vorstellung von absoluter Wahrheit verbunden sei, ist jedoch völlig abwegig.

((7)) Beide Systeme schließlich - und dies begründet meine Skepsis, die ich gegen beide Systeme hege, - verkennen die Stichhaltigkeit von Argumenten, die mit unvermittelter Anschauung, Evidenz oder Intuition einhergehen. Denn in der formalen Mathematik haben die Aussagen allein auf dem Sprachspiel zu beruhen, das auf der Grammatik des Axiomensystems und der Ableitungsregeln gründet. Und im radikalen Konstruktivismus sind Aussagen in das Netz der bereits als viabel betrachteten Aussagen einzubinden und somit letztlich nur von diesem Aussagennetz abhängig (dessen einzelne Knoten - angepaßt auf eben erfahrene „Tatsachen“, was immer man unter „Tatsache“ versteht, - stets ausgebessert werden dürfen).

((8)) Damit wird auf zu viel verzichtet. Der formalen Mathematik gelingt es zum Beispiel nicht, mit ihrer Beschreibung des Systems der reellen Zahlen den intuitiven Begriff des Kontinuums stimmig zu fassen - der für mich zwingendste Grund dafür, Mathematik nicht formal zu konstituieren.

((9)) Daß sich auch der radikale Konstruktivismus durch den Verzicht auf ontische Wahrheit und das Leugnen ihres Aufleuchtens in den Sternstunden des auf seine Intuition vertrauenden Forschers zu viel vergibt, sei exemplarisch an einer (seltsamer Weise kaum allgemein bekannten) Begebenheit erläutert, die sich entscheidend für die Entdeckung der Quantentheorie erweisen sollte: 1814 entdeckte der Optiker Joseph Fraunhofer die nach ihm benannten Absorptionslinien im Sonnenspektrum. 1859 erkannten der Chemiker Robert Wilhelm Bimsen und der Physiker Gustav Robert Kirchhoff, daß die Spektrallinien Fraunhofers für jedes chemische Element kennzeichnende Wellenzahlen (d.h. Anzahlen von Lichtwellen pro Zentimeter) aufweisen, was die beiden unter anderem zur Entdeckung der Elemente Cäsium und Rubidium führte. Die Wellenzahlen des leichtesten und ersten Elements im Periodensystem, des Wasserstoffs, im sichtbaren Licht lauten zum Beispiel kα = 15233,1/cm, kβ = 20564,1/cm, kγ = 23032,4/cm, kδ = 24372,9/ cm, kε = 25181,3/cm. Obwohl es sich hierbei um beeindruckend genaue optische Messungen handelt (das Ungefähr-gleich-Zeichen = erinnert daran, daß man dennoch mit Meßunschärfen zu rechnen hat), blieb für lange Zeit völlig unklar, warum (d.h. in der Sprache der Physik: nach welchem mathematischen Gesetz) die mit α, ß, γ, δ, ε numerierten Spektrallinien des Wasserstoffs gerade diese Wellenzahlen besitzen. 1885 fand der Schreib- und Rechenlehrer Johann Jakob Balmer das Gesetz. Bemerkenswert ist, wie Balmer es entdeckte, da zu seiner Zeit alle Versuche, anhand eines Modells den Wellenzahlen auf die Spur zu kommen, kläglich versagten. Balmer ging allein von den fünf oben angegebenen Daten aus und unterwarf sie der bereits aus der antiken griechischen Mathematik bekannten Methode der Kettendivision: Die größere zweier Wellenzahlen wird durch die kleinere dividiert, danach wird der Divisor durch den eben erhaltenen Rest dividiert und so weiter. Wir greifen die Wellenzahlen kα und kβ als Beispiele heraus; hier lautet diese Kettendivision;

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Für das Verhältnis kβ : kα selbst ergibt sich hieraus:

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Der brillante Gedanke Balmers war, daß der zuletzt berechnete, unverhältnismäßig große Nenner 64 + 11,1 : 11,7 = 65 bereits unterhalb der Meßgenauigkeit rangiert - er könnte innerhalb der Meßtoleranz genauso gut durch unendlich ersetzt werden. Diese Ersetzung nimmt Balmer vor. Er vertraut darauf, daß der wahre Wert des Verhältnisses

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beträgt. Dieser Bruch mit relativ kleinen Zähler und Nenner beschreibt einerseits das gemessene Verhältnis hinreichend genau und steht andererseits für die Zuversicht Balmers, daß die Gesetze der Natur im Grunde einfach sind. Mit derselben Methode gewinnt Balmer die - seiner Meinung nach exakten - Verhältnisse kγ : kα = 189 : 125, kδ : kα = 8 : 5, kε : kα = 81 : 49 und erhält so aus der fortlaufenden Proportion

Taschner4.png


die nach ihm benannte Spektralformel.

((10)) Für die Diskussion des radikalen Konstruktivismus ist an diesem Beispiel entscheidend: Die Herleitung dieses Gesetzes erfolgte direkt von den Daten zu den (von Balmer als exakt vermuteten) Zahlen. Balmer benützte weder eine Theorie noch ein die Natur simulierendes Modell - er konnte dies gar nicht, denn das erste Modell, welches die Serienformel Balmers aus einem Atommodell „erklärte“, wurde mehr als 25 Jahre später von Niels Bohr entworfen.

((11)) Es ist ferner bemerkenswert, daß die in der „Kopenhagener Deutung der Quantentheorie“ erstellte Verfeinerung des Bohrschen Modells überdies gestattet, die Breite der Spektrallinien des Wasserstoffs zu verstehen: aus dieser Sicht bedeutet Balmers Vertrauen in die Verhältnisse mit kleinen Zählern und Nennern die Annahme eines idealen Wasserstoffatoms, eines von allen äußeren Einflüssen unabhängigen quantentheoretischen Zweikörperproblems. Wäre diese Idealisierung in der Natur verwirklicht, reduzierten sich die Spektrallinien tatsächlich auf mathematisch exakte Linien an den von Balmer genau vorhergesagten Stellen im Spektrum - allerdings mit dem Nachteil, daß man sie nicht messen könnte, denn die mathematisch exakte „unendlich dünne“ Linie würde im Spektrum unsichtbar bleiben.

((12)) So gesehen bestätigt sich an diesem Beispiel erneut die von Ernst von Glasersfeld zitierte Erkenntnis des Xenophanes, daß es Balmer letztlich doch nicht erlaubt war, sich die Welt - und sei es auch nur die Welt des realen Wasserstoffatoms - so vorzustellen, wie sie „wirklich“ ist. Die Natur entzieht sich letztlich immer den Zugriffen des sie ertappen wollenden Forschers.

((13)) Das Beispiel der Entdeckung von Balmers Formel belegt jedoch, daß man nicht vor die Alternative gestellt ist, sich entweder für den Anspruch des naiven Beobachters, er besitze eine in allen Details stimmige Vorstellung von der Natur, oder aber für die radikale Ablehnung des Konstruktivisten, von einer Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe überhaupt zu sprechen, zu entscheiden. Wird der Anspruch des naiven Beobachters zurecht bereits von den griechischen Denkern verworfen, mißachtet die Ablehnung des Konstruktivisten ebenso sträflich die Kraft der Intuition des genialen Forschers. Nur durch sie wird Naturwissenschaft erst interessant, ohne sie bleibt unverständlich, wie Naturwissenschaft überhaupt zustande kam.

((14)) Einstein spricht in dem Zitat ((8)) zurecht von der unüberbrückbaren Differenz zwischen den Modellen der Physiker und der Wirklichkeit. Er spricht aber an anderer Stelle auch vom Reiz der Physik, daß sie erlaubt, „dem heben Gott in die Karten zu schauen“. Balmer war zum Beispiel ein „Blick in Gottes Karten“ gegönnt, als er von den Meßresultaten auf die „exakten“ Werte schloß. Eine Wissenstheorie, die dies nicht zu würdigen versteht, geht daher am zentralen Kern von Erkenntnis vorbei.

Rolf Todesco – Genetische Wissenschaftsgeschichte, Kollaboratives Lernen und Hyperkommunikation

((1)) Der Radikale Konstruktivismus kann aus immanenten Gründen nicht an einem ontologischen Wahrheitsgehalt gemessen werden. Er muss sich in seinen Anwendungen als viabel erweisen. Ernst von Glasersfeld demonstriert die Viabilität seines Konstruktivismus anhand einiger Beispiele der Begriffsanalyse (EvG ((43ff))). Abschliessend schreibt er, „konstruktivistische Ansätze sind heute ein Gemeinplatz in der Didaktik (...)", und relativiert, dass die Leser seines „Artikels selbst entscheiden müssen, inwieweit sie (diese Ansätze) mit den hier (im Artikel) beschriebenen Grundsätzen übereinstimmen“ (EvG ((59))). Ernst von Glasersfeld’s Formulierung „für mich liegt das wichtigste Anwendungsgebiet des Konstruktivismus im alltäglichen Leben“ (EvG ((60))) ist treffend und ausweichend zugleich, denn was, was Menschen beschäftigt, findet nicht im alltäglichen Leben statt?

((2)) Der Radikale Konstruktivismus muss sich (auch) im alltäglichen Gebrauch von Wissenschaftlern und Lehrern als viabel erweisen. Zur Diskussion steht seine Brauchbarkeit. Ich will diese im folgenden in drei Gebrauchsanweisungen diskutieren.

1. Gebrauchsanweisung: Genetische Wissenschaftstheorie

((3)) Ernst von Glasersfeld stellt sich und seinen Konstruktivismus, obwohl er dessen Subjektivität betont, in die Tradition der Wissenschaften. Man kann, und ich tue es, den Radikalen Konstruktivismus auch radikaler verstehen, nämlich nicht als Paradigmenwechsel innerhalb der Wissenschaft, sondern als Paradigma nach der Wissenschaft. Aus der Sicht des Radikalen Konstruktivismus lässt sich die Wissenschaft insgesamt als Paradigma der Diskussion um objektive Wahrheit interpretieren. Im für die Sache von Piaget recht seltsam gewählten Ausdruck „Konstruktion“ deutet sich unmissverständlich an, was wir heute Engineering nennen: wir konstruieren die Welt nicht unter Gesichtspunkten von Wahrheit, sondern von Viabilität.

((4)) Ernst von Glasersfeld schreibt, dass sein Denken und mithin der Radikale Konstruktivismus sich aus vier Quellgebieten genährt haben (EvG ((3))). Diese Quellgebiete werden von ihm extrem selektiv (re-)konstruiert: die als erste seiner Quellen angeführten, skeptischen Zitate sind innerhalb der Wissenschaften überhaupt nicht begreifbar und haben dort auch keinerlei Konsequenzen (gehabt). Erst im Konstruktivismus lassen sich diese innerhalb der Wissenschaften abweichenden Formulierungen als Signale eines immer schon antizipierten Paradigmen Wechsels zur Konstruktion verstehen. Das paradigmatische Selbstverständnis der Naturwissenschaften ist dagegen notwendigerweise bei Popper stehengeblieben. Theoreme der allgemeinen Relativität, der Unschärfe, der Wellen-Korpuskel-Zweiheit usw. beherrschen nur esoterische Diskurse. Innerhalb der Naturwissenschaften wird nach wie vor die Welt vermessen, wie sie wirklich, resp. an sich ist.

((5)) In den weicheren Naturwissenschaften lässt sich kaum jemand finden, der die Evolutionstheorie - die immer noch Darwin statt Wallace zugeschrieben wird - als halbwegs sinnvolle Konstruktion auffasst und nicht mit der einzig möglichen Realität gleichsetzt. Ernsthafte Zweifel an der Evolutionsgeschichte sind innerhalb der Wissenschaft nicht „viabel“, wie kontrovers die Details der Evolution auch behandelt werden.

((6)) Dass man Piaget keineswegs radikal konstruktivistisch lesen muss, und dass er gemeinhin auch nicht so gelesen wird, ist wie Ernst von Glasersfeld ausdrücklich schreibt, sogar die Begründung des Labels „Radikaler Konstruktivismus“, Vielmehr wird Piaget nicht nur in der angelsächsischen Psychologie auch heute noch vorwiegend innerhalb mehr oder weniger naiv realistischer Konzeptionen rezipiert. Auch Bruners Argumentation über Piagets Selbstverständnis (EvG, ((Anmerkung 3)))lässt sich ohne „Radikale“ Auswahl von Textstellen, wie Ernst von Glasersfeld zugibt, nicht leicht verwerfen: Piaget ist vor allem in den Augen der Radikalen radikal, er selbst hat sich sehr stark um wissenschaftliche Wahrheit bemüht.

((7)) Es ist ein hervorragender Gebrauchswert des Radikalen Konstruktivismus, wissenschaftliche Texte als solche zu durchschauen. Es geht dabei aber nicht um eine Weiterentwicklung der Wissenschaften „durch eine schrittweise Einführung neuer, bewußter Voraussetzungen“ (EvG ((4))), sondern um die hegelsche Aufhebung jener Wahrheitsfindung überhaupt, welche Wissenschaften konstituiert. Die Kybernetik des Konstruktivismus untersucht nicht mehr ontologisch gegebene Realitäten, sondern den Kybernetiker (Beobachter), der solche Realitäten für-wahrnimmt. Genau deshalb nennt Heinz von Foerster, einer der besten Freunde von Ernst von Glasersfeld, denKonstruktivismus Kybernetik der Kybernetik (Second Order Cybernetics). Mit der Systemtheorie von Wiener und Shannon hat das so viel oder so wenig zu tun, wie Marx mit Hegel. Die radikale „Entdeckung“, dass das „operationell geschlossene System“ von Powers (EvG ((37))), das sich nicht mit seiner Umwelt sondern mit sich selbst beschäftigt, insbesondere die Kybernetiker Wiener, Shannon und Powers selbst beschreibt, ist etwas, was sich diese Herren kaum träumen liessen, geschweige denn, jemals auch nur ansatzweise formuliert hätten.

((8)) Als Wissenschaftskritik ist der Radikale Konstruktivismus eine ausführlich dokumentierte Anleitung zur Dekonstruktion von Kommunikations-Metaphern, wie sie in der Systemtheorie 1. Ordnung, die sich mit offenen Systemen beschäftigt, geläufig sind. So ist etwa Maturanas Frage, welche Instanz der Natur denn jenseits der wissenschaftlichen Beobachtern (Gen-Technologen) den vermeintlichen DNS-Code der Gene lese, wissenschaftlich so wenig beantwortbar, wie die Informationstheorie einen brauchbaren Begriff von Information vorlegen kann.

2. Gebrauchsanweisung: Kollaboratives Lernen

((9)) Ernst von Glasersfeld hat seinen Artikel mit „Wissenstheorie" überschrieben. Egal was Wissen ist, ein Teil davon zeigt sich in Texten, oder genauer gesprochen, darin, welche Texte(teile) durch welche ersetzbar sind. Wenn wir in einem Gespräch den andern nicht verstehen, also umgangssprachlich gesprochen nicht „wissen“, was der andere meint, arbeiten wir mit solchen Ersetzungen. Ein Wort wird „erklärt“, indem man andere Wörter dafür angibt, auch wenn zweifelsohne stimmt, dass man Wörter überhaupt so nicht einführen kann(EvG ((38f))). Für „Tisch“ kann man je nach Kontext sagen:ein Möbel; eine Platte mit Beinen; das, was wir gestern gekauft haben; table; desk; das da; usw. Immer wird eine Buchstabenkette durch eine andere ersetzt. Einen anderen Menschen verstehen heisst in diesem Sinne, wissen, welche Ersetzungen er in welchen Situationen machen oder zulassen würde. Was sich der je andere dabei denkt, ist im strengen Sinne des Wortes unerheblich, nicht erhebbar, weil jedes Nachfragen wieder nur durch Worte ersetzt werden kann. „Wörter befördern ihre Bedeutung nicht“ (EvG ((38))). Ich kann nicht wissen, was die andern wissen, ich kann diesbezüglich nur in Erfahrungen bringen, welche materiellen Texte und Textersetzungen sie unabhängig von den Bedeutungen, die dieseTexte für mich haben, akzeptieren und welche nicht. Jene Sozialpsychologen, von welchen Ernst von Glasersfeld sagt, sie hätten recht „wenn sie sagen, daß die Bedeutungen von Wörtern in der Gesellschaft ‘ausgehandelt’ werden“ (EvG ((42))), haben radikal gesehen überhaupt nicht recht. Wir verhandeln nicht die Bedeutung von Wörtern, wir lernen durch Akkommodation (EvG ((35))), welche Wörter wir - unabhängig von ihrer Bedeutung - wann mit Gewinn verwenden können. Das Kleinkind, das in bestimmten Situationen Tasse statt Tassen sagt sieht eben in der Reaktion seiner Umwelt, wozu insbesondere auch seine Mutter gehört, dass es besser Tassen gesagt hätte, und zwar auch jenseits davon, ob es Dinge an sich oder mentale Operationen unterscheidet (EvG ((46))).

((10)) Sprachliches Lernen ist ein kollaborativer Prozess, in welchem es nicht darum geht, dass Wissen von einigen, die es haben, an andere, die es wollen, übermittelt wird, sondern darum, dass die an der Kollaboration Beteiligten gemeinsam erforschen, welche Texte in ihrer gemeinsamen Praxis für alle viabel sind. Dabei geht es darum, einen gemeinsamen physisch-materiellen Text im engen Sinne des Wortes zu konstruieren. Das gemeinsame ist der Text als externes Gedächtnis (Keil-Slawik) und keinesfalls irgendeine Bedeutung des Textes. Das Wissen der Lerngemeinschaft existiert als dynamischer Text, der von den Beteiligten kollaborativ, jenseits vonBedeutungen, die der Text für den Einzelnen bat, weiterentwickelt wird, wiewohl der Einzelne den Text natürlich gemäss den Bedeutungen, die er für ihn hat, erzeugt. Natürlich kann man dann auch nicht an „richtigen“ und „falschen“ Interpretationen des Textes interessiert sein oder daran, dass die am Lernprozess Beteiligten alle das gleiche lernen.

((11)) ln diesem Sinne ist Konstruktivismus auch keine Didaktik, sondern die Aufhebung jeder Didaktik, was wohl in der bereits erwähnten Relativierung von Ernst von Glasersfeld angedeutet ist. Didaktiken sind darauf hin angelegt, das Lehren zu optimieren. Wo in Didaktiken verschleiernd vomLernen die Rede ist geht es immer um das trivialisierende „Lernen“, das der Lehrer kontrolliert nicht um das Lernen, das von Ernst von Glasersfeld mit dem Begriff der Akkommodation beschrieben wird (EvG ((35))).

3. Gebrauchsanweisung: Hypertexte

((12)) In den Studiengängen, die ich an der Fachstelle für Weiterbildung der Universität Zürich organisiere (http://www.unizh.ch/weiterbildung dort, zB. Hyperkommunikation),gibt es anstelle von Kursunterlagen, in welchen steht was einer schon weiss und jeder andere wissen muss, gemeinsame Kursunterlagen, die von den Beteiligten gemeinsam produziert werden. Wie wir nach kurzen Versuchen wissen, ist das gemeinsame Formulieren von sequentiellen Texten eine kaum erlernbare Kunst, ln konventioneller Koautorenschaft formuliert ein Autor, die Koautoren müssen korrigierend mehr oderweniger zufrieden sein. Mit Hypertext haben wir ein Medium, das sinnvolle Kollaboration zulässt, weil darin parallele Formulierungen möglich sind. Die Autoren stellen ein Vokabular aus Hypertextteilen (häufig Hyperkarten genannt) zurVerfügung, so wie wir Wörter - jenseits ihrer Bedeutung - immer schon zur Verfügung haben. Der Leserautor setzt Textteile zusammen, so wie wir beim Sprechen Wörter zusammensetzen (Todesco, 1998, 1999).

((13)) Wesentlich ist hier: Die Koautoren formulieren selbst. Im Lernprozess geht es uns ausschliesslich darum, Viabilität in kollektiven Formulierungen zu erzeugen, indem wir einen gemeinsamen Hyper-Text produzieren, in welchen die Beteiligten ihr eigenes Wissen zum Thema einbringen und mit den Beiträgen der andern verknüpfen, respektive verlinken. Ein FTP-Server im Internet bietet die Möglichkeit, dass alle Beteiligten jederzeit mitschreiben und mitlesen können.

((14)) Diese Lernform ist kollektives Resultat, das wir in unseren Studiengängen in der Auseinandersetzung mit Ernst von Glasersfeld’s Radikalem Konstruktivismus entwickelt haben. Wir sind nun im Rahmen eines EU-Projektes über Wissensmanagement dabei, Spielregeln für solche (in unseren Augen) konstruktivistischen Lernprojekte zu entwickeln.

Literatur

Todesco. R. (1998). Effiziente Informationseinheiten im Hypertext. In: Stoner, Angelika / Harriehausen, Bettina (Hrsg.): Hypermedia für Lexikon und Grammatik. Gunter Narr, Tübingen
Todesco, R. (1999). Wissensmanagement im Hypertext, ln: Jakobs, Eva- Maria / Knorr, Dagmar (Hrsg ): Textproduktion. Hypertext. Text, Kontext [Textproduktion und Medium; 4]. Peter Lang, Frankfurt/M. u.a.

Gerhard Vollmer – Wo bleiben die Argumente?

((1)) Daß von Glasersfeld seine Position auf neun Seiten nicht ausführlich darstellen, sondern nur skizzieren kann ((3)), leuchtet ein. Warum aber verwendet er dann den spärlichen Platz für Geschichtliches und für Zitate statt für Argumente oder für die Auseinandersetzung mit Kritik? Der Mangel an Argumenten ist die Hauptschwäche des radikalen Konstruktivismus. Und von Glasersfeld macht sich nicht einmal die Mühe, ihn angemessen darzustellen.

((2)) Viele Philosophen haben Argumente dafür geliefert, warum unser Wissen nicht sicher ist. Das wird von den Skeptikern, von kritischen Rationalisten und hypothetischen Realisten immer wieder betont. Auch das Einstein-Zitat in ((8)) betont nur die mangelnde Sicherheit des Mannes, der das Funktionieren einer Uhr erklären möchte, ohne sie öffnen zu dürfen. Und selbst diese Unsicherheit, diese Vorläufigkeit und Fehlbarkeit unseres Wissens, kann natürlich nicht bewiesen werden.

((3)) Von dieser Unsicherheit springt von Glasersfeld nun aber gleich zu der Behauptung ((21)), Wahrheit und Wissen seien uns versagt, ein (Fehl-)Schluss, den Einstein sich natürlich niemals erlaubt hätte. Dieser Schluß wäre nur dann zulässig, wenn Wahrheit und Wissen auf Sicherheit angewiesen wären. Tatsächlich wurde ‘Wissen’ oft als ‘wahre und fundierte Überzeugung’ (‘justified true belief’) aufgefaßt. Aber schon Platon kritisiert diese klassische Explikation im Theaitetos, ohne jedoch eine haltbare Alternative anzubieten. Sein Hauptargument ist die Schwierigkeit, die erhoffte oder geforderte Fundierung nun auch zu liefern, ohne in einen Zirkel oder in einen unendlichen Regreß zu geraten. Eine gründliche Diskussion dieses Problems findet sich in von Kutschera (1982, Kap. 1.3).

((4)) Letztlich bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder geben wir den Anspruch auf Wissen vollständig auf, oder wir geben uns mit einem Wissensbegriff zufrieden, der Fundierung, Rechtfertigung, Sicherheit weder fordert noch bietet. Haben wir den Sicherheitsanspruch aber erst einmal aufgegeben, dann können wir offenbar guten Gewissens behaupten, daß wir etwas wissen, daß wir Wahrheit erkennen, Außenwelt rekonstruieren können. Dann ist es sogar möglich, objektive Erkenntnis zu erlangen; denn auch Objektivität ist auf Sicherheit nicht angewiesen.

((5)) Richtig bleibt, daß unser Wissen, unsere Rekonstruktionen, unsere Weltbilder in unserem Kopf entstehen. Wollte der Konstruktivismus nur betonen, daß unsere Erkenntnis eine konstruktive Leistung unseres Gehirns ist, dann sind fast alle Philosophen, Psychologen, Neurobiologen Konstruktivisten: Empiristen wie Rationalisten, Kant, Einstein, Piaget, Popper. Die entscheidende Frage ist natürlich, ob diese unsere Konstruktionen Re-Konstruktionen sind, ob es zwischen unseren Konstruktionen und der Welt da draußen Strukturgleichheiten, Isomorphien gibt und ob wir darüber etwas sagen können.

((6)) Der radikale Konstruktivist wirft die Flinte ins Korn, erhebt keinerlei Wahrheitsansprüche mehr und ist auch noch stolz darauf. Rechthaberei vertiere ihren Sinn, wie schön. Trotzdem könne man noch "darüber diskutieren, ob eine Handlungsoder Denkweise voraussichtlich zu dem gemeinsam erwünschten Ziel führen wird oder nicht” ((60)). Aber wie soll das gehen? Stellen dabei nicht beide Vermutungen über die Zukunft an? Und wenn ihre Überzeugungen einander widersprechen, ist dann nicht die eine wahr, die andere falsch? Worüber sollen sie überhaupt diskutieren, wenn es selbst in der Frage, was zielführend ist, keine Wahrheit gibt? Und warum sollten sie sich über ihre Ziele einig sein? Wie sollten sie sich einigen, wenn es auch und gerade über die Angemessenheit von Zielen nur noch persönliche Meinungen gibt?

((7)) Der radikale Konstruktivist gibt den Realismus auf, weil er ihn nicht beweisen kann. Aber er geht davon aus, daß es andere Subjekte gibt, mit denen man kommunizieren kann. Das ist ebenfalls eine metaphysische Annahme, und eine durchaus anspruchsvolle. Wenn er schon radikal sein will, warum verzichtet er dann nicht gänzlich auf Metaphysik und wird Solipsist? Das wäre wenigstens konsequent. Wer aber nicht Solipsist sein will, der sollte wiederum konsequent sein und hypothetischer Realist werden! Der radikale Konstruktivist dagegen schwebt unentschlossen irgendwo zwischen Solipsismus und Realismus. Und weil dabei jede Festlegung willkürlich ist, sind sich die radikalen Konstruktivsten auch untereinander keineswegs einig. So gibt es gemäßigte Radikale wie Gerhard Roth und radikale Radikale wie Siegfried J. Schmidt.

((8)) Für den Realismus sprechen aber noch bessere Argumente als der Verzicht auf Willkür. (Vollmer 1998) Im allgemeinen heißt es, der Erfolg realistischer Theorien sei das beste Argument für den Realismus. (Putnam 1976,177) Es gibt aber ein weit besseres Argument: das Scheitern von Theorien. Wir betrachten eine Theorie als gescheitert, wenn etwas anders läuft, als wir aufgrund der Theorie erwarten. Ob eine Theorie Erfolg hat oder scheitert, können wir feststellen unabhängig davon, ob wir Realisten sind oder nicht. Fragen wir nun aber, woran unsere Theorien eigentlich scheitern, dann hat der Realist eine einfache Antwort: Sie scheitern, weil sie falsch sind, weil die Welt anders ist, als die Theorie unterstellt. Um anders sein zu können, muß die Welt nicht nur existieren; sie muß auch eine spezifische Struktur haben, die man (treffen oder) verfehlen kann.

((9)) Darüber hinaus erklärt der Realismus, warum es so viel mehr gescheiterte Theorien gibt als erfolgreiche: weil es nämlich viel mehr falsche als wahre Theorien gibt. Nach von Glasersfeld (1981,35) "kann ein assimilierendes Bewußtsein auch in einer völlig ordnungslosen, chaotischen Welt Regelmäßigkeiten und Ordnung konstruieren". Dann dürfte es aber mit keiner Konstruktion scheitern. Tatsächlich scheitern wir aber oft und viel öfter, als uns lieb ist. Warum wohl? Ordnungslos oder chaotisch ist die Welt offenbar nicht. Viel mehr ist sie reich strukturiert; sie hat viele, gar zu viele Ecken und Kanten, an denen wir uns stoßen.

((10)) Anti-Realisten, also Idealisten, Positivisten, Konven tionalisten, Pragmatisten, Konstruktivsten, insbesondere radikale Konstruktivsten, haben auf diese Fragen keine Antwort. Und soviel wir uns auch umsehen, außer dem Realisten hat überhaupt niemand eine Antwort. Wohl kann der Anti Realist das Scheitern anders beschreiben. Er kann sagen, innerhalb der Menge von anerkannten Beobachtungsaussagen seien Widersprüche aufgetreten oder das Gerät habe den Erwartungen nicht entsprochen. Diese Formulierungen erklären jedoch nichts; sie sagen nur, in welchem Sinne die Theorie gescheitert ist; sie erläutern den bereits anerkannten Sachverhalt des Scheiterns, letztlich erläutern sie sogar nur die Terminologie. Eine Antwort auf die eigentliche Frage, eine Erklärung für das Scheitern geben sie nicht Der Anti Realist wird, wenn er ehrlich ist, zugeben müssen, daß er das übereinstimmend festgestellte Scheitern im Gegensatz zum Realisten nicht erklären, sondern nur hinnehmen kann

((11)) Er könnte einwenden, daß auch die Prüfinstanzen konstruiert seien und daß somit unsere Theorien an Erfahrungen scheitern, die ihrerseits nur unsere eigenen Konstruktionen sind. Tatsächlich lehrt die moderne Wissenschaftstheorie, daß selbst unsere einfachsten Beobachtungen theorieabhängig sind. Aber erstens sind unsere Konstruktionen keineswegs willkürlich. Zweitens ist es möglich, Beobachtungen auszuwählen, die (zwar wie alle Beobachtungen von Theorien, aber) nicht von der zu prüfenden Theorie abhängen. Geht es darum, zwischen zwei konkurrierenden Theorien zu entscheiden, so dürfen die prüfenden Beobachtungen sogar von den zu testenden Theorien abhängen; erforderlich ist dann nur, daß ihre Bedeutung und ihre Wahrheitsbedingungen nicht in unterschiedlicher Weise von den konkurrierenden Theorien abhingen. (Andersson 1988) So gibt es echte Prüfungen und echtes Scheitern durchaus, aber eben auch echte Bewährung.

((12)) Der Realismus erklärt aber noch mehr. In der Entwicklung der Wissenschaft finden wir ein Phänomen, das wir Konvergenz der Forschung nennen können. Es geht dabei um mehrere Arten von Konvergenz: um Konvergenz der Meßwerte, Konvergenz der Meßmethoden, Konvergenz der Theorien. Wichtig ist wieder, daß wir diese Konvergenzen feststellen können, ohne Realisten sein zu müssen. Nun aber fragen wir für dieses Phänomen nach einer Erklärung: Wie kommt es, daß Meßwerte, Meßmethoden, Theorien konvergieren? Wieder bleibt der Anti-Realist jede Antwort schuldig, während der Realist eine einfache Antwort bereit hat: Die Forschung konvergiert, weil es reale Strukturen gibt, die wir entdecken können und tatsächlich allmählich entdecken. Diese Erklärung scheint, wenn wir nicht Transzendentalphilosophen werden wollen, sogar weit und breit die einzige zu sein, die überhaupt angeboten wird.

((13)) Nun gut, sagt der radikale Konstruktivist, Realität mag es ja geben; leider aber können wir sie nicht erkennen; deshalb sollten wir auch nicht davon reden. Konstruktivsten lieben das Gleichnis vom Kapitän, der bei Nebel eine Meerenge durchfährt und auf die Frage, wie die Küstenlinie verlaufe, nur antworten könne, wo sie nicht sei. Aber das ist ja immerhin etwas. Zu wissen, wie es nicht ist, ist bereits ein Stück Wissen. Und was hindert den Kapitän, so lange in der Meerenge zu kreuzen, bis er auch den Küstenverlauf hinreichend genau kennt? Auch Wissenschaftler erkunden so lange, wie es nicht ist, bis sie hinreichend genau wissen, wie es ist. Wer wird, wenn zwei Menschen sich streiten, daran zweifeln, daß hier zwei Systeme vorhanden sind? Man kann zeigen, warum die Welt, die wir kennen, nicht einoder zweidimensional, aber auch nicht vieroder höherdimensional sein kann. Dann liegt die Vermutung nahe, sie sei dreidimensional. Diese Deutung bewährt sich; alle anderen scheitern. Warum wohl?

((14)) Nach von Glasersfeld ((27), (28)) kommt es nicht auf Wahrheit an, sondern nur auf “Viabilität”. Offenbar ist auch der hypothetische Realismus recht “viabel”: Schließlich leistet er alles, was der radikale Konstruktivismus leistet, und noch viel mehr. Was spricht überhaupt gegen ihn? Nach seinem eigenen Kriterium dürfte offenbar auch von Glasersfeld hypothetischer Realist werden.

Literatur

Andersson, G. (1988). Kritik und Wissenschaftsgeschichte. Tübingen: Mohr.
Glasersfeld. E.V. (1981). Einführung in den radikalen Konstruktivismus, ln: Paul Watzlawick (Hg.) Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper, 16-38.
Kutschera, F.v. (1982). Grundfragen der Erkenntnistheorie. Berlin: de Gruyter.
Putnam. H. (1976). What is “realism”? Proceedings of die Aristotelian Society 76: 177-194.
Vollmer, G. (1998). Woran scheitern Theorien? Zum Gewicht von Erfolgsargumenten. ln: P. Weingartner u.a. (eds.). The role of pragmatics in Contemporary philosophy. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 281-299.

Jutta Weber – Angepaßte Monologe? Über die Konsequenzen radikaler De-Ontologisierung und konventioneller Performanz

((0)) ….. und die Geschichten in der Wissenschaft sind nicht gleich gut.... Ich meine vielmehr, daß das Bemühen, gute Geschichten zu konstruieren, ein wesentlicher Teil des Handwerks selbst ist.“ (Haraway 1995,139)
((1)) Der Nutzen und Nachteil der Epistemologie des Radikalen Konstruktivismus ist in den letzten Jahren ausführlich diskutiert worden. Da ich in dem vorliegenden Artikel von v. Glasersfeld keine grundlegenden Revisionen des »epistemologischen Untergrunds« dieser Theorie erkennen kann, werde ich meine Kritik auf drei zentrale Punkte beschränken.

((2)) Wichtig erscheint mir eine (nochmalige) Auseinandersetzung mit dem Postulat der De-Ontologisierung sowie mit dem folgenreichen methodischen Individualismus dieser Wissenstheorie. Abschließend möchte ich auf ihre performativen und rhetorischen Strategien eingehen, welche mir auf weiten Strecken dem eigenen relationistischen Geltungsanspruch zuwidersprechen scheinen.

Entmaterialisierung als kopernikanische Wende

((3)) Von Glasersfeld leitet sein Essay mit der Frage nach der Erkennbarkeit von Welt bzw. von Realität - verstanden als den ontologischen Bereich - ein und versucht eine agnostische Haltung zu formulieren: „Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, daß wir sie nicht rational erfassen können.“ ((58)) bzw. „»Realität« hingegen ist... eine Fiktion ... [Es] gibt... für uns keine Möglichkeit herauszufinden, ob unsere Vorstellungen »Dinge« repräsentieren, die in einer realen Welt »existieren«, geschweige denn, ob sie diese »wahrheitsgetreu« wiedergeben.“(von Glasersfeld 1997,47)

((4)) Nun ist gerade die Behauptung einer vom Erkenntnissubjekt unabhängigen, aber a priori unerkennbaren Welt sowohl eine höchst metaphysische als auch ontologische Aussage (Lenk 1995, Rödig 1994, Weber 1996). Mit der Behauptung des Hiatus zwischen Erkenntnissubjekt und Objekt – der nicht einmal durch ein Als-Ob gemildert wird - versucht v. Glasersfeld einen zentralen Dualismus theoretischen Denkens stillzustellen und durch einen subjektzentrierten Monismus zu ersetzen: „Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder »Repräsentation« einer vom Erlebenden unabhängigen, bereits rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts.“ ((1))

((5)) Zur Akzentuierung und Legitimierung des eigenen Ansatzes wird auf nicht weiter spezifizierte naiv-realistischeTheorien verwiesen, die sich höchstens in vulgären und altbackenen Varianten des Marxismus, Behaviourismus oderFunktionalismus finden. Aktuelle Theorieansätze betonen bei der Frage nach der Produktion von Wissen eher den Stellenwert diskursiver Praktiken (Foucault), der Effekte symbolischer Ordnung (Derrida), der Situiertheit des Wissens (Haraway) oder der epistemischen Gemeinschaften (Longino). Diemeisten erkenntnis- bzw. wissenstheoretischen Ansätze des20. Jahrhundert zeichnen sich gerade durch einen hohen Gradan Reflexivität bezüglich der Frage der Repräsentation bzw. Referenz aus. Die »Überwindung« des simplen Korrespondenzmodells durch v. Glasersfeld kann nur deshalb als eine zweite kopernikanische Wende (sic!) zelebriert werden, weil zuvor pauschal fast die komplette Philosophiegeschichte des naiven Realismus verdächtigt wurde.

((6)) Doch gerade vielen zeitgenössischen kritischen Theorien ist das Motiv der Denaturalisierung (vgl. Jardine 1985) zentral, an das die von v. Glasersfeld geforderte De-Ontologisierung erinnert. Das Verfahren der Denaturalisierung kritisiert den reifizierenden und naturalisierten Gebrauch von Kategorien und betont ihre soziale wie kulturelle Konstruktion und ihre sprachliche Verfaßtheit - im Versuch, keine ontischen Aussagen zu machen. Von Glasersfelds epistemologische Konzeption überschreitet dieses Programm der De-naturalisierung, insofern er trotz des Anspruchs auf De-Ontologisierung sich nicht der Aussagen über die Verfaßtheit der Welt enthält, indem er u.a. ihre Unerkennbarkeit postuliert. Das legt die Schlußfolgerung nahe, daß die Welt nicht rational strukturiert ist - anderenfalls wäre sie für uns erkennbar. Die ontologische Aussage der Irrelevanz von Welt, Natur oder Realität und der alleinigen Produktion von Wirklichkeit durch die jeweilig subjektiven Konstruktionen und Konstrukte mündet in die theoretische Figur der Entmaterialisierung, die sich in vielen zeitgenössischen Theorien als »Lösungsvorschtag« für das Referenzproblem erdet (Weber 1998):

((7)) Leider wird damit keine dritte Stellung des Gedankens bzw. des Subjekts zur Gegenständlichkeit exemplifiziert, sondern jener Pol der klassischen epistemologischen Diade eliminiert, der in Spielarten des Idealismus schon immer als das Mindere, Vemachlässigbare und Lästige galt: die Seite des Objekts, des Materialen, des Nicht-Ichs (Adorno 1982).

((8)) Doch auch der Radikale Konstruktivismus kommt nicht ganz ohne Bezug auf »Realität«, auf Objektivität aus, kann diese allerdings nicht als historisch gewordene und kontingente fassen. Über das naturalistische (und universale) Argument der kognitiven Anpassung an die Tatsachen ((24)) und der „natürlichen Auslese“ des Nichtangepaßten ((26)) wird Performanz diese durch die Hintertür wieder eingeführt. Da aber Anpassung an die »Tatsachen« kein aktiver Prozeß ist ((26)) und ergo auch nicht »erfahrbar« ist, bleibt es ein Rätsel, wie wir von dieser Anpassung wissen können.

((9)) Konsequente Schlußfolgerung dieser naturalistischen These von der kognitiven Anpassung wäre zudem, daß unser heutiges Wissen Produkt eines intemalistisch vermittelten und zugleich evolutionären Fortschritts ist - der zunehmenden Anpassung der kognitiven Prozesse an die Anforderungen unserer Lebenswelt: Wie beruhigend, daß wir in der bestmöglichen der von uns konstruierbaren Welten leben.

Angestrengte Äquilibration fungibler Subjekte

((10)) Um genauer zu sein: Ein jeder von uns lebt in der bestmöglichen, von ihm konstruierbaren Welt. Durch die Konzentration auf individuelle kognitive Prozesse gerät v. Glasersfeld in den Verdacht des Solipsismus, denn nicht nur der lästige Bezug auf die nicht-menschliche, gegenständliche Welt, sondern auch die nicht zu vermeidende intersubjektive Verständigung scheint nicht mehr zu sein als monologische Projektion: „In meiner Erfahrungswelt komme ich nicht zurecht, wenn ich unter meinen Konstrukten nicht auch Wesen konstruiere, die ähnlich wie ich wahrnehmen... Will ich nun das Verhalten dieser »Anderen« vorhersagen - was im Hinblick auf mein Äquilibrium... schlechthin notwendig ist, dann muß ich mir die Gedankengänge ausmalen, die ihr Verhalten bestimmen." (von Glasersfeld 1997,59)

((11)) Der methodische Individualismus von v. Glasersfeld, in dessen Epistemologie das autonome Subjekt des Liberalismus Wiederauferstehung feiert, resultiert in seiner gleichzeitigen Hypostasierung wie Nivellierung: Auf der einen Seite sind die Subjekte als Erzeuger ihrer Konstruktion namens Wirklichkeit omnipotent und „letzten Endes für alles verantwortlich, was man in der physischen wie in der begrifflichen Welt konstruiert (von Glasersfeld 1997, 59). Auf deranderen Seite erscheint dieser Zeugungsakt als ängstliches Bemühen und harmonistisches Bestreben, jegliche Widersprüche und Konflikte zwischen der eigenen kleinen subjektiven Welt und den überraschenden oder auch widrigen Erfahrungen mit den »Tatsachen«, dem Nicht-Ich zu glätten.

((12)) Anschaulich scheint mir allerdings diese Kognitionstheorie die Aporien und Widersprüchlichkeiten subjektiver Erfahrung in einer Welt zunehmender Beschleunigung und Komplexität im Zeitalter der Technoscience [29] zu beschreiben. Das angestrengte Bemühen um Äquilibration wird notwendig in einer Welt, in der traditionelle von individueller Erfahrung und Identität in Widerspruch geraten mit den gesellschaftlichen Anforderungen bzgl. der Flexibilität und Fungibilität der Subjekte. Diese Anforderungen machen genau jene Konstruktions- und Projektionsfähigkeiten erforderlich, die im Radikalen Konstruktivismusals Wesen allgemein menschlicher Kognitionsprozesse erklärt werden.

Rhetorischer Realismus? Über Selbstreflexivität und Performanz

((13)) Von Glasersfeld Theorie betont explizit die eigene relationistische Positionierung: „Der Konstruktivismus darf nicht als Beschreibung einer realen Welt betrachtet werden. Er macht keinerlei ontologische Behauptungen, sondern schlägt lediglich ein Denkmodell vor...“ ((64)). Aber das zuvor in seinem Essay vorexerzierte konventionelle Repertoire rhetorischer und performativer Strategien spricht eine ganzandere Sprache: Es werden unter der Hand Aussagen mit uni-versalen Geltungsanspruch formuliert und mit autoritativer Stimme vorgetragen. Eine relationistische Position verwickelt sich aber in heftige Selbstwidersprüche, wenn sie in klassischer Manier auf ihrer wissenschaftlichen Autorität besteht und nicht vermittels Selbstreflexivität den eigenen situierten und spezifischen Ort deutlich macht.

((14)) Hinterrücks wird der Anspruch auf einen archimedischen Punkt des Beobachters bzw. des „god's view“ (Haraway1997) reproduziert Das trockene Versichern am Ende, daß die eigene Theorie auch nur ein Modell unter vielen wäre, kann das wohl nicht wettmachen: „Eine reflexive Haltungimpliziert durchaus, die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf die Konstruiertheit der eigenen Erkenntnisse zu richten ..." (Taschwer 1993, 85)

((15)) Einen Essay in autoritativem oder gar apodiktischem Ton zu verfassen - ich denke dabei an Formulierungen wie „Es gibt... keine Möglichkeit herauszufinden,..." (von Glasersfeld 1997, 47) oder „Will ich nun ... vorhersagen, was ... schlechthin notwendig (!) ist, dann muß ich..." (von Glasersfeld 1997,59) - soll die Evidenz der eigenen Schlußfolgerungen, ihre Stringenz und zwingende Logik suggerieren.

((16)) Auch die Errichtung Potemkinscher Dörfer durch die vehemente Abgrenzung von anderen möglichst reduktionistischen und naiven Theorien und das Verschweigen differenzierter Debatten gehört zu diesem Repertoire. Dieses Vorgehen läßt die eigene Theorie in umso vorteilhafteren Licht erscheinen und ermöglicht es dem Autor, als großer Überwinder jahrhundertealter Irrtümer aufzutreten: „In der... Erkenntnistheorie der abendländischen Welt ging es dabei immer um... Der radikale Konstruktivismus bricht mit dieser Auffassung..." ((1)). Wer würde nicht gerne das Rad noch einmal erfinden?

Literatur

Adorno. Theodor W. (1982): Negative Dialektik. Frankfurt a.M. (l.Aufl, 1966)
Foucault, Michel (1972): Die Ordnung des Diskurses. München
Haraway, Donna (1995): Primatologie ist Politik mit anderen Mitteln. In: B. Orland / E. Scheich (Hg.): Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträ-ge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften. Frankfurt a.M., S.136-I98
Haraway, Donna J, (1997): Modest_Witness@Second_Millenium. Female Man‘_Meets_OncoMouseTM. Feminism and Technoscience. New York / London
Jardine, Alice (1985): Gynesis. Configurations of Woman and Modernity. lthaca/ London
Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer sym-metrischen Anthropologie. Berlin
Lenk, Hans (1995): Interpretation und Realität. Vorlesungen Uber Realis-mus in der Philosophie der Interpretationskonstruldc. Frankfurt a.M.
Longino, Helen E. (1990): Science as Social Knowledge - Values andObjectivity in Scientific Inquiry. Princeton
Rödig, Andrea (1994): Ding an sich und Erscheinung. Einige Bemerkun-gen zur theoretischen Dekonstruktionen von Geschlecht. In: Feministische Studien 2/1994, S.91-99
Taschwer, Klaus (1993): Erkenntnisse über die (sozialen) Konstruktionen von Erkenntnissen. Beobachtungen der neueren Wissenschaftsforschung. Unveröffentl. Diplomarbeit, Wien
Glasersfeld, Emst von (1997): Wege des Wissens. Konstruktivistische Erkundungen durch unser Denken. Heidelberg
Weber, Jutta (1998): Feminismus & Konstruktivismus Oder Die Verlockungen unendlicher Rekombination. Zur Netzwerktheorie bei Donna Haraway.Das Argument (im Erscheinen)
Weber, Stefan (1996): Die Dualisierung des Erkennens. Zu Konstruktivismus, Neurophilosophie und Medientheorie. Wien

Replik: Jahrmarkt der Gegensätze (Ernst von Glasersfeld)

((1)) Daß 37 gewiegte Denker es der Mühe wert fanden, auf meinen Artikel zu reagieren, ist für mich außerordentlich erfreulich und ich bin allen, den zustimmenden wie den ablehnenden, aufrichtig für ihr Interesse und den offensichtlichen Zeitaufwand dankbar. Daß gegensätzliche Urteile übeT den radikalen Konstruktivismus (RK) gefällt wurden, ist anregend aber nicht verwunderlich.

Es gibt in den Wissenschaften kaum eine Frage, Uber die kompetente Forscher nicht verschiedener Meinung gewesen wären. Wenn nun zwei solcher Leute zu entgegengesetzten Urteilen über ein und dieselbe Sache kommen, muß mindestens einer von ihnen unrecht haben; keiner von ihnen jedoch scheint über das nötige Wissen zu verfugen. Denn wenn des einen Denken sicher und evident wäre, dann wäre er in der Lage, im anderen von der Wahrheit zu überzeugen.(Descartes, ca. 1629)

((2)) Jede Wissenstheorie versucht, eine Reihe grundlegender Fragen zu beantworten, und so waren in diesem Meinungsaustausch einander widersprechende Urteile vorauszusehen. Hier zunächst eine kurze Gegenüberstellung einiger Gegensätze:

Allerdings bleibt der Gegner eher im Schatten, weil unklar bleibt, wer mit „der herkömmlichen Erkenntnistheorie“ gemeint ist und nicht benannt wird, wer denn heute noch eine solch naive Vorstellung ernsthaft vertritt. (Faulstich (4))

Für den konstruktivistischen Aspekt im Erkennen lassen sich gute Gründe an führen - eine radikalkonstmktivistische erkenntnis- und, wissenschaftstheoretische Werke läßt sich damit aber nicht legitimieren.(Meinefeld (9))

Man wäre sicherlich erstaunt, wie hoch etwa unter Physikern der Prozentsatz jener ist die immer noch am Phantasma der „einen Wahrheit" fcsthalten.(Grössing (2))

Eine konstruktivistische Wissenstheorie kann wesentlich dazu beitragen, die sich ebenfalls rapid wandelnden Einsichten über Wissen, Wissenschaft und Wissensgesellschaft beträchtlich voranzutreiben. (M.Roth (2))

So bleibt vG's Konstruktivismus im Rahmen klassischer ontologischer Fragestellungen und löst sich weit weniger von der Tradition, als der IbnniiMS ‘radikal* suggeriert. (Laus (3))

Die radikal-konstruktivistische Wissesstheorie kann weder für die Wissenschaft noch für den Alltag ein brauchbares Modell sein. (Kurt (8))

Anlaß zu Diskussionen konnte auch der Tenor seiner Piaget-Intetpietation liefern, wo man die Meinung vertreten kann, daß eine weniger'radikale' Fassung... der Piagetschen Epistemologie eher gerecht wird. (Seiler (1))

Der RK von EvG ist eine der revolutionärsten und erfrischendsten Wissenstheorien, denen ich je begegnet bin. (Gooihuis (1))

Die strukturalistische Auffassung von Theorien und ihrer Funktion im Fbrschungsprozeß scheint uns durchgängiggut verträglich mit vG's Position zi sein. (Hetse/Geijcts (6))

vG's „radical“ theory of knowledge certainly points in the right direction, but seems to me to lack the full radicalness that I detect, explidtly oriropliritly, in Piaget's woik. (Furth (17))

- wenn es so etwas geben sollte -, so bleibt doch das Verhältnis der v. Glasersfeldschen „Wissenstheorie" und ihren möglichen „Anwendungen“ in lebensweltlichen Kontexten ganz unklar. (Hoffmann (4))

So stellt meiner Meinung nach (RK) nur einen Idealtypus des Lernens vor, der sich auch unbestritten vielfach bcwShrt und wichtige For- sehungsansdtze u. -etgebnisse geliefert lut(PöWng (4))

((3)) Dieses Konzert von gegensätzlichen Urteilen bestärkt mich einerseits in meinem Glauben an Pluralismus, andererseits in der von mir früh gemachten Beobachtung, daß das Verstehen von Sprache schon auf der Ebene der Wortbedeutungen eine durchaus subjektive Angelegenheit ist. Niemand kann weit aus seiner oder ihrer grundlegenden intellektuellen Einstellung heraus und interpretiert und beurteilt Gelesenes auf Grund der eigenen mühsam erarbeiteten Wirklichkeit Wo es sieb um Wörter handelt, die man mit Grundbegriffen des eigenen Weltbildes verbunden hat, ist es schwer, einzusehen, daß andere die gleichen Wörter mit Begriffen verbinden, die sich nicht unbedingt mit den eigenen vereinbaren lassen. Trotz ausdrücklichen Definitionen und kontextuellen Implikationen legt man sie in der gewohnten Weise aus und registriert die nun unvermeidlichen Widersprüche als Unstimmigkeiten des Texte. Das gilt für mich und meine Replik nicht minder als für die Kritiker.

((4)) Ich will jedoch nicht sagen, daß die meisten der in den Kritiken angeführten Mängel des Radikalen Konstruktivismus (RK) von dieser Art der Assimilation herriihren. Einige weisen auf Lücken hin, die in einem relativ kurzen Aufsatz unvermeidlich waren; andere auf das Fehlen von Ausführungen, die ich hätte geben sollen. Für das freundliche Zugeständnis, daß man in einem Artikel nicht alles darlegen kann, was die vollständige Präsentation einer Denkweise verlangen würde, bin ich dankbar. Über die Auswahl der Punkte, die ich vorbrachte, kann man selbstverständlich verschiedener Meinung sein. Einiges möchte ich nun in dieser Replik soweit ich kann nachholen. Gleichzeitig will ich versuchen, Mißdeutungen aus dem Weg zu räumen, die ein aufmerksames, nicht durch vorgefaßte Ablehnung gefärbtes Lesen des Hauptartikels vielleicht hätte vermeiden können.

((5)) Auf alle in den Kritiken aufgeworfenen Punkte einzugehen, war innerhalb der strikten Zeit- und Raumbegrenzung offensichtlich nicht möglich, und darum wollte ich zunächst meine Antwort thematisch gliedern. Bald wurde mir aber klar, daß die Kritiken duTchwegs vielseitig waren und ich in jedem Thema von einem zum anderen Kritiker hätte springen müssen. Damm habe ich mich schließlich entschieden, die Kritiken alphabetisch vorzunehmen und hier und dort auf bereits beantwortete Fragen zu verweisen. Ich hoffe, der Leser wird die folgenden Seiten dennoch einigermaßen lesbar finden.

((6)) Hinweise auf numerierte Absätze in den Kritiken habe ich durch Doppelklammem oder durch Namen und Paragra- phennummer in einfachen Klammem gekennzeichnet; Hinweise auf den Hauptartikel, durch „EvG“; und Hinweise auf andere Stellen in der Replik, durch .Antwort auf, abgekürzt ,A.a." und den jeweiligen Namen.

((7)) BETTONI: Geschätzter Freund, so ich des Ikarus' Flügel hätte, wäre ich bereite bei Dir, um Dir den Dienst zu danken, den Du mir mit Deinen Erklärungen im Gespräch mit Rolf und Robert, den wackeren Peripatetikem, erwiesen hast. Da Du in Deiner Heimatstadt wohl des öfteren mit ihren berühmten Spießbürgern zu unterhandeln hast, verstehst Du es besser als ich, verzweigte, holperige Gedanken wege in glatte Pfade zu verwandeln. Daß selbst Dir bei meinem Geschreibsel fragen auftauchen, wird keinen wundem, der je versucht hat, aus meiner oft unbeholfenen Ausdmcksweise klaren Sinn zu schaffen.

((8)) Deine Frage ((12)), wie weit Begriffskonstruktion analysiert werden müßte, um ihre Mechanisierung in Artefakten zu gewährleisten, will ich zu beantworten versuchen. Wenig Hoffnung, jedoch dünkt mich, wird meine Antwort eröffnen. (Beim Zeus, ich wiird’ es lieber mündlich tun, im Schatten der Platanen am Ufer des Ilissos! Doch der Flug von jenseits Atlantis, wo ich derzeit mein Leben friste, ist unerschwinglich. Drum muß ich mich notgedrungen mühsamer Schrift bedienen, obgleich mir einige der Kritiken offenbart haben, wie verfänglich Geschriebenes ist, da alles Lebendige mit der Tinte vertrocknet.)

((9)) Doch wohlan - auch Troja wurde nicht in einem Tag besiegt! Wie unser nun in der Geisterwelt weilende Freund Silvio es sah, ist auch für mich das eigentlich schöpferische Prinzip in der Begriffsbildung das, was wir gemeinhin Aufmerksamkeit nennen - doch nicht, wie sie zumeist vorgestellt wird, als Scheinwerfer, der eine Landschaft beleuchtet, sondern als pulsierender Strahl, der einzelne Elemente im formlosen Meer der Erfahrungsmöglichkeiten aufieuchten läßt und durch die eigene Bewegung verbindet. Trefflich hat der Königsberger Weise dieses Meer „das Mannigfaltige“ genannt, eben weil die Aufmerksamkeit in jedem Augenblick auch andere Elemente aufieuchten lassen könnte. Das Geheimnis, teurer Freund, liegt in der Wahl und der Verwirklichung der ausgewählten Elemente. Die Nelken, die ein wohlerzogener Gast jüngst meiner Gefährtin schickte, sehen wir rot - doch was sollte Rot sein, bevor wir schauen? Die elektrochemischen Impulse, von denen die Erforscher unserer Gehirne sprechen, sind gewiß nicht rot, noch sind es die Photonen oder die unsichtbaren Wellen, die Physiker je nach den Umständen zur Erklärung der Lichtphänomene heranziehen, Farben und Töne, so meine ich wie viele vor mir, entstehen in uns; und die Bewegung unserer Aufmerksamkeit schafft Umrisse, Formen und Beziehungen.

((10)) Homer hätte gesagt, es seien Athena, Aphrodite und Ares, die jeweils unsere Aufmerksamkeit leiten, doch diese Vertreter göttlicher Vorsehung lassen sich auch heute kaum mechanisieren. Mir liegt seit jeher daran, die Götter aus dem Spiel zu lassen und alles Ontische als unergründlich zu betrachten. Drum nenne ich die Instanz, welche die Ergebnisse der Aufmerksamkeit zu unserer Wirklichkeit macht, Bewußtsein. Freilich ist mir klar, daß das nicht minder geheimnisvoll ist, als die Absichten der Unsterblichen, doch es klingt mir neutraler. Die Wissenschaft, dünkt mir, versucht allenthalben Mysterien auf Verständliches zuriickzuführen, doch ganz ohne Mysterium kommt sie nirgends aus. Ich sehe nicht, warum es mit unserem Wissen anders sein sollte. Doch der Versuch, das Geheimnisvolle auf ein Minimum zu reduzieren, scheint mir in allen Sparten der Mühe wert. Darum sehe ich, geschätzter Marco, den Versuchen, die Du und Deine Freunde unternehmen, das Wissen in Artefakten zu mechanisieren, mit Wohlwollen und Erwartung entgegen.

((11)) BIRBAUMER antworte ich zunächst, daß der Schritt vom Empirismus zum Konstruktivismus für mich keine „Wendung“ ((1)) war, da ich seit der frühen Lektüre von Locke, Berkeley und Hume, die ja als Gründer der empiristischen Denkweise gelten, an deren ursprünglichen Auffassung festhielt, daß die Welt der Erfahrung zu untersuchen sei, nicht die metaphysische „Realität“. Und was das Rechthaberische betrifft, so erwähnte ich es im Zusammenhang mit dem „täglichen Leben“ (EvG 60). Wissenschaftler werden und sollen auch weiterhin darüber streiten, wessen Theorie mehr Viabi- lität aufweist; doch das ist ein Streit, der durch Versuche beigelegt werden kann. Im täglichen Leben hingegen geht der Streit meistens um vorgefaßte Meinungen, die als objektive Beschreibung der Realität hingestellt werden.

((12)) „Natürlich ist richtig, daß unser Gehirn die Wett nach seinen Arbeitsprinzipien repräsentiert und somit diese Arbeitsprinzipien und nicht die objektive Welt die Grundlage unserer Erkenntnis sind“, schreibt BIRBAUMER (2). Doch dann mahnt er, wir sollten „die nachprüfbare Realität des Gehirns und seiner Dynamik nicht aus den Augen verlieren“ ((4)). Wessen Augen sind da gemeint? Hat das Gehirn eigene Augen, aus denen es verlieren kann, was es nach seinen Arbeitsprinzipien „repräsentiert“? Ich würde sagen, daß nur ein Beobachter etwas als Repräsentation von etwas anderem bezeichnen kann - und nur sinnvoll, wenn er das Repräsentierte mit dem vergleichen kann, was es repräsentieren soll. Deswegen glaube ich, daß wir weder die Realität des Gehirns noch die reale Welt repräsentieren können. Hingegen können und sollen wir die Behauptungen, die wir machen, so oft wie möglich in der von uns konstruierten Welt unserer Erfahrung nachprüfen, denn dort ist die Viabilität unserer Begriffe sowie unserer Vorstellungen von der Dynamik der Dinge lebenswichtig.

((13)) Eine kleine Korrektur kann ich mir nicht verbeißen. Was Pavlov, Thomdike, Hebb und Powers betrifft, so tut BIRBAUMER ihnen schlimmes Unrecht, wenn er sie mit Skinner in einen Behavioristentopf wirft ((3)). Obschon die vier, wie übrigens auch Lashley, Köhler und Wertheimer, Verhalten studierten, hätte keiner von ihnen die Behauptung unterschrieben, daß „Menschliches Verhalten die Funktion von Faktoren ist, die in der Umwelt liegen“ (Skinner, 1977, S.l), oder daß „die Funktionen von Persönlichkeit, mentalen Zuständen, Gefühlen, Charakterzügen, Plänen, Zwecken und Absichten durch operant conditioning übernommen werden sollen“ (Skinner, 1971, S. 13,16). Powers wurde heftig von Behavio- risten und sogar von Skinner selbst angegriffen (Science, 21.Sept.,1973, und 29.Nov.,1974). Da BIRBAUMER dann Hebb zitiert, möchte ich einen Ausspruch dieses Autors wiedergeben, der es zumindest fraglich macht, ob man ihn mit dem Behaviorismus h la Skinner gleichsetzen darf. Hebb schrieb: „Auf einer bestimmten Ebene der physiologischen Analyse gibt es keine Realität außer dem Feuern einzelner Neuronen“ (Hebb, 1958, S.461).

((14)) DRIESCHNER findet es „sehr plausibel,... daß wir uns die Wirklichkeit um uns herum selbst konstruieren, und zwar nach unseren Bedürfnissen für das Überleben - im weitesten Sinn" ((2)). Die so konstruierte Wirklichkeit sei die einzige, „es gibt keine ‘andere’ hinter ihr“ ((1)). „Die so von mir konstruierte Realität ist aber - G. scheint das zu bezweifeln - die Realität Es ist nicht zu sehen, was eine andere, meinetwegen ‘ontologische’ Realität, wie G. sie einführt, daneben noch soll“ ((3)).

((15)) Mit Recht setzt DRIESCHNER diese Realität gleich mit Kants „Ding an sich“ und sagt dann, Kant habe die Welt der Erscheinung so überzeugend beschrieben, „daß man ihm schließlich gar nicht mehr recht abnimmt, daß dahinter ein unerkennbares Ding an sich sein muß - etwas, worüber man ohnehin nichts sagen kann“ ((3)).

((16)) Auch Kant hat die Unterscheidung der Wörter „Realität“ und „Wirklichkeit“ nicht konsequent durchgeführt und sich dadurch das Problem mit dem „Ding an sich“ geschaffen. So schreibt er zum Beispiel im Streit der Facultäten (1798) „Die Dinge also, worauf sich diese Vorstellungen und Begriffe beziehen, können nicht das sein, was unser Verstand vorstellt; denn der Verstand kann nur Vorstellungen und seine Gegenstände, nicht aber wirkliche Dinge schaffen" (S.71). Statt „wirkliche Dinge“ hätte er hier „reale Dinge“ schreiben sollen, denn in der Kritik der reinen Vernunft (1787) hatte er das „Ding an sich“ bereits als „heuristische Fiktion“ bezeichnet (S.799). Die fiktiven Vorstellungen jedoch stammen unter allen Umständen aus der Wirklichkeit unseres Denkens. Ihr heuristischer Wen liegt in der Praxis der Verständigung, denn sie erlauben uns, Dinge als gegeben anzunehmen; wobei es jedoch wichtig ist, sich klarzumachen, daß die Dinge, die wir in unseren Interaktionen mit anderen Menschen als gegeben annehmen, in der Vorstellung der Beteiligten nur in den jeweils relevanten Aspekten vereinbar, aber keineswegs in allen Beziehungen gleich sein müssen.

((17)) ECKES’ Einleitungsparagraphen von ((1-3)) erwek- ken in mir den Eindruck, er lebe in einer Gegend, in der es längst keine naiven Realisten mehr gibt. Er ist nicht der einzige in diesem Schlaraffenland (siehe FAULSTICH (4), WEBER (5), HOFFMANN (2), sowie A.a. LEIBER). Offenbar haben diese glücklichen Autoren nichts mit der Sorte von Lehrern, Ärzten und Universitätsprofessoren zu tun, die meine Umwelt bevölkert

((18)) ECKES bezeichnet die Auffassung eines vom Subjekt unabhängigen Wissens als „eine obsolete bzw. aus heutiger Sicht indiskutable erkenntnistheoretische Position“ ((2)), die von Psychologen wie Bruner, Postman, Festinger und anderen längst überwunden worden ist. Dennoch spricht er von Dingen, die objektiv sein sollen, z.B. „natürliche Zeichen systemextemer Zustände" ((6)), und beteuert später, „die Welt ... ist erkennbar, wenn auch nur partiell..." ((11)). Die Kogni- tionswissenschaft, auf Grund der „Kovarianztheorie" ((6)), und die „konnektionis tischen Modellierungen“ ((13)) hätten das längst erwiesen. Das scheint mir zuviel gesagt. Seine Schluß- bemerkung jedoch hat mich beschämt: Er zitiert George Kelly - und das ist zweifellos ein naher Verwandter, den ich hätte erwähnen sollen.

((19)) FAULSTICH konstatiert, „daß die Übersetzung alter Fragen in neue Begriffe veränderte Sichtweisen und auch Einsichten ermöglicht“ ((2)). Er zählt die vier Gebiete auf, die ich in meinem Artikel als Quellen meines konstruktivistischen Denkens angab, und fragt dann, „ob hinter diesem Eklektizismus tatsächlich eine Theoriekonvergenz konstruiert werden kann“ ((3)). Daß es darum ginge, eine Konvergenz der Theorien des Skeptizismus, der Evolutionslehre, Piagets Kognitionsmodells und der Kybernetik zu konstruieren, ist mir nie in den Sinn gekommen und erscheint mir nun, da es erwähnt wurde, recht sinnlos. Das hindert mich aber nicht, auch weiterhin Begriffe, wie Faulstich sagt, aus diesen Sparten in mein Vorhaben zu übersetzen und dadurch manche neue Einsicht zu gewinnen. Daß ich z.B. das Verhältnis von „natürlicher Auslese“ und „Anpassung“ oder das Schema der Feedback- Mechanismen verwende, heißt doch nicht, daß ich auch das gesamte begriffliche Mobiliar der jeweiligen Theorie in meine Denkweise einbauen muß.

((20)) FAULSTICH arbeitet laut Autorenangabe auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung, und da müßte m.E. auch er hier und dort die Beobachtung machen können, daß der naive Realismus, obschon er von einigen Vorsokratikem aufgegeben wurde ((4)), darum noch lange nicht ausgestorben ist (A.a. ECKES).

((21)) Da der RK ein Versuch ist, den Aufbau von Wissen ohne Bezug auf das Sein zu modellieren (was im Hauptartikel mehrmals deutlich gesagt, aber von Lesern ignoriert wurde) scheinen mir Hinweise auf Hegel und „die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Geist“ fehl am Platz ((5)) (siehe auch A.a. LÜTTERFELDS).

((22)) Daß es FAULSTICH „nicht nachvollziehbar“ ist, wie „unerwartete Resultate“ Anstoß zum Lernen geben können ((7)), macht mich staunen - offenbar hat er sich nie gefragt, wie er das Gehen, Schlittschuhlaufen oder Rechnen (ganz zu schweigen von seinem erlesenen Deutsch) erlernt hat.

((23)) FLACKE danke ich für Aufmerksamkeit und Verständnis im Lesen des Hauptartikeis. Die Punkte, an denen er sich stößt, sind mir darum wichtig. Da ist zunächst die „Begründung“, weswegen ich einen „Umbau herkömmlicher Begriffe und gewohnter Gedankengänge“ (EvG 2) für nötig halte. Das Wort „Rechtfertigung“ wäre vielleicht treffender gewesen, denn, wie FLACKE vermutet ((5)), handelt es sich um eine interne Angelegenheit, nicht um die Entdeckung ontologischer Ausgangspunkte. Was Mach anbelangt ((7)), so lese ich aus dem zitierten Satz (EvG 32), daß Tatsachen der Erfahrung angehören und eben, weil sie sich in der Erfahrung nie genau wiederholen, durch Assimilation Zustandekommen.

((24)) FLACKEs Bemerkung, daß ftir mich „die Vernunft die einzige richtige Quelle des Wissens ist“ ((10)), unterschreibe ich, vorausgesetzt, es ist klar, daß „Wissen“ sich ftir mich auf rationales Wissen bezieht An anderen Stellen meiner Replik mache ich deutlich, daß mir die Idee, mystische Eingebung, Intuition und Empathie könnten eine Realität uns näher bringen, keineswegs unsympathisch ist (A.a. BETTONI, LÜTTERFELDS, MEYER).

((25)) Was den sozialen Konstruktivismus betrifft, halte ich die Analyse von sozialen Interaktionen, Beziehungen und Einflüssen für äußerst notwendig und sehe nicht ein, warum sie aus einer dem RK feindlichen Stellung gemacht werden müßte. Allerdings erscheint mir z.B. Gergens Behauptung, daß „Individuen das Resultat von Beziehungen sind ... und daß Beziehungen grundlegender sind als Individuen“ (FLACKE (12)) einen elementaren Widerspruch zu enthalten. Was ich von Gesellschaft und sozialen Beziehungen weiß, beruht auf Erfahrungen, die ich selber machen und in Begriffe fassen mußte. Auch die Soziologie beruht letzten Endes auf den individuellen Vorstellungen von Soziologen. Daß diese Begriffe und Vorstellungen intersubjektiv ausgehandelt und verfeinert werden, dürfte nicht verschleiern, daß ihre eigentliche Quelle in der Erfahrung einzelner Individuen liegt Darum dünkt es mich unsinnig, soziologische Forschung mit der zumindest pseudo- ontologischen Behauptung zu beginnen, die Gesellschaft (und/ oder die Sprache) sei primär. leb glaube im Gegenteil, diese Sparte der Forschung würde fruchtbarer, wenn sie die konstruktive Rolle des kognitiven Individuums stets in Sicht behielte.

((26)) FURTH I would like to thank for the admonition to become more radical ((17)). As I leamed during my years in Ireland, it is never too late to go a little further.

((27)) However, much as I have tried, I am unable to see, what in my article could have led FURTH to say that my fo- cus is „on the perception of ‘something that is already there*“ ((1)). As I repeatedly stated elsewhere, I hold it with Berkeley when he explained that expressions such as „to be“ or „to exist“ can have no meaning outside our experiential world. What I do accept, is & negative definition of ontology; that is to say, I grant the possibility of an extemal world that can thwart our desires and upset our schemes of action. We register the per- turbation, but this in no way implies that we „perceive“ or „observe“ the structure or properties of a „pre-given reality“ ((6)). That I have not forgotten the Statement that „action, not perception, is the key concept of an adequate theory ofkrtowl- edge“ ((8)) seems to me to be inherent in a number of things I say. But FURTH is probably right: I should have explicitly made it dear that I consider „perception“ not a passive re- ceiving of data but an active construction on the pari of the perceiver. The Statement at the end of my first paragraph (EvG 1) was obviously not sufficient.

((28)) I would say that also Piaget’s notions of „occasion“ and „opportunity“ ((4)) presuppose something that affords such possibilities, and this seems to go together very well with my notion of „viability“. As I have understood it, „assimilation” ((5)) entails the disregarding of differences (relative to a pre- vious constnict). Consequently it allows repetition - and rep- etition leads to regularities and rules which form the scaffold- ing for the construction of gut experiential reality.

((29)) I agree that a theory of knowing must fit into a „societal frame“ ((15)), but I believe that knowledge is constmcted by individuals. Much of this construction takes place within the constraints of a social group (see the third level of viability (EvG 27)), but the theory must also account for the ränge of knowledge that we can and often do derive quite by ourselves from interactions with the constructs that fumish our own, subjective experiential world.

((30)) I see no incompatibility with Furth’s notion of „desire“. As Ihave frequently said, our models of living organisms (not only human) explicitly or impticitly involve at least primitive values - and any scale of values is likely to generate desires.

((31)) Given that some thirty other critics consider my con- structivism totally tnisguided, I am grateful for Furth’s Statement ((17)) that it „points in the right direction“.

((32)) GOORHUIS hat mir mit seiner Kritik große Freude bereitet Seine positive Reaktion, sagt er, rühre nicht von der „Überzeugung, daß in dieser Theorie irgendeine Wahrheit steckt sondern (sei) aus rein pragmatischen Gründen entstanden“ ((2)). Damit hat er die Zielsetzung des RK richtig erkannt und darum ist es nun ein Vergnügen, die „Begrenzungen“, die er sieht, aus meiner Perspektive zu untersuchen.

((33)) Zunächst möchte ich da sagen, daß die Viabilität eines Konzepts stets von dem Subjekt angenommen wird, das das Konzept geschaffen hat ((5)). Doch Viabilität hat mehrere Stufen. Daß der Weg durch eine geschlossene Türe nicht via- bel ist merkt man zu allererst dadurch, daß man anstößt was man dann sehr schnell vorherzurehen lernt. Woran man stößt kann man aber nur in Begriffen denken, die man vom Anstoßen hier und dort an andere Gegenstände abstrahiert hat (siehe „Tatsachen“ in der A.a. FLACKE). Was „real“ daran ist weiß man nicht und kann man darum nicht sagen, denn es läßt sich mir in Wörtern beschreiben, die mit den unterschiedlichen Arten des Anstoßens (tastender, visueller oder auditiver Art) assoziiert worden sind.

((34)) Auf der zweiten Stufe erweisen Begriffe sich als nicht so viabel, wie man sie möchte, wenn sie Widersprüche mit anderen Begriffen hervorrufen; auf der dritten, wenn sie in Interaktionen mit anderen Beteiligten nicht so funktionieren, wie man erwartet hat ((6)). Dabei ist freilich daran zu erinnern, daß „die anderen“ zwar von einem selbst konstruiert werden, aber keineswegs frei wie man will. Denn bei der Konstruktion von anderen erweisen diese sich mindestens ebenso widerständig, wie die Gegenstände, die man „Türe" oder „Wand“ nennt. Inwieweit diese Hindernisse einer Realität zu- zuschreiben sind oder der fehlerhaften eigenen Konstruktion, bleibt m.E. unergründlich.

((35)) Wie sehr ein Subjekt sich anstrengt, Perturbationen zu sanieren und sein inneres Gleichgewicht zu erhalten, und wie es dies macht ((8-11)), ist selbstverständlich eine individuelle Angelegenheit, doch im Hauptaitikel lag mir daran, zumindest eine allgemeine Richtung aufzuzeigen.

((36)) Zur Autonomie und der „inneren Befreiung“ östlicher Philosophien kann ich hinzufügen, daß Powers in seiner Kontrolltheorie (EvG 37) als einer der ersten erklärt hat, ein lernendes Feedbacksystem kann eine Perturbatio» auch dadurch neutralisieren, daß es den betreffenden Sollwert ändert Wtr kennen das alle recht gut denn wenn das Erreichen eines Ziels, das wir gewählt haben, allzuviel Anstrengung erfordert sind wir zuweilen bereit, es aufzugeben.

((37)) GRÖSSING schreibt im Bezug auf Kognition, daß „die ‘inneren’ Prozesse ein ‘Echo’ von Prozessen beinhalten, die sich in der Außenwelt abspielen“ ((4)). Echo heißt Widerhall, und auf Grund unseres viabten Wellenmodells bedeutet das, daß ein Schall auf ein Hindernis stößt und von ihm zurückgeworfen wird. Wir hören das Echo, schließen auf ein Hindernis, haben aber keine Ahnung, was es ist außer der Annahme, daß es laut unserer Theorie Schall zurückwerfen kann. Kurz, wir wissen um ein Hindernis, kennen es ab« nicht (Der unvergeßliche Deutschlehrer in meiner Schweizer Mittelschule der Zwischenkriegszeit war ein Freund von Thomas Mann und teilte mit diesem die Passion für präzisen Sprachgebrauch. Unzählige Male warnte er uns, den romantisch vernebelnden Ausdruck „wissen um etwas“ nie und nimmer zu benützen. Die schöne Echo-Metapher schafft nun einen Kontext in dem die verpönte Ausdrucksweise mir durchaus sinnvoll erscheint)

((38)) Die „gegenseitige Abstimmung zwischen inneren und äußeren Prozessen“ ist also nicht eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung unserer „Kognitionsapparate“. Diese Einsicht war m.E. Piaget durchwegs geläufig, denn in dem grundlegenden Buch La construction du riet chez l'enfant (1937) - lange vor Biologie und Erkenntnis (1974) - hat er gezeigt daß in seiner Theorie Objekte, Raum, Kausalbeziehungen, Zeit und die Realität als Ganzes von einem kognitiven Organismus aus sich heraus konstruiert werden können. Die .Außenwelt“ in GRÖSSINGs Piaget-Zitat ((3)) kann man sich also recht gut als Konstruktion aus „Echos“ denken. Als Nichtphysiker scheint mir das auch für das Sammeln „numerischer Daten“ ((2)) zu gelten: perse, d.h als Zahlen, sind sie „kontextfrei“, doch was der Physiker zählt oder mißt sind wiederum Echos und Echo-Sequenzen.

((39)) Mit GRÖSSINGs Charakterisierung der „großen Erzählungen“ ((6-8)) bin ich einverstanden. Ich sehe den RK nicht als solche, denn er macht keinerlei Anspruch auf Ausschließlichkeit (siehe auch KÖNIG (7)) und bemüht sich vielmehr, die Untragbarkeit dieses Anspruchs seitens der großen Erzählungen aufzuweisen.

((40)) HEISE/GERJETS trennen in ihrer Kritik zwei Interpretationen des RK: Erstens als „Theorie des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses“, zweitens als „Theorie des menschlichen Wissens und somit als kognitionspsychologische Theorie“ ((1)). Im Hinblick auf die erste Auslegung ziehen die Autoren eine „strukturalistische Theorienkonzeption" zum Vergleich heran, die sie als Weiterentwicklung des Empirismus betrachten ((2-6)), und kommen zu dem Schluß: Die strukturalistische Auffassung von Theorien oder ihrer Funktion im Forschungsprozess scheint uns durchgängig gut verträglich mit vG’s Position zu sein“ ((6)).

((41)) Die kognitionspsychologische Interpretation wirft mit der Anschauungen einschlägigier gegenwärtiger Autoren in Bezug auf „mentale Repräsentationen“ verglichen ((7-10)) und die beiden Kritiker finden, daß die diesbezügliche Auffassung des RK den traditionellen Vorstellungen nur dann widerspricht, „wenn diese in naiv-realistischer Waise mentale Representationen als mehr oder weniger korrekte Abbilder einer objektiv gegebenen Realität »ansehen" was aber Im allgemeinen nicht der Fall sei ((10)). Mir klingt das etwas zu optimistisch. Anderson zum Beispiel, der einzige, der von den beiden Kritikern zitierte Autor, der mir bekannt ist, hat so wenig Sympathie für den Konstruktivismus, daß er in seinem Buch über Lernen (1995) weder Hagel noch die Forscher erwähnt, die sich in den Vereinigten Staaten in der Didaktik der Mathematik einen Namen gemacht haben. Der Grund liegt meines Erachtens darin, daß die Anhänger des „Information Processing" und der „Cognitive Science“ zuweilen zwar die Konstrukte der beobachteten Versuchspersonen als subjektiv und relativ betrachten, für ihre eigene Theorie aber doch objektive Wahrheit beanspruchen möchten. Der RK erlaubt das nicht, denn er sieht sich selbst nicht als Beschreibung einer Realität, soadem bestenfalls als ein Modell, das sich im Gebrauch nützlich erweist.

((42)) Das ist nun auch der Grund, weswegen mir die Trennung von wissenschaftlichem und alltäglichem menschlichem Wissen ((1)) nicht behaglich ist. Insofern Wissenschaftler wahrnehmen und denken, operieren sie von meinem Gesichtspunkt kognitiv. Was ich z.B. In Anlehnung an Piaget Über Assimilation, Akkommodation, Reflexios und Viabilität aus- führte (EvG 23-35), scheint für Denken überhaupt zu gelten und darum auch für das Denken von Wissenschaftlern. Ich sehe nicht, wie Wissenschaft ohne Begriffe von Mehrzahl, individueller Identität, Objektkonstanz, Veränderung und Extension (EvG 45-55) überhaupt beginnen könnte und darum glaube ich, daß sie ebenso auf diesen kognitives Operationen beruht wie die Wirklichkeitkonstruktion von Kindern und Laien. Wissenschaftler müssen zwar in ihren Begriffsverbindungen etwas vorsichtiger und systematischer Vorgehen, als man das im alltäglichen Leben tat, doch die Weise, wie sie Begriffe und Begriffsverbindungen schaffen, scheint mir im Prinzip die gleiche zu sein.

((43)) Wenn Heise und Gerjets abschließend schreiben: "Die Argumente vG’s erscheinen uns überzeugend, rennen jedoch offene Türen ein“ ((13)), so werden die vorliegenden Kritiken ihnen vor Auges führen, daß es noch eine eine Menge verriegelter Türen gibt.

((44)) Herzog hat recht, wenn er schreibt, wichtiger als der Wettbewerb mit anderen Erkenntnistheorien sei es für den RK, sich in der Praxis der Disziplinen durchzusetzen, in denen er relevant wäre ((2)). Die beiden Streitgebiete sind aber nicht so leicht zu trennen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. In der Didaktik der Mathematik spielen konstruktivistische Ideen seit fast zwanzig Jahres eine Rolle, werden aber nach wie vor heftig angegriffen - nicht weil sie sich etwa als erfolglos erwiesen, sondern well sie herkömmliche theoretische Anschauungen gefährden. Die bissigsten Angriffe kamen meistens von Vertretern eines Empirismus, in dem die empirische Grundidee des Erfahrungsbezugs mit naivem Realismus verwechselt wird. So wird man immer wieder zu „philosophischen“ Diskussion gezwungen ((11-15)). Ein gutes Beispiel ist die Physik, wo sämtliche Koryphäen hier und dort konstruktivistische Bekenntnisse machen, während die Lehrer ihre Wissenschaft als den goldenen Weg zu Realität preisen. Die Schwierigkeiten - HERZOG nennt sie „Gefahren“ ((3-10)) -, die sich der Verbreitung und dem Verständnis des RK entgegenstellen, beschreibt er ausgezeichnet, doch Gebiete es zu finden, wo sie ohne philosophische Argumente frontal begegnet und überwunden werden könnten, ist nicht leicht. Darum wiederhole ich so oft, daß die koestsuktivistische Denkweise vor allem im eigenen täglichen Leben auszuprobieren ist.

((45)) HOFFMANN beginnt seine überaus feinkörnige Dekonstruktion des Hauptartikels mit der Feststellung, daß meine „Entgegensetzung“ von RK und traditioneller Erkenntnistheorie „allzu schematisch“ sei ((2)). Bereits Platara sei von einer „rational strukturierten Welt" ausgegangen, habe aber keineswegs Erkenntnis als „Widerspiegelung“ begriffen. Buchstäblich ist das sicher richtig. Doch daß der Erkennende sich laut Platon mühsam an die ewigen Formen erinnern muß, die Gott ursprünglich in die unsterbliche Seele eingebaut hat, scheint mir nicht allzu weit von Widerspiegelung präexistenter Strukturen entfernt. Auch die Behauptung, „Kants ‘Konstruktivismus’ ... kann durchaus als ‘herkömmlich* gelten“ kann ich nicht mit meiner Bedeutung von „herkömmlich“ vereinbaren (siehe A.a. ECKES).

((46)) Ganz unklar, schreibt HOFFMANN, sei ihm „das Verhältnis (meiner) Wissenstheorie und ihren möglichen "Anwendungen’ in lebensweltlichen Kontexten“ geblieben ((4)). Im Rahmen dieser Replik kann ich das nicht klarer machen, als durch die wiederholte Feststellung, daß z.B. im Forschungslaboratorium, in der Schule, in der Psychotherapie, vor allem aber im täglichen Zusammenleben mit anderen vieles leichter und fruchtbarer wird, wenn die Beteiligten ihr Wissen mit weitgehend individuellen Konstruktionen zu betrachten beginnen.

((47)) Man kann nicht oft genug daran erinnert werden, daß Logik „extensionsorientierte“ (d.h. sich auf Erfahrungen beziehende) Behauptungen „weder ausschließen noch bestätigen“ kann (siehe A.a. MITTERER). Dennoch ist es im allgemeinen Sprachgebrauch zulässig, zu sagen, daß „logisch ausgeschlossen“ sei, was sich ms den angenommenen Primassen nicht ableiten läßt. Und da die Skeptiker die Erfahrung des Xenophanes, daß die Realität unnahbar sei, als Prämisse an- annahmen, konnten sie deren naturgetreue Spiegelung „logisch ausschließen“ ((6)).

((48)) Da hier im Zusammenhang mit der Realität auch Pierce erwähnt wird ((9)), kann ich darauf hinweisen, daß man bei diesem Autor lesen kann: „Die Abduktion verläßt sich auf die Hoffnung, daß zwischen der Vernunft des Denkenden und der Natur genügend Affinität besteht, so daß das Raten eicht hoffnungslos ist“ (1931-1935, Bd.l, §121; siehe Definition von "Abduktion“ in A.a. TASCHNER).

((49)) HOFFMANN hat vollkommen recht, wenn er abschließend verlangt, RK solle „sich angesichts der richtig erkannten Probleme des Erkennens um einen Rationalitälsbegriff... bemühen, der zumindest die Abgrenzung von Irrationalität erlaubt“ ((10)). Meine Bemühungen in dieser Richtung haben mich bisher nicht über die Auffassung hinausgebracht, daß Rationalität sich bestenfalls von innen abgrenzen läßt, weil eben die Sphäre des Irrationalen unendlich ist (A.a. SEILER).

((50)) JANICH: Die Methode des Aufbauens, mit der JANICH und der „Methodische Konstruktivismus/Kulturalis- mus“ sich so eingehend befassen, betrifft, soweit ich verstehe, den Aufbau der Erlebenswelt. Janich schreibt am Anfang seiner Kritik, es falle ihm leicht, dem RK in seinen Grundanliegen zuzustimmen. Dieses Grundanliegen ist es, zu zeigen, daß „alle Varianten realistischer, ontologischer oder Abbildtheoretischer Art sinnlos und/oder unhaltbar“ sind ((1)).

((51)) Die „Defizite“ des RK in Bezug auf Sprachphilosophie, Pragmatik und Kultur, die JANICH dann im Vergleich zu seinen eigenen Anschauungen feststellt, rühren seiner Ansicht nach von meinem „grundsätzlichen Anschluß... an naturwissenschaftliche Ergebnisse“ (insbesondere jene von Mach, Piaget, Darwin und Wiener) ((2)).

((52)) Die in meinem Artikel angedeutete „Bedeutungstheorie“ dient mir vor allem dazu, die weitverbreitete Ansicht zu widerlegen, daß Sprache Begriffe und somit Wissen von Sprechern zu Hörern transportieren kann, und darum keineswegs eine umfassende Sprachtheorie sein will. Das schien mir schon daraus klar zu werden, daß ich den Bedeutungsaufbau hauptsächlich im Kind beschreibe und hinzufüge, daß die Segmentierung der Erlebens weit, auf der Wortbedeutungen beruhen, ,4m Laufe weiterer Erfahrung durchwegs mehr oder weniger geändert werden muß, um mit dem Sprachgebrauch der Erwachsenen einigermaßen übereinzustimmen“ (EvG 40). Nimmt man das zusammen mit meiner Verwendung des Viabilitätsbegriffs, so ergibt sich, meine ich, genau das, was JANICH "Einbettung von Spracherwerb und Sprachausübung in eine konstruktivistisch rekonstruierte Praxis einer menschlichen Gemeinschaft“ nennt ((3)).

((53)) Daß Piaget den Unterschied zwischen „Widerfahrnissen“ und absichtlichen, zielstrebigen Handlungen im Dienst einer „sozial hinreichend kompetenten Teilnahme am Alltagsleben“ glatt vergessen habe ((4)), ist eine Behauptung, die ich mir nur durch die Annahme erklären kann, daß JANICH erstens den bei Piaget wichtigen Unterschied zwischen senso- motorischen Handlungen und mentalen Operationen nicht wahrgenommen und zweitens Piaget’s ttudes sociologiques (1965) nicht gelesen hat. An mehreren Stellen dieser Sammlung von Essays behandelt Piaget den maßgebenden Einfluß sozialer Interaktion und Kollaboration auf die Konstruktion von Aktionsschemas und Operationen in der Entwicklung des Einzelnen.

((54)) Auch glaube ich, daß es selbst unter den verachteten „Naturalisten“ wenige gibt, die „nicht zwischen einem Termitenhügel und einem gotischen Dom unterscheiden können“ ((4)), denn daß der eine als Wohnung benützt wird, der andere hingegen zum Beten und ähnlichen geheimnisvollen Tätigkeiten, läßt sich kaum übersehen. Offensichtlich haben beide sich im Lauf der Zeit vom Gesichtspunkt der Benutzer aus als viabel erwiesen.

((55)) In seinem letzten Absatz schreibt JANICH, ich hätte es unterlassen, die in meinem »Ansatz investierte Übernahme naturwissenschaftlicher Denkweisen und Resultate selber konstruktivistisch in Frage zu stellen und zu rekonstruieren“. Da ich m meinem Artikel als Beispiel Konstruktionsmodelle für Mehrzahl, Objektpermanenz, Wandel aller Alt» Zustand, Bewegung und Ausdehnung vorgeschlagen habe (EvG 46-55) - Begriffe, ohne die auch Naturwissenschaftler nicht viel machen können - sollte klar sein, daß ich das Denken in der Wissenschaft als Konstruktion und die Ergebnisse prinzipiell als mehr oder weniger viable Modelle betrachte, ohne sie notwendigerweise im Einzelnen zu „rekonstruieren“. Wenn die Arbeiten der Erlanger und Maiburger Methodologen den Konstruktivismus durch solche Rekonstruktionen radikaler machen, so kann mich das nur freuen, denn ich glaube nicht, daß es Ceccatos und meinen Begriffsanalysen die eigene, grundlegende Radikalität nimmt.

((56)) KÖNIG ((6)) zitiert Böhmes Ausdruck „Widerstän- digkeit der Wirklichkeit“ und dessen markerschütterndes Beispiel eines nicht „brauchbaren“ Frühstücks. Freilich würde auch ein Blinder daraufkommen, daß es nicht viabel ist, auf ein Stück Ziegelstein zu beißen, und daß es peinliche „physiologische Konsequenzen" hätte. Hoffentlich ist das ein Stück der Wirklichkeit, die er sich bereits konstruiert hat Doch selbst das Zersplittern seiner Zürne wäre zwar schmerzhaft, aber wissenstheoretisch doch nur eine Erfahrung, die prinzipiell nicht mehr über Realität besagt, als das Ticken der Uhr in Einsteins Gleichnis (EvG 8). Der Wider- oder Gegenstand, den der Blinde zu spüren bekommt und dann hoffentlich dank eines bereits angefertigten Konstrukts als Stein „erkennt" (d.h. assimiliert), läßt sich nur in Begriffen denken, die durch Abstraktion aus vielen vorhergehenden Widerstandserlebnissen gebildet wurden (siehe such A.a. GRÖSSING).

((57)) Daß man aus dem RK keine .Anweisungen für das praktische Handeln“ gewinnen kann ((10)), scheint mir z.B. dadurch widerlegt, daß es in der Didaktik bereits mehrere Bücher gibt, die über seine Anwendung im Mathematik- und Phy- sikunteiricht berichten.

((58)) KONRAD stellt eine, soweit ich es beurteilen kann, verläßliche Zusammenfassung anderer mehr oder weniger konstruktivistischer Denkscbulen meinem Konstruktivismus gegenüber und überläßt es dem Leser, eine Wahl zu treffen. Ihre eigene Stellung charakterisiert sie durch ein Zitat von Popper» demnach der Fortschritt der Erkenntnis „in der Verbesserung des vorhandenen Wissens (besteht) in der Hoffnung der Wahrheit näher zu kommen“ ((4)). Da dieses Näherkommen nur ermessen werden könnte, wenn man Zugang zu jener Realität hätte, in der Dinge-an-sich „existieren“, halte ich die erwähnte Hoffnung für einen metaphysischen Wunschtraum. Popper behauptete, daß der Verzicht auf diese Hoffnung zur Stagnation der Wissenschaft führt (Popper 1963, S. 114). Ich bin offensichtlich nicht dieser Meinung.

((59)) Nur an wenigen Stellen weist KONRAD ausdrücklich auf begriffliche und sprachliche Unterschiede zwischen meiner Auffassung und jener anderer hin. Um dem Leser Vergleiche möglich 20 machen, wäre das wohl nötig. Nun schreibt sie aber z.B.a propos F.Wallner, dieser unterscheide zwischen „Realismus“ und „Wirklichkeit“, während ich „Illusion“ und „Wirklichkeit“ sowie zwischen „subjektivem" und „objektivem“ Urteil differenziere ((6)). Da wäre es wichtig zu «Hären, dafi ich das deutsch© Wort „Realität“ benütze, uns die unmögliche Vorstellung von einer ontischen Welt von der alltäglichen da- erlebten „Wirklichkeit“ zu antersciseidea (sieh© BvG 10,13,17,57) »ad dana die Gegenüberstellung von Illusion und Wirklichkeit md jene vom subjektivem Bad objektivem Urteil in der Erlebens weit mache.

((60)) Welchen Konstruktivismus Leser und Leserinnen aus der hier gebotenes Zusammenstellung als den brauchbarsten betrachten wollen, hängt von ihnen selber ab. Mein Vorschlag beansprucht nicht, „wahr“ zu sein, sondern will lediglich in der Praxis des Lebens und Denkens ausprobiert werden.

((61)) KRÜGER kann ich nun erwidern: Hätte ich meinen Artikel als „PR-Aktion“ für mein Buch geschrieben ((!)), so wäre es eine peinliche Fehlrechnung gewesen, etwa ein Drittel der Kritiker haben es oder anderes von mir bereite gelesen, und unter den restlichen zwei Dritteln ist kaum einer, der mit dem Artikel nicht mehr als genug hat. Tatsächlich wurde ich eingeladen, mich mit einer Zusammenfassung meiner Ideen der Diskussion auszusetzen, wofür ich der Redaktion der EuS ansgesichts der reichhaltigen Kritikea überaus dankbar bin.

((62)) Daß „konstruktivistische Ansätze“ schon seit längerer Zeit in unterschiedlichen Disziplinen diskutiert werden, ist mir zumindest teilweise bekannt. Es ist mir ein Ansporn, den RK immer klarer und unmissverständlicher zu erklären, denn was da diskutiert wird, hat oft mit den eigentlichen Ideen recht wenig za tun. Im Hauptartikel wollte ich die radikale Wtessrnstheorie so gut ich konnte als Ganzes auspacken, damit der aufmerksame Leser feststellen kann, wie weit RK sich von anderen Konstruktivismen entfernt. Die Distanz von den „sozialen" Versionen ist besonders groß, da der RK eine Theorie des individuellen Wissens ist und somit auch die Gesellschaft und alles was mit ihr in Zusammenhang gebracht werden kann als Konstruktion des einzelnen Subjekts betrachtetn muß (A.a. PLACKE). Ich wiederihsole: es geht am Wissen, nicht um Sein.

((63)) KULL erklärt, die Ansicht, „wonach es in der herkömmlichen Erkenntnistheorie stets um die Erkenntnis einer ‘Welt an sich’ gegangen sei,... ist seit Kant obsolet“ ((2)). Er bemerkt jedoch, daß Kants „Kopemikanische Wende“ in der Philosophiegeschichte „mancherlei Verwässerung“ erfahren hat und es darum ein klein Verdienst ist, ihr wieder in ihrem Recht zu verhelfen. Im Nachhinein ist mir klar, daß ich Kant in meinem kurzen Abriß der epistemologischen Vorgeschichte hätte erwähnen sollen. In meinem Buch ist er ausführlich gewürdigt, doch beim Schreiben des Hauptertikels lag mir vor allem daran, meinen eigenen Weg zum RK plausibel zu machen. Dieser Weg war selbstverständlich idiosynkratisch und mußte zudem drastisch abgekürzt werden. Außer Leibniz ((5)) bitte ich auch Vico, Schopenhauer, Nietzsche, Vaihinger, James, Bogdanov, Collingwood, Etewey und einige andere, von denen ich gelernt habe, erwähnen können.

((64)) Hingegen stimme ich ganz und gar nicht mit der Feststellung überein, meine Darstellung stütze sich auf Ergebnisse der Wissenschaft, weil ich ausführlich auf Piaget eingehe ((4)). Wie das Zitat (EvG 25) nahelegt, war es die epistemologische Interpretation der Anpassung und des wissenschaftlichen Denkens, sie Piaget sein Leben lang beschäftigte». Daß Philosophen ihn durchwegs ignoriert haben, ist m.E. eine unverzeihliche Unterlassungssünde.

((65)) Daß mein Konstruktivismus - oder andere „aufgeklärte“ Denkweisen - Fundamentalisten bekehren könnten, glaube auch ich nicht ((13)). Doch die Lehrpraxis hat mir einige Male bestätigt, daß ein bißeben Konstruktivismus manche Studenten und Studentinnen vor dem Abrutschen in fundamentalistische Wahnideen bewahren kann.

((66)) KURTs Konmentar zeigt: Wenn man von der Überzeugung ausgeht, eine Wissenstheorie ohne ontologische Be- gründungen sei prinzipiell ausgeschlossen, dann muß mau den RK als unsinnig betrachten. Nicht so selbstverständlich ist es, daß dem RK dann ganz unzutreffende Absichten und Behauptungen zugeschrieben werden. KURT bestätigt, daß es mir nicht „um die soziohistorische Entwicklung eines Denkmodells geht, schießt aber dann, daß ich zeigen will, meine Theorie „sei immer schon da gewesen“ ((3)). Das wollte ich nicht sagen. Wenn ich schrieb, „daß menschliche Beobachter die Begriffe mit denen sie Erlebnisse und Erfahrungen erfassen, nicht entdecken, sondern erfinden, ist keineswegs neu“ (EvG 9), heißt das nicht mehr, als daß dieser eine Schritt bereits von den sehr unterschiedlichen Denkern, die ich zitiere, versucht wurde.

((67)) Auch Husserls Phänomenologie verzichte, so schreibt KURT, „auf die Annahme der Erkennbarkeit 'einer realen Welt’“ und setzt an ihre Stelle die „Lebenswelt... Und diese Welt erfinden wir nicht. Wir finden sie vor“ ((6)). Wie tun wir das? Sickert sie so, wie sie ist, in uns hinein? Oder konstruieren wir sie auf Grund von Erfahrungen, die wir in unseren eigenen Begriffen begreifen?

((68)) KURTs Behauptung, ich wolle „die ganze Menschheit umfassen“ ((3)), gründet sich anscheinend auf meine Bemerkungen über den Anfang der Geistesgeschichte und läßt sich kaum damit vereinbaren, daß ich den RK als Vorschlag bezeichne (EvG 2) und meinen Artikel mit der Warnung schließe, der RK mache keinen Anspruch auf „Wahrheit“ im philosophischem Sinn und sein Wert könne sich stur in der Praxis denkender Individuen erweisen (EvG 64). Da er Bewohner des Himalaja erwähnt, kann ich hinzufügen, daß RK sich gar nicht so sehr vom gewissen Formen der tibetanisch/buddhistischen Philosophie unterscheidet.

{(69)) LAUS zitiert eine Ontologie-Definition von Luhmann ((2)) und behauptet dann, daß ich Ontologie betreibe, weil ich „die Frage diskutiere, ob oder wie die Erkenntnis einer Realität an sich möglich sei“ ((3-4)). Zwar habe ich wiederholt geschrieben, daß wir m.E. von der ontischen Welt nichts wissen können, doch wenn das „Ontologie betreiben“ ist, dann kann niam mich auch einem Spiritisten nennen, weil ich manchmal erkläre, daß ich von Geistern keine Ahnung habe.

((70)) LAUS schreibt aber auch, daß die Realität „als Resultat einer Operation eines Beobachters“ gedacht und somit vom Sein abgelöst werden kann ((5)). Das hat mein Freund Silvio Ceccato, der Erfinder der consapevolezza operativa schon vor 50 Jahren gesagt, als er die Begriffssemantik gründete (siehe A.a. BETFONI); und ich möchte darauf hin weisen, daß mein Diagramm in (EvG 46) eine ziemlich deutliche Darstellung der mentalen Operationen ist, die das „Sein“ hervorbringen.

((71)) LEIBER bemerkt gleich, daß ich meiner Auffassung entgegengesetzte „Grundhaltungen... pauschalisierend formuliere“ ((2)). Das ist freilich so. Erstens fehlt mir die solide Basis eines akademischen Philosophiestudiums (was ich sehr bedaure) und zweitens finde ich in meiner Gegend keinen gelernten Philosophen, der bereit wäre konstruktivistische Ideen ernstlich zu diskutieren. Darum bin ich LEIBER für seine Ausführungen sehr dankbar und prinzipiell bereit, sie als Korrekturen anzunehmen.

((72)) Das gilt jedoch nicht für die Zweifel in Bezug auf meine Verwendung des Wortes „herkömmlich" ((2)). Wenn ich von einer,.herkömmlichen Erkenntnistheorie“ sprach, so meinte ich jene, die dem Denken und vielem Handeln der meisten Menschen seit jeher als Grundlage dient In meiner Erfahrungswelt kann ich diese Grundlage ohne Bedenken naiv-realistisch nennen. Obschon ich selbst eine Reihe von Denkern zitierte (zu der andere hinzugefügt werden können; A.a. KULL), die dem Realismus zu entkommen trachteten, glaube ich, daß auch heute und besonders in den Vereinigten Staaten die eine oder andere Form eines metaphysischen Realismus in den meisten philosophischen Abteilungen maßgebend ist Auch was die Umstellung der Wissenschaftler anbelangt ((4)), so habe ich z.B. Helmholtz schon oft zitiert und man könnte einige mehr aus dem vergangenen Jahrhundert nennen (sowie m.E. auch Leonardo da Vinci und Torricelli). Doch wenn man in heutigen Forschungszentren und Laboratorien zuhört, bekommt man nicht den Eindruck, der Realismus sei ausgestorben.

((73)) LEIBERs Bemerkung in Bezug auf Sozialkonstruktivismus stimme ich voll und ganz bei (siehe meine kurze Erklärung an KRÜGER). Dem Ausdruck „Minimalrealismus“ bin ich in meiner eklektischen Auswahl der Lektüre noch nicht begegnet und weiß darum nicht was darunter verstanden wird.

((74)) LÜTTERFELDS zieht in einem frontalen Angriff gegen die These „daß wir eine Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht ‘erkennen’ können“ (EvG 14), zunächst Hegel heran, der mir als eklektischer Leser stets abseits lag. Damm verlasse ich mich auf das angeführte Zitat: „Gerade darin, daß menschliches Wissen überhaupt von einem Gegenstände weiß, unterscheidet es den Gegenstand, wie er unabhängig von ihm existiert vom Gegenstand, wie es ihn weiß“ ((3)). ln der konstruktivistischen Perspektive taucht ein Gegenstand in der Wirklichkeit eines Subjekts erst dann auf, wenn das Subjekt ihn konstruiert. Die Konstruktion des Gegenstandes kann dem Auftauchen sogar lange vorausgehen, wie es etwa bei den Quarks der Physiker der Fall ist. Damit wird das von Hegel geborgte Argument für mich hinfällig, denn von einem Gegenstand, den ich noch nicht konstruiert habe, kann ich nichts wissen - und Eingebungen von ihm sind Sache der Mystik.

((75)) Dann kommt das Argument, das eine negative Aussage in eine positive verdreht: „Denn in der Angabe dessen, was wir nicht rational erfassen können, liegt eine rationale Wirk- lichkeitserfassung bereits vor“ ((3)). Meint LÜTTERFELDS hier ein Verstehen der Erlebenswirklichkeit, dann kann ohne weiteres dazugehören, daß man etwas außerhalb ihrer fürmög- lich hält Doch ich glaube er meint .Realitätserfassung“, und an die kann meine Vernunft nicht heran.

((76)) Ganz einverstanden bin ich mit der Feststellung, daß „alle Erkenntnistheorien, samt ihrer Kritik“ ((12)) notgedrungen „zirkulär“ sind. Das fängt damit an, daß ich als Halbwüchsiger wie wohl die meisten anderen - die Welt meiner Erfahrungen mit Mitteln zu ordnen und zu „erklären“ beginne, die ich mir auf Grund dieser Welt zusammenbasteln muß; und es hört mit dem Versuch auf, das Rationale rational zu analysieren. Das heißt aber nicht unbedingt, daß ich metaphysische Zuflucht suchen muß. Man kann auch unbegründete Voraussetzungen als Ausgangspunkt verwenden, nicht als „ontologische Gegebenheiten" ((13)), sondern als schlichte Arbeitshypothesen zur Konstruktion eines „Modells“, das man dann, auch wenn es funktionieren sollte, doch nicht als Repräsentation einer Realität betrachtet.

((77)) Eine dieser Voraussetzungen ist bei mir das Bewußtsein des konstruierenden Subjekts ((6)). Ich habe kein Modell und keine Ahnung wie es funktioniert, habe auch bis heute von keinem befriedigenden gehört. Doch ich kann mir einiges von dem zurechtlegen, was es tut; z.B. wie Humboldt so schön sagte: „in seiner fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick still stehn, das eben Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst gegenüberstel- len“ (Humboldt, 1907, S.581).

((78)) Damit erübrigt sich auch Lütterfelds' Einwurf von ((5)), daß das Gleichgewicht, von dem ich spreche, „das Verhältnis des kognitiven Organismus zu seiner externen Welt“ betrifft, weil ich es im Zusammenhang mit kognitiven Strukturen und Tatsachen erwähne (meine Hervorhebung).

((79)) MEINEFELD, der in drei Paragraphen Hauptpunkte meiner Position zutreffend zusammenfaßt ((1-3)), wirft die „Widerständigkeit“ der Realität auf und sieht in ihr den Grund, eine „vorgängige Strukturiertheit“ anzunehmen, aus der dann »Ankerpunkte der menschlichen Konstruktionsleistung“ erwachsen ((5)). Widerstände, wie ich KÖNIG erwiderte, streite ich keineswegs ab, doch daß man aus ihnen reale Struktur oder Eigenschaften des Widerstehenden abfeiten könnte, scheint mir ausgeschlossen (A.a. GRÖSSING).

((80)) Was Piaget betrifft, so lese auch ich bei ihm an vielen Stellen, daß der Aufbau der Begriffswelt ein interaktiver Vorgang ist, der die Widerständigkeit der Objekte voraussetzt ((6)); doch ich nehme Piaget ernst, wenn er in La construction du reel chez Venfant ausführlich darlegt, wie das Kind Objekte konstruiert und dann in die nicht minder konstruierte „Welt“ von Raum und Zeit projiziert Auch ich glaube, „Wahr- nehmungsstrukturen existieren nicht vorder Wahrnehmung“ ((7)), doch werden sie m.E. in der Auseinandersetzung mit den bereits konstruierten Objekten und die .Anpassung der Begriffe und Ideen an einander“ aufgebauf (EvG 23).

((81)) MEYER schreibt in ((2)), wenn man auf Grund der Unmöglichkeit, Vorstellungen mit einer „Welt an sich“ zu vergleichen, schließt, daß so eine Welt nicht rational erfaßbar sei, dann ist das „nur eine facon de parler'. Ich würde sagen, es ist eine facon de penser - und das ist genau, was der RK sein will. Und wenn MEYER weiter ausführt: „Das Konzept einer 'Welt an sich’ wird dann überflüssig und bedeutungslos; es kürzt sich gewissermaßen aus unseren Überlegungen heraus,“ dann drückt er sehr schön aus, was der RK bezweckt: Im Bereich rationaler Konstruktionen ist die Berufung auf eine ontologische Realität ausgeschlossen. Das heißt aber keineswegs, daß der RK das subjektive Gefühl des „Daseins“ ausschließen will; doch er betrachtet alles, was mit Sein zu tun hat als gefühlsmäßige Eingebungen. Er bestreitet lediglich, daß diese rational erfaßt und beschrieben werden können, und überläßt sie darum der Intuition der Mystiker, Metaphysiker und Künstler.

((82)) In meinem Artikel behaupte ich, daß weder metaphysische Postulat®, noch Argumente der Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit solcher Annahmen die „unergründliche Lücke“ (zwischen unseren Wahrnehmungen und unseren Begriffen einerseits und einer von uns unabhängigen Welt andererseits) auf rationale Weise schließen können (EvG 13).

((83)) Das Wortspiel, daß das Adjektiv „objektiv“ der Umgangssprache (wo es „eine von der jeweiligen Gemeinschaft akzeptierte ... Praxis“ betrifft) mit der Beschreibung der philosophischen „Wahrheit" gleichsetzt (MEYER (3)), paßt nicht gut zu einem Sprachwissenschaftler, der auf „sinnvolles Reden“ hält. Der Unfug läßt sich vermeiden, indem man für den ersten Begriff das Wort „intersubjektiv“ verwendet.

((84)) Was Wittgenstein betrifft ((8)), so könnte man lange diskutieren. Unter anderem hat er auch „auf überzeugende Weise darlegen können“, daß es schwer ist herauszufinden, was vorgeht wenn jemand z.B. auf eine Form, eine Farbe oder eine Anzahl „zeigt“ (Wittgenstein, 1953, S,17). Man lerne es durch Sprachspiele, schlug er vor - doch wie der Sprachanfänger diese Begriffe in den Sprachspielen isoliert, so daß er sie fortan eigenständig benützen kann, ist weiterhin mysteriös geblieben.

((85)) MITTERER beginnt seine Kritik mit der Feststellung, daß die Unterschiede zwischen RK und Realismus „von den jeweiligen Vertretern als so groß empfunden (werden), daß es kaum zu ausführlichen Auseinandersetzungen kommt“ ((1)). Was einige der anderen Kritiker geschrieben haben, scheint mir zu zeigen, daß solche verständigungshenurietide Empfindungen auch dort auffauchen, wo der RK von Positionen aus kritisiert wird, die sich keineswegs als „realistisch“ bezeichnet sehen möchten.

((86)) Der Unterschied, den MITTERER in ((3 & 4)) herausschält, gefällt mir gut, doch mit dem Schluß, den er in ((5)) zieht, bin ich nicht einverstanden. Freilich kann ich den Realisten einen Konstrukteur nennen, der seine Konstruktion der Wirklichkeit verabsolutiert; aber gerade diese Verabsolutierung ist, was der Konstruktivist ausdrücklich vermeidet. Der RK behauptet nicht, „wahr“ zu sein; er schlägt lediglich eine Art und Weise des Denkens vor, deren Wert „sich nur in der Praxis denkender Individuen erweisen“ kann (EvG 64).

((87)) Dieser Wert ist Brauchbarkeit oder, wie ich es nenne, Viabilität. Mit diesem Begriff befaßt MITTERER sich intensiv ((7-11)) und ich möchte einige seiner Ausführungen von meinem Gesichtspunkt aus beleuchten. Da er Ausdrücke wie „unbestreitbar", „unwiderlegbar“, und „logisch unanfechtbar“ als Stellvertreter für „wahr“ bezeichnet ((7)), gelingt es ihm, dem RK eine Inkonsequenz zuzuschreiben ((8)). Diese Gleichsetzung scheint mir aber etwas unlauter zu sein. Obschon die eisten beiden Ausdrücke nicht in meinem Artikel Vorkommen, würde ich sagen, daß man sie auch als Konstmklivist ohne Widerspruch verwenden kann, da sie innerhalb des eigenen Erfahrungsbereichs sinnvoll sind und keinen ontischen Bezug benötigen. „Logisch unanfechtbar“ scheint mir noch unschuldiger, denn die Logik sagt grundsätzlich nichts über die Realität, sondern nur über Regeln unseres Denkens. Wenn ich den so oft als Beispiel zitierten Syllogismus mit der Prämisse: „Alle Menschen sind unsterblich“ beginne, so kommt es als „logisch unanfechtbar“ heraus, daß Sokrates unsterblich ist - und das wäre auch sinnvoll und viabet, vorausgesetzt, daß die Unsterblichkeit der Menschen erfahrungsmässig bestätigt werden könnte.

((88)) Die Frage, wer für das Scheitern unser Konstruktionen verantwortlich ist, läßt der RK prinzipiell offen. Im Hauptartikel habe ich das vielleicht nicht deutlich genug gemacht, doch in dem Buch, das MITTERER in den Anmerkungen 2 & 3 erwähnt, steht, daß wir nie entscheiden können, ob der Mißerfolg auf einem Widerspruch in unserer Haadlungs- oder Denkweise beruht, oder auf einem „realen“ Hindernis. Wie überall, hütet der RK sich, etwas über die Realität auszusagen. Das Scheitern hingegen wird m.E. weder in der Wissenschaft noch im täglichen Leben unbedingt „von anderen theoretischen Positionen aus konstatiert“ ((9)), cs kann auch dadurch erkannt werden, daß das was man tut oder denkt nicht zu den gesetzten Zielen fuhrt. Kommt man nicht hin, so erweist entweder die Theorie des Weges oder die begriffliche Konstruktion des Ziels sich als unangebracht Das Verlangen, etwas zu erreichen, sehe ich nicht als theoretisch (rational), da es auf Werte gegründet ist und somit aus der Sphäre der Gefühle und Intuitionen stammt. MITTERER hat freilich recht, wenn er abschließend bemerkt, daß die Entscheidung zwischen realistischer und konstruktivistischer Orientierung eine Sache der Präferenz ist. Doch seit ich mich mit Lernen und Didaktik befasse, macht mir die Wahl keine Schwierigkeit: Statt Schülern ein Weltbild aufzudrängen, das schon an vielen Stellen brüchig ist, ziehe ich es vor, ihnen in der Entwicklung eines Denkens zu helfen, das es ihnen vielleicht ermöglicht, Gleichgewicht in der Wirklichkeit zu schaffen, die sie erleben.

((89)) NÜSE ist, wie er mitteilt, Psycholinguist, und weiß darum besser als andere, wie schwer es ist, aus einem Text annähernd das herauszulesen, was der Autor ausdrücken wollte. Er hat mich ausgezeichnet verstanden. Umso mehr bedaure ich, daß er in seiner Kritik einen Punkt vernachlässigt, den ich im Artikel, am Anfang wie am Ende, so deutlich ich konnte zu vermitteln versuchte - nämlich daß der RK ein Vorschlag sein will (EvG 1, 2,64), also nicht zu einem Glauben überzeugen, sondern ausprobiert werden möchte. NÜSE bestätigt meinen Verzicht auf Wahrheitsansprüche ((1)), wirft dann aber doch Probleme auf, die dadurch entstehen, daß er mir ontisehe Ambitionen zuschreibt. „Die Tatsache, das Wissen das Resultat von mentalen Operationen eines ‘denkenden ’ Erkenntnissubjektes ist, impliziert aber nicht, daß das so erworbene Wissen nicht realitätsadäquat sein kann" ((3)). Eben um diese Implikation auszuschließen, zitierte ich Xenophanes, der deutlich erklärte, daß wir „um" die Adäquation an die Realität nichts wissen können (NÜSE (5); und zu „wissen um" siehe A.a. GRÖSSING).

((90)) Die beiden Prämissen, die NÜSE sehr richtig beschreibt ((10)), scheinen mir meine Grundabsicht deutlich auszudrük- ken: Zu zeigen, daß die Welt, die wir als wirklich betrachten, aas der Erfahrung aufgebaut werden kann, ohne irgend eine Realität vorauszusetzen, der sie entsprechen muß. Wissen habe ich stets als die Gesamtheit der Begriffe, Theorien, Handlungsund Denkweisen verstanden, die wir als viabel betrachten, sowie jener, deren Unbrauchbarkeit wir erfahren haben. Kurz, es umfaßt das, worauf wir uns in unserer Wirklichkeit mehr oder weniger verlassen.

((91)) OTT mißbilligt meinen Vorbehalt in bezug auf „Plausibilitätsargumente“, die helfen sollten, die Kluft zur Realität zu überbrücken ((5)). Wenn ich das Wort „plausibel" einigermaßen richtig verstehe, so bedeutet es, daß man etwas angesichts der Erfahrungen, die man gesammelt hat, mit diesen nicht nur vereinbar, sondern fast als wahrscheinlich betrachtet. Im Kontext der Realitätserkenntnis scheint solche Plausibilität mir eben deswegen fehl am Platz, weil ich keine Berechtigung sehen kann, auf Grund dessen, was in der Erfahrungswelt wahrscheinlich ist, eine Brücke in die Realität zu schlagen.

((92)) OTT präsentiert seine eigene Definition von „Modell“: Repräsentative und simplifizierende Schemata. Er charakterisiert das Denken mit Modellen als „Kennzeichen eines aufgeklärten ('unnaiven’) Realismus" und sagt schließlich, „die neuesten Klimamodelle bildeten die Wirklichkeit besser (adäquater) ab als die ersten Modelle" ((9)). Wie er richtig vermutet, würde ich „diese realistische Deutung des Modellbegriffs zurückweisen", wenn unter „Wirklichkeit" die Realität verstanden werden soll. Ich glaube, Wissenschaftler bemühen sich, ihre Modelle mit der Wirklichkeit der Erfahrungen in Einklang zu bringen, d.h, „plausibel" und wenn möglich auch viabel zu machen. Wenn sie dann erklären, sie beschrieben eine unabhängige Realität, so setzen sie sich die päpstliche Tiara auf und geben vor, ex cathedra zu sprechen.

((93)) OTTs Frage, „was eine wissenschaftliche Beobachtung ist?“ ((9)), scheint mir zunächst schon in dem Einstein-Zitat (EvG 8) und dann ausführlicher in den Paragraphen über Assimilation und Akkommodation (EvG 29-31) beantwortet: Es handelt sich m.E. um Erfahrungen, die sich in kontrollierten, als „gleich“ betrachteten Situationen wiederholen lassen. (Meine Definition von „Modell“ steht in Anmerkung 1 zu (EvG 24).)

((94)) PÖLKING charakterisiert meine Interpretation des Piagetschen Lemmodells als „einen Idealtypus des Lernens ..., der sich auch unbestritten vielfach bewährt und wichtige Forschungsansätze und -ergebnisse geliefert hat“ ((4)), warnt aber, daß es nicht das einzige Modell sei. Das glaube ich auch, und deswegen habe ich anderwärts, wie sie anschließend erwähnt, begriffliches Lernen und Lernen von Verhalten unterschieden. Diese Unterscheidung, läßt sich im Deutschen ungefähr durch „Wissen" bzw. „Können" ausdrücken. Auch imitatives Lernen wäre hinzuzufügen, das auf der noch völlig geheimnisvollen Fähigkeit beruht, visuelle oder auditive Wahrnehmungen in motorische Handlungsprogramme umzusetzen. Kinder lernen Skifahren vom Zuschauen und Gedichte vom Hersagen, ohne daß begriffliches Verstehen dazu nötig wäre oder damit einhergeht. Denken oder vorgefaßtes Wissen sind dabei eher hinderlich, doch es geht besser, wenn ein Lehrer absichtlich vorfährt oder -sagt.

((95)) Daß das begriffliche Lernen in Piagets Modell keine „wesentliche soziale Komponente“ habe, ist etwas übertrieben. Die Akkommodationen, die anfängliche, kindliche Begriffe an den Sprachgebrauch der jeweiligen Erwachsenengruppe anpassen und mehr oder weniger viabet machen, finden auch laut Piaget im Zusammenhang mit sprachlichen und nichtsprachlichen sozialen Interaktionen statt. In der Schule (Grund-, Mittel- und Hoch-) sind Lehrer unerläßlich - aber nicht als Verteiler der begrifflichen Fertigware, die durch disziplinäre Trichter in unwissende Köpfe befördert werden könnte, sondern eben als Anreger und Vermittler, die durch Vorschläge, Fragen und das Hervorheben von Widersprüchen den Begriffsaufbau der Lernenden zu steuern versuchen.

((96)) Das Beispiel von der geozentrischen Alltagsvorstellung gefällt mir ausgezeichnet Zweifellos wird es lange dauern, bevor Leute geläufig sagen „Wir drehen uns jetzt in den Tag bzw. in die Nacht“. Für die alltägliche Verständigung jedoch ist es nach wie vor viabel, vom Auf- und Untergang der Sonne zu sprechen. Nur wenn wir uns mit dem Planetensystem als solchem zu beschäftigen anfangen, erweist sich das geozentrische Modell als zu kompliziert und das Rechnen mit Epizyklen zu kostspielig. Im passenden Kontext verwendet, sind beide Modelle viabel; obgleich auch die Sonne ihre Viabilität als Mittelpunkt der Welt verloren hat, seitdem so viele Astronomen viel tiefer in den „realen“ Weltraum zu schauen glauben.

((97)) G.ROTH schickt voraus, daß er selbstverständlich „mit der grundsätzlich konstruktivistischen Position EvG’s“ übereinstimmt. „Dies betrifft den radikalen Verzicht auf jeden absoluten Wahrheitsanspruch ebenso wie die Erkenntnis, daß jeder von uns innerhalb seiner eigenen, individuell gewachsenen ‘Wirklichkeit’ wahrnimmt, denkt, fühlt und handelt“ ((1)).

((98)) Seine Kritik betrifft zwei Punkte. Erstens, „die Darstellung des Verhältnisses von Erlebenswelt und bewußtseinsunabhängiger Welt, von ‘Wirklichkeit’ und ‘Realität’, und zweitens die darstellende Rolle des Ich bzw. des ‘denkenden Subjekts’ bei der Konstruktion von Wirklichkeit“.

((99)) Bei dem ersten Punkt stolpere ich zunächst über der Gleichsetzung von „bewußtseinsunabhängiger Welt" und „Wirklichkeit“. Das scheint mir verfänglich. Insofern ich von der von mir konstruierten Wirklichkeit denken und reden kann, muß ich sie mir bewußt gemacht haben. Doch es gibt in ihr vieles, das meinem Bewußtsein im Augenblick nicht ohne weiteres zugänglich ist (z.B. der genaue Wert von n oder das Resultat von Multiplikationen zwei- oder mehrstelliger Zahlen). Und dann frage ich mich, ob es überhaupt möglich ist, ein Verhältnis zur „Realität“ positiv darzustellen. Wenn meine Wirklichkeit, wie ROTH ausführt, „erlebnismäßig unüber- steigbar" ist und Dinge und Prozesse „nur in ihr und durch sie“ Bedeutung haben, kann ich von der „Realität“ einzig und allein sagen, daß ich von ihr nichts weiß.

((100)) ROTH fragt dann ((2)), was den RK berechtige, „die Existenz der Realität für gesichert zu halten, alles andere an ihr aber nicht?“ Ich kann in meinem Aufsatz keine Stelle finden, die besagt, daß ich die Existenz der Realität für gesichert halte. Es ist auch unwahrscheinlich, daß ich das sagen würde, denn wie Berkeley müßte ich mich fragen, was das Wort „Existenz“ außerhalb der Erfahrungswelt bedeuten sollte (A.a. FURTH).

((101)) Die Annahme, „daß zumindest einige Teile der Realität gesetzmäßig ablaufen“ ((3)), setzt voraus, daß Dinge und Prozesse, die wir uns in der Erfahrungswelt konstruieren, im Gegensatz zu dem, was ROTH in ((1)) sagt, auch in dem jenseitigen Bereich der Realität Bedeutung haben. Das scheint mir mit dem von ROTH eingangs bestätigten „Verzicht auf jeden absoluten Wahrheitsanspnich“ unvereinbar. Wäre der postulierte, zumindest teilweise gesetzmäßige Ablauf der Realität nicht ein Attribut ihrer „Wesenheit", die dann als nicht erfaßbar bezeichnet wird?

((102)) ROTH hat freilich recht, daß meine Anschauungen sehr stark von Piaget beeinflußt wurden und auch durchwegs „kognitivistisch“ sind ((9)). Ich glaube eben, daß auch Wissenschaftler, einschließlich der Neurophysiologen, ihr Wissen mit Hilfe von allgemeinen kognitiven Prinzipien aufbauen und somit nicht darum herumkommen, daß es ihre Erfahrungswelt betrifft und nicht eine von ihnen unabhängige Realität. Deswegen nenne ich den fUC auch eine Wissenstheorie und warne so oft es geht, daß er keine ontologischen Behauptungen machen will. Für mich ist er ein Versuch, zu zeigen, daß der „Entstehungsprozeß der Wirklichkeit' (((10)), meine Hervorhebung), d.h. Konstruktion und Wissen von der Welt, mit der wir zu tun haben, auch ohne Berufung auf die Eigenschaften einer unabhängigen Realität möglich ist.

((103)) M.ROTHs „visionäre Öffnung" bildet einen Ast der Diskussion, den ich keineswegs absägen möchte, aber im begrenzten Raum, der hier zur Verfügung steht, kann ich ihn nicht verfolgen. Die sachlichen Einwände jedoch möchte ich zu entkräften versuchen. Daß die Eigenschaften oder Verhalten eines Organismus, die sich nach einer Wandlung der Umwelt als „angepaßt“ erweisen, schon vor der Wandlung zu seiner Lebensfähigkeit beitrugen ((4)), nehme ich nicht an, und ich kann das mit Hilfe einer mindestens zur Hälfte wahren Geschichte begründen. Die jungen Makaken auf der kleinen Japanischen Koshima Insel fingen an, im Wasser zu spielen, weil ihre Mütter die Süßkartoffeln, die ihnen von Zeit zu Zeit als Futter gebracht wurden, im seichten Wasser vom Sand zu säubern lernten. Die junge Generation von Makaken wurde zu ausgezeichneten Schwimmern. Nehmen wir nun an (Gott behüte), ein Erdbeben versenkt Koshima und die benachbarten Inseln, so könnten nur die Makaken von Koshima ans Festland schwimmen und überleben, während jene der anderen Inseln umkämen. Da kann man m.E. nur sagen, daß das Schwimmen vor der Katastrophe sicher ein Vergnügen war, aber wie manche andere Vergnügen mit Anpassung oder Lebensfähigkeit nichts zu tun hatte.

((104)) Eines der Hauptprobleme alles Lehrens, so glaube auch ich, wird erst durch die Einsicht klar, daß Begriffliches weder mit den Schallwellen eines Sprechers mitfliegt, noch direkt aus geschriebenen oder gedruckten Zeichen ersichtlich ist ((5)). Es muß stets vom jeweiligen Hörer oder Leser aufgebaut werden. Der einzige mildernde Umstand ist, daß die Bedeutung der Zeichen an den beiden Enden des Kommunikationskanals gar nicht identisch sein muß - für die „Verständigung“ genügt es, wenn die Beteiligten ihre jeweilige Bedeutung in der gegebenen Situation als viabel betrachten. Ich fürchte jedoch, es wird noch geraume Zeit dauern, bis Maschinen gebaut werden können, deren mechanisches Wissen sie befähigt, dieses Viabilitätsurteil annähernd so zu fallen, wie wir es tun.

((105)) SCHANTZ schreibt, und ich gebe hier eine längere Passage wieder, weil in ihr Verwechslungen deutlich werden, die auch in der Kritik anderer eine Rolle spielen: „Es ist sicherlich richtig, daß wir die Begriffe, mit denen wir die Dinge um uns klassifizieren, selbst gemacht haben. Abo-die Konsequenz, die vG daraus zieht, ist, daß die Existenz und die Natur von Gegenständen von unserem Begriffssystem abhängig ist Betrachten wir Sterne. Ihre Existenz und Natur ist von unserer Sprache und unserem Denken kausal völlig unabhängig. Wir haben nicht die Staue gemacht, sondern lediglich den Begriff ‘Stern’. Wir sind nicht die Ursache dafür, daß es Sterne gibt Es würde Sterne auch dann geben, wenn wir nicht existierten. Und ebensowenig ist die Existenz von Sternen logisch von der Sprache abhängig, in der wir Beschreibungen von ihnen geben. Die Existenz von Sternen ist mithin weder logisch noch kausal von unserem Begriffssystem abhängig“ ((8)).

((106)) Angesichts meines erwähnten Vorbehalts in Bezug auf „Existenz“ (A.a. FURTH) verstehe ich nicht, wie SCHANTZ zu der Behauptung kommt, daß in meiner Denkweise ein Begriffssystem die Existenz von Gegenständen verursache oder daß sie von der Sprache abhinge. Die unterschiedlichen Begriffe - von Himmelskörpern, Asterisken, Filmschauspielerinnen, bis zum Christbaumschmuck - die durch das Wort „Stern“ als Vorstellungen in mir hervorgemfen werden, habe ich, wie SCHANTZ anfangs sagt, im Laufe meiner Erfahrung selber konstruiert. Doch wie ich anscheinend nicht oft genug wiederholen kann, habe ich keine Ahnung, was Wörter wie „Existenz“, „Sein“ und „existieren“ außerhalb der Erfahrungswelt bedeuten sollten. Daß es Sterne geben würde, auch wenn wir nicht „existierten", ist m.E. eine apodiktische Behauptung, die einem metaphysischen Glaubensakt entspringt und sich weder in der herkömmlichen Epistemologie (soweit ich sie verstehe) noch in meiner Wissenstheorie rechtfertigen läßt.

((107) Das ich zwischen logischer Wahrheit und Realität ((14)) keine Verbindung sehe, ist in der A.a. MITTERER ausgeführt.

((108)) SCHMIDT erklärt am Anfang seiner Kritik, daß es schwer ist, in einer öffentlichen Diskussion kritische Stellung gegenüber einem Freund einzunehmen, mit dem man seit vielen Jahren gemeinsame Ziele verfolgt. Seine Bemerkung, daß wir in unseren Sprachen nicht um Prädikationen herumkom- men ((1)), d.h. um den Gebrauch des Zeitwortes „sein“, das trotz aller Warnungen immer wieder als Berufung auf ontologisches Sein verstanden werden kann, beleuchtet eine der Hauptscbwierigkeiten des Konstruktivistischen Diskurses. Man kann also tatsächlich gar nicht vorsichtig genug sein.

((109)) Zu der in Klammem gesetzten Andeutung, daß ich die ontologische Realität als rational nicht erfaßbar, aber „vielleicht anders doch“ zugänglich betrachte ((3)), möchte ich aus- führen, daß ich weder die Eingebung der Mystiker noch jene der Dichter und Künstler jemals in Frage gestellt habe. Doch sie liegt für mich eben außerhalb des rationalen Bereichs und läßt sich nicht buchstäblich vermitteln oder erklären. Sie arbeitet mit subjektiv „offenen“ Symbolen, d.h., wie Vico sagte, mit Metaphern, deren eines Zielobjekt außerhalb der alltäglichen Erfahrungswelt liegt Ich habe des öfteren erklärt daß diese mystische Welt für uns vielleicht wichtiger ist als alles Rationale, und auch die Hoffnung ausgedrückt, daß die Abgrenzung der rationalen Möglichkeiten den Zugang zu ihr erleichtern möge. Das ist ein Dualismus, mit dem ich in gutem Einvernehmen lebe und dessen Verneinung mir direkt gefährlich erscheint.

((110)) Daß das Erlernen der Sprache im Rahmen von „Handlungsspielen“ ä la Wittgenstein im Umgang einer Sprachgemeinschaft geschieht scheint auch mir unzweifelhaft. „Nur für einen Beobachter lernt ein Kind eine Sprache“ ((4)) • doch dieser Beobachter ist in erster Linie das Kind selbst denn bevor es Wörter erfolgreich in sozialen Unterhandlungen verwenden kann, muß es sie mit viabien Vorstellungen verbinden lernen.

((111)) Ich danke SCHMIDT für seine Bemerkungen über Ethik ((5)) und hoffe, daß es gelingen wird, den Begriff der Viabilität auch auf diesem Gebiet plausibel zu definieren.

((112)) SEILER stellt die durchaus berechtigte Frage, ob die Denkweise, die ich vertrete, „die Begriffe der Erkenntnis, der Wahrheit und der Realität obsolet macht“ ((2)). Wie im Falle von BETTONI (und einigen anderen) würde ich diese Frage viel lieber mit dem Fragesteller in einer Landschaft mit Sonne, Schatten und einem Hintergrund von Fluß, See oder Meer persönlich besprechen und hoffe darum, eine freundliche Zukunft möge dazu Gelegenheit bieten. Hier ist der Platz eng begrenzt und wenn ich die Frage nun kurz mit Ja beantworte, so wird das notgedrungen schroff wirken. Es ist keineswegs so gemeint.

((113)) SEILER gibt meine „Thesen“ mit Verständnis und Umsicht wieder, stimmt weitgehend mit ihnen überein ((2,7, 8, 12)) und entwickelt seine Vorbehalte aus spezifischen Teilen. Heutige Wissenschaftler würden nur selten die Meinung vertreten, „daß menschliches und auch wissenschaftliches Erkennen“ vom Subjekt unabhängig und darum „ohne Einschränkung als ‘Objektiv’ bezeichnet werden dürfte“. Das ist sicher richtig. Doch wenn man z.B. Physiklehrer während ihres Unterrichts beobachtet, bekommt man den entgegengesetzten Eindruck.

((114)) Auch damit, daß wir Begriffe und Theorien auf unsere Weise aus der Wirklichkeit der Erfahrung ableiten, „werden wohl viele Theoretiker einig gehen“. Doch die Schlußfolgerung, daß die Realität nicht rational erfaßbar und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit unergründlich seien, schiene unberechtigt ((3)). Wenn man die Vernunft in Anlehnung an Kant minimal als die Methode definiert, die es erlaubt, die Begriffe, die von Erfahrungen abstrahiert werden, so zu verknüpfen, daß sie ein kohärentes System bilden, ist es nicht möglich, „rationale“ Verbindung zu „Dingen“ der Realität herzustellen, deren Verhältnis zu Begriffen unbestimmt bleibt (A.a. SCHMIDT). Nicht besser geht es, wenn wir eine neuere Definition heranziehen, demach die Vernunft die Fähigkeit ist, „Bedeutungen zu schaffen, begründend zu verbinden und zu trennen und sie in Bezug auf ihre Wahrhaftigkeit zu beurteilen“ (Sandkühler. 1988, S.42).

((115)) Mit der Wahrhaftigkeit wird die zweite Frage aufgeworfen, nämlich ob zwischen „objektiv und nicht objektiv und wahr und nicht wahr“ nicht doch auch Zwischenformen möglich seien ((4)). Im normalen Sprachgebrauch sind sie gang und gäbe, doch mein Kontext im Hauptartikel war die Wahrheit der Philosophen (in Bezug auf „logische Wahrheit“ siehe A.a. MITTERER).

((116)) In dem Punkt, daß, jede Art von Anpassung auch eine Art von Wahrheit impliziert“ ((5-7)), möchte ich SEILER widersprechen. Da ich ausschließlich von Wissen sprechen will, sehe ich die Sieb- Metapher (EvG 28) vom Gesichtspunkt des Sandkorns aus, das nichts von einem Sieb erfährt, durch das es fällt; und wenn es anstößt, kann es aus dem bloßen Widerstand nichts ersehen, als daß es eben am Fallen verhindert wird.

((117)) Daß ein Kenner wie SEILER, trotz einiger Differenzen, einige Aspekte meiner Piaget-lnterpretation doch annehmbar findet, hat mich sehr ermutigt, und darum danke ich ihm für seine durchwegs anregende Kritik.

((118)) TASCHNER. Inwieweit es berechtigt ist, den RK mit der formalen Mathematik zu vergleichen, kann ich als Nichtmathematiker nicht beurteilen. Taschners Ausführungen in ((1- 6)) scheinen mir durchaus annehmbar. Dann aber ist mir nicht klar, was unter Argumenten zu verstehen ist, die „mir unvermittelter Anschauung, Evidenz oder Intuition einhergeken" ((7)). Am Ende des Absatzes heißt es, daß .Aussagen in das Netz der bereits als viabel betrachteten Aussagen einzubinden (sind],... (dessen einzelne Knoten - angepaßt auf eben erfahrene ‘Tatsachen’, was immer man unter ‘Tatsache’ versteht, - stets ausgebessert werden dürfen).“ Das klingt so, als seien die Beziehungen, die die Vernetzung der Knoten bilden, ein für allemal gegeben. Das widerspricht meiner Vorstellung, denn auch die verbindenden Beziehungen dürfen mit Hinsicht auf Viabilität „ausgebessert“ werden. Und dies geschieht m.E. durch das, was ich als abstrakte Reflexion und ohne weiteres als intuitiv bezeichnen würde - eben weil es nicht die Tatsachen selbst sind, die die Beziehungen bestimmen, sondern die mentalen Operationen des Subjekts.

((119)) ln der von Taschner zitierten historischen Episode ((9- 10)) war „Der brillante Gedanke B almers", daß er einen allein aus Meßwerten berechneten Zahlenwert durch einen unendlichen ersetzte. So wie ich das verstehe, war das eine Intuition, aber keine Evidenz. Es ließ sich nicht irgendwie aus den Zahlen als solche ersehen, sondern beruhte auf Batmers Entschluß, alles» was „unterhalb der Meßgenauigkeit rangiert“ als unendlich im betrachten and so zu kategorisieren. Das scheint mir analog der Erfindung Galileis, die es möglich machte, Gesetze der Bewegung zu formulieren, obschon diese Gesst® ge- naugenommen nicht beobachtet werden konnten. Charles Peirce bezeichnete solches Denken als .Abduktion“ (d.h. Er- fiadang einer erklärenden Regel). Für nach sind diese aus der Rationalität selbst nicht erklärlichen Intuitionen eine Urquelle der wissenschaftlichen Konstruktionen. Doch wenn Einstein das einen „Blick in Gottes Karten“ neun! ((14)), so macht er eine metaphysische Beteuptusig, die sieh durch den Erfolg des intuitiv erfunden« Gedankens in der Erfahrungswelt nicht belegen läßt Dann stimme ich vorbehaltlos Taschners Formulierung bei: „Die Mater entzieht sich letztlich immer den Zugriffen des sie "steppen wollenden Forschers“ ((12)).

((120)) Todesco erklärt, daß er den RK in der Formulierung von "Hyper-Texten" benützen kann. Das eröffnet eine Anwendung, der ich selbstverständlich viel Erfolg wünsche. Doch daß da angeblich von Wort- and Textbedeutungen abgesehen wird, verblüfft mich ((12)). Todeseo scheint mir zuzustimmen, daß das Kleinkind durch Reaktionen von Erwachsenen bewogsa wird, in manchen Situationen „Tasse“ zu sagen, in anderen aber „Tassen“ ((9)). Die Unterscheidung dieser Situationen wird wohl durch die Reaktionen der Erwachsenen notwendig, 1ässt sich aber nicht auf Grund dieser Reaktionen lernen. Das Kind muß begreifen, daß der Singular „Tasse“ zum einmaligen Wahrnehmen des benannten Objekts paßt, während der Plural die Wiederholung einer Wahrnehmung bezeichnet. Das heißt, daß das Kind die Unterscheidung erst dann machen kann, wenn es sich der Wiederholung von bestimmten mentalen Operationen gewahr wird. Kurz, daß die Unterscheidung gemacht werden soffte, geht aus den Interaktionen mit Anderen hervor, wie sie zu machen ist, ist Sache der eigenen mentalen Operationen (Wahrnehmung, Kategorisierung, usw.).

((121)) Tedeseo schreibt: "...wir lernen durch Akkommodation, welche Wörter wir - unabhängig von ihrer Bedeutung - wann mit Gewinn verwenden körnten“ ((9)). Ich möchte sagen, daß Wörter ans nur dann „Gewinn" bringen, wenn die Bedeutungen, die wir ihnen zuschreiben einigermaßen mit den Bedeutungen übereinstimmen, die in unserer Sprachgruppe geläufig sind. Wenn ich zum Beispiel im Obstgeschäft zwei Bananen verlange, und der Verkäufer gibt mir sein Taschentuch, kann ich kaum von Gewinn sprechen. Hingegen werde ich die sprachliche Interaktion als erfolgreich betrachten, wenn meine Äußerung, „Zwei Bananen“, bei dem Verkäufer eine Vorstellung fervorruft, die der meinen ähnlich genug ist, um ihn zu befähigen, aus der vorliegenden Menge unterschiedlicher Früchte das auszuwählen, was ich verlangt habe. Für mich sind diese mit Wörtern assoziiertem (mentalen) Vorstellungen das, was ich „Bedeutung“ nenne.

((122)) In meinem Modell, wie übrigens auch bei Piaget, sind Vorstellungen unerläßlich, und darum bin ich nicht einverstanden, daß ‘Konstruktion’ nichts anderes sein soll als engineering ((3)). In meinem Modell bauen wir uns auf der »sensomotorischen Ebene durch Abstraktion von Wahrnehumgen (siehe A.a. FURTH) Vorstellungen von Gegenständen (Sessel, Apfel, Auto, usw.) auf; und auf der rein begrifflichen Ebene Operationsprogramme, die uns abstrakte Begriffe (Teil, Ganzes, Raum, Zeit, usw.) liefen. Gerade der Ingenieur, der dauernd mit Begriffen wie Druck, Drehmoment, Beschleunigung, Fliehkraft, usw. arbeiten muß, wird nicht viel Brauchbares konstruieren, wenn die mentalen Operationen, die diese Begriffe hervortragen, ihm nicht geläufig sind.

((123)) TOBESCO hat selbstverständlich recht, wenn er bemerkt, daß Konstruktivismus keine Didaktik ist ((11)). Dis konstruktivistische Perspektive jedoch befähigt Lehrer, den Schülern autonomes Lernau zu ermöglichen und zu erleichtern.

((124)) VOLLMER berichtet, daß schon Platon die Auffassung justified true belief im Theaitetos kritisiert hat ((3)). Auch mir hat Platon Anstoß zum Nachdenken gegeben. Sokrates sagt einmal, er wisse, daß er nichts wisse, doch in manchen Dialogen zeigt er, daß er eine ganze Menge weiß. Widerspricht er sich? Ich glaube nicht. Br spricht nur von verschiedenen Sorten von „Wissen“, und Platon, der ja auch Politiker war, hat das zuweilen (absichtlich?) schlimm verwirrt. Wovon Sokrates nichts zu wissen beteuerte, das war die Realität; wovon er viel weiß, das war die menschliche Erfahrung und das, was man daraus abstrahieren kann. Aus der Perspektive des RK ist diese Trennung unerläßlich. Die erste Sorte ist nicht rationales Wissen, sondern Metaphysik und Mystik. Allein die zweite Sorte ist das Wissen, von dem der RK sich zu zeigen bemüht, daß es ohne unnachweisliche ontologische Anhaltspunkte aus der Erfahrung aufgebaut werden kann. Dieses Wissen gibt der RK keineswegs auf, obschon es nie ganz sicher ist, doch er hütet sich, es „Erkenntnis“ oder „Wahrheit“ zu nennen und anzunehmen, daß die ontische Realität daraus „rekonstruiert“ werden könnte ((4)).

((125)) „Ordnungslos oder chaotisch ist die Welt offenbar nicht", schreibt VOLLMER. „Vielmehr ist sie reich strukturiert; sie hat viele Ecken und Kanten, an denen wir uns stoßen“ ((9)). Wenn man mit Kant davon ausgeht, daß Raum und Zeit nur die Anschauungsformen unseres Erfahrens sind, dann wird alle Vorstellung einer strukturierten Realität hinfällig und die blauen Flecken, die wir uns holen, rühren von den Ecken sind Kasten, die unsere Weise des Erlebens hervorbringt.

((126)) VOLLMER erwähnt Watzlawicks „Gleichnis vom Kapitän, der bei Nebel eine Meerenge durchfährt und auf die Frage, wie die Küstenlinie verlaufe, nur antworten könne, wo sie nicht sei”. Er schließt ganz richtig, daß auch das ein Stück Wissen ist ((13))- aber es ist Wissen über die Handlungsweise des Kapitäns (nämlich wo er unbeschadet segeln kann), nicht Wissen über die Küste. Ebenso würde ich sagen, wenn es sich zeigen läßt, „warum die Welt, die wir kennen, nicht zweidimensional, aber auch sicht vier- oder höherdimensional sein kaum“, darf man zweifellos vermuten, daß sie dreidimensional ist. Doch das ist eine Aussage über die Welt, die wir kennen, das heißt über die Welt unserer Erfahrung. Es steht dem hypothetischen Realismus freilich frei, auf Erfahrungen die Vermutung zu bauen, daß sie die Realität weitestgehenst widerspiegeln (A.a. HOFFMANN); doch mich drängt es da zu fragen, inwiefern diese Vermutung ein Gewinn sein soll.

((127)) WEBER setzt an den Anfang ihrer Kritik das Motto: „... die Geschichten der Wissenschaft sind nicht immer gleich gut“ ((0)). Das gilt auch für Diskussionsargumente und kritische Bemerkungen. In ihrem dritten Absatz zitiert WEBER einige Aussagen von mir aus dem Hauptartikel und aus einem Buch, die sich noch kürzer zusammenfassen lassen. Erstens: Realität ist eine Fiktion; zweitens: Ob unsere Vorstellungen Dinge an sich repräsentieren, können wir nicht herausfinden. - Die erste Aussage wurde im Zusammenhang mit „Rednern und Autoren" gemacht, die dem, was sie behaupten, „den Anschein absoluter Gültigkeit“ verleihen möchten. Das Wort „Fiktion“ kommt im kritisierten Artikel nicht vor und wo ich es anderwärts verwendet habe, bezieht es sich, soweit ich mich erinnere, auf „heuristische Fiktionen“ im Sinne Kants oder auf Literatur. Die zweite Aussage ist eine Variante der im Artikel öfters gemachten Behauptung, daß wir von der Realität nichts wissen können. WEBER sieht darin „sowohl eine höchst metaphysische als auch ontologische Aussage ((4)). Nun, daß Negationen nicht als Grundlage für die Zuschreibungen positiven Wissens dienen können, ist längst bekannt Darum macht mir der Vorwurf, Metaphysik und Ontologie zu betreiben, keine Angst solange er nur damit begründet wird, daß ich verleugne, etwas von diesen geheimnisvollen Gebieten zu wissen. Daß die Kritikerin mich dann angesichts eben dieser .radikalen“ Trennung von Wissen und unergründlicher Realität monistischer Ambitionen verdächtigt, ist verwunderlich, denn oft wird mir gerade deswegen Dualismus vorgeworfen.

((128)) In Bezug auf die These, daß „naiv-realistische Theorien ... sich höchstens in vulgären und altbackenen Varianten des Marxismus, Behaviorismus oder Funktionalismus finden“ ((5)), siehe meine A.a. Eckes.

((129)) WEBER beklagt meine Geringschätzung der, jntersub- jektive(n) Verständigung“ ((10)), bemüht sich selber aber kaum, meinen Gedankengängen zu folgen. So unterschiebt sie mir „ein ängstliches Bemühen... Widersprüche und Konflikte zwischen der eigenen kleinen subjektiven Welt und den ‘Tatsachen’, dem Nicht-Ich zu glätten“ ((11)). Daß Tatsachen auf Deutsch und auf Lateinisch - wie Vico schon lange vor Mach bemerkte - vom Tun oder Machen kommen und von den Erlebenden in der eigenen Erfahrung gemacht werden, ist eine Auffassung die im Hauptartikel nicht besonders versteckt war. Demnach geht es mir nicht darum, Konflikte mit dem „Nicht- Ich“, sondern Widersprüche zwischen Begriffen, Theorien und Anschauungen im Denken zu vermeiden.

((130)) ZAHN erklärt, daß „zahlreiche interessante Details (meines Artikels) (s)eine Zustimmung finden“ ((1)), weist aber in mehr als der Hälfte seiner neunzehn Paragraphen auf meine Verwendung von Wörtern und Ausdrücken hin, die er für schwer verständlich, metaphorisch oder unangebracht hält Aus seinen jeweiligen Ausführungen (in Form von Fragen) entnehme ich, daß es ihm anscheinend darum ging, mein Modell in die Begriffswelt des .Methodischen Konstruktivismus“ zu übersetzen, wo es sich dann als unmethodisch erweist. Da ich das Erlanger/Marburger Programm nicht gut genug kenne, kann ich nicht beurteilen, inwieweit ich seiner Definition von „Methode“ zustimmen würde. In seinen Ausführungen sind auf jeden Fall Punkte, die mich nicht überzeugen. Etwa die Frage: „Wie ist es zJB. zu verstehen, daß auf der Netzhaut der Augen Bilder von Oberflächenteilen von Körpern entstehen?“ ((3)). Ich würde sagen, zu Bildern kommt es, wenn eine Aufmerksamkeit dank ihrer Bewegung minimale Signalkompositionen, die von den vier Neuronenschichten in der Netzhaut zusammengeschaltet werden, zu Mustern verbindet, die dem jeweiligen Bewußtsein sinnvoll erscheinen. Da ich annehme, daß dieser Vorgang bei der Versuchsperson, der als „Stimulus“ z.B. ein weißes Kreuz gezeigt wird, der gleiche ist wie bei dem Neurophysiologen, der ihre Gehirntätigkeit mißt und registriert, wundert es mich nicht, daß er in der Registration das gleiche Bild sehen kann, das er wahmimmt, wenn er auf die Stimuluskarte schaut.

((131)) Leider habe ich im Rahmen dieser Replik nur Platz, auf eine von ZAHNs weiteren sechs oder sieben Fragen einzugehen. Er stößt sich daran, daß ich den Ausdruck „ontologische Realität“ benütze ((14)). Obschon auch ich diese Wortkombination als pieonastisch betrachte, fügte ich „ontologisch“ zur Realität, weil viele Autoren eine in der deutschen Sprache mögliche Unterscheidung nicht ausnützen und die Wörter .Realität“ und „Wirklichkeit“ austauschbar verwenden, (siehe z.B. die Kritiken von ECKES (9), KÖNIG (3, 6), LAUS (5-6), LÜTTERFELDS (3,6,14 u.a.). Ich bemühe mich, „Wirklichkeit“ zu benützen, wenn ich von der Welt sprechen will, die wir auf Gnind von Erfahrung und Reflexion konstruieren und zu der die beiden Bereiche gehören, die Jakob von Uexküll (1934) .Merkwelt“ und „Wirkwelt“ genannt hat. .Realität“ hingegen reserviere ich für das, was Ontologen beschäftigt, d.h. eine Welt, die unabhängig von unserem Erleben „existieren“ soll.

Schlußbemerkung

((132)) Die Auseinandersetzung mit drei Dutzend Kritikern, die durchwegs mehrere Argumente vorbrachten, war ein erschütterndes Erlebnis sowohl im negativen als auch im positiven Sinn. Viel von dem, was mir als .Mißverständnis“ erschien, muß ich zweifellos auf Mängel in der Darstellung meiner Ideen zurückführen. Offensichtlich muß ich noch einiges Lernen, um z.B. zu verhindern, daß dem RK trotz meiner häufigen Dementis der Anspruch auf Ausschließlichkeit zuge- schrieben wird. Daß das so schwer zu vermeiden ist, beruht m.E. zuweilen auch auf der allgemeinen Voraussetzung, daß nicht nur in der Politik, sondern eben auch in der Philosophie, jeder vor allem darauf abzielt, die „Wahrheit“ seiner Anschauungen zu beweisen. Der wiederholte Hinweis, daß mein Artikel den RK nicht als veimeinüiche Wahrheit präsentieren wollte, sondern als Vorschlag, hat da wenig geholfen.

((133)) Am meisten überrascht hat mich, daß kaum einer auf die von Ceccato übernommene diagrammatische Analyse von Begriffen kritisch eingegangen ist; sie ist für mich eine wichtige Komponente des RK.

((134)) Zum Schluß möchte ich nicht nur nochmals allen Beteiligten für eine durchwegs interessante Diskussion danken, sondern auch der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften meine Bewunderung dafür aussprechen, daß sie diesen Meinungsaustausch in die Wege geleitet und so vorbildlich organisiert hat. Diese Erfahrung hat mich mit Nachdruck von der Viabilität des angeblichen Ausspruchs von Friedrich dem Großen überzeugt: „Jeder solle auf seine Fasson seligwerden“.

Literatur

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Kant, I. (1787) Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, in Kants Werke, Akademie-Ausgabe. Berlin, Bd- III.

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Peirce, C.S. (1931- 193S) CoUected papers (Bd. 1-6, Hg. Hartshome & Weiss). Cambridge, Massachusetts. Harvard U. Press.

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UexküU, J. von & Kris za t, G. (1934) Streifaitge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Frankfurt: S.Fischer.

Anmerkungen

  1. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten den Auftrag bekam, Seminare über Piaget's Genetische Epistemologie zu leiten, stellte ich fest, daß die einschlägige Literatur im englischen Sprachbereicb mit wenigen Ausnahmen den revolutionären Aspekt dieser Wissenstheorie verschleierte oder völlig ignorierte. Fast durchwegs wurde der Eindruck erweckt, Piaget spreche von Konstruktivismus, weil Kinder das Wissen der Erwachsenen nur schrittweise und in einer Folge von Stadien auf- zunehmen fähig sind. Die Tatsache, daß Piaget’s Ansatz das Verhältnis von Wissen zur realen, ontischen Welt grundsätzlich abändeit, wurde durchwegs verschwiegen. Da Sokrates bereits überzeugend dargelegt hatte, daß Lernen nur in kleinen Schritten vor sich geht, nannte ich den verwässerten Konstruktivismus 'trivial' und den von Piaget erfundenen ‘radikal’.
  2. Ich verwende das Wort „Modell" im Sinne der Kybernetik, d.h. es bezeichnet ein hypothetisches Konstrukt, das dem beobachtbaren Verhalten eines Gegenstandes (Black Box) entspricht, dessen interne Organisation dem Beobachter unzugänglich ist.
  3. Eine ausgezeichnete neue Bewertung and Erläuterung von Machs Werk findet man in R.Haller & F.Stadler (1988).
  4. Jerome Bruner ist der Ansicht, daß Piaget „sich trotz seiner konstruktivistischen Epistemologie, doch an Überbleibsel eines naiven Realismus klammerte" (1986, S.98). Ich halte das für unvereinbar mit den vielen Stellen in Piagets Werk, wo er das klare Verständnis an den Tage legt, daß Anpassung keineswegs die Repräsentation einer ontologischen Realität impliziert.
  5. Selbst wenn, wie einige Biologen annehmen, ungünstige Umweitbedingungen die Frequenz von Mutationen steigern, bestimmen sie nicht den Charakter der einzelnen Veränderungen.
  6. Psycholinguisten, die das im englischen Sprachbereich beobachtet haben, nennen spontane Benennungen dieser Art "labeling".
  7. Da Piaget diese Beschreibung im Zusammenhang mit den berühmten Experimenten über Objektpermanenz gibt, spricht er nicht von Verschwinden, sondern von Verdeckung durch visuelle Hindernisse.
  8. Marco C. Bettoni (m.bettoni@fhbb.ch) im Gespräch mit Robert Ottiger (ortiger@swissonline.ch) und Rolf Todesco (todesco@compuserve.com)
  9. Ich danke Friedrich Schleiermacher für seine einfühlsame Übersetzung der Platonischen Dialoge, aus denen ich einige Wendungen des täglichen Lehens („die Quelle all unserer Erfahrungen", Maturana, 1998) übernommen habe
  10. H. R. Maturana, Biologie der Realität, Suhrkamp, Frankfurt a/M, 1998.
  11. H. R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1985, S. 16.
  12. M. C. Bettoni, Fedone 1991, Working Papers Nr. 20, 31.5.1991, S. 7. SCMO, Milano (siehe: www.dellacosta.com/methodologia)
  13. Dazu gehören auch die meisten in der Technik umgesetzten numerischen Daten. Wäre der in der Raketensteuerung implementierte Wert der Erdbeschleunigung nur um Promille größer oder kleiner, so könnte damit kein gewünschtes interplanetarisches Reiseziel erreicht werden. Multiple “Vtabilitat” als Alternative zur einen ontischen Wahrheit kann daher nur für kontextgebundene Prinzipien angenommen werden. Im Bereich der numerischen Daten bzw. Verhältnisgrößen ist hingegen nur ein “faktischer" Wert "viabel”.
  14. Hinsichtlich virtueller Realitäten ist dies freilich anders: Diese sind ja schon “ausgedachte” Erlebniswelten mit ihren eigenen, beliebig konstruierbaren Gesetzen. Bei einem Erdbeben wäre es allerdings vorteilhaft, die VR- Brille abzunehmen und ins reelle Freie zu laufen.
  15. Als dem Radikalen Konstruktivismus grundsätzlich (irgendwie) zustimmend werden von EvG außerdem erwähnt(Glasersfeld 1996): Werner Heisenberg, Hermann von Helmholtz, Niels Bohr, Paul Adrian Maurice Dirac, Max Bons, Erwin Schrödinger.
  16. EvG stellt ja auch mehrfach fest, daß an seiner Position - außer der Form ihrer Zusammenfügung und ihrer Befreiung von metaphysischer Verbrämung - eigentlich nichts grundsätzlich Neues sei (Glasersfeld 1996, 19, 56).
  17. Helmholtz versteht das wissenschaftliche Experiment als konsequente Weiterentwicklung handlungspraktischer Wissensgenerierung und kognitiver Orientierungsleistung. Demnach konstituiert sich ein Erkenntnissubjekt in einem je bestimmten Entwicklungszustand durch seine Vorerfahrungen und Erwartungshaltungen, aufgrund derer es Handlungseingriffe in den nur hypothetisch als “real" angenommenen Ablauf der “äußeren Natur” vornimmt (hypothetisch-konstruktionistischer Realismus). Werden die Erwartungen bestätigt, - wobei “Bestätigung" ein quasi-induktiver, langwieriger Etkenntnisgenerierungsprozeß ist, der nie von seinen deduktivistischen Bestandteilen abgetrennt wird -, kommt es zu einer allmählichen Stabilisierung der entsprechenden Vorerfahrungen und Erwartungshaltungen und sie werden in die Menge praktisch erfolgreicher Handlungsweisen und empirisch adäquater Theorien integriert. Vollständige Bestätigungen oder absolute Wahrheit gibt es dabei nicht mehr. Unsere Handlungsschemata, in noch stärkerem Ausmaß aber unsere wissenschaftlichen Theorien und theorieimprägnierten Experimentalkonzeptionen bleiben in letzter Konsequenz stets hypothetisch und fallibel (ohne daß man Helmhoitz deswegen den FaJsifi- kationisten zurechnen könnte). Helmholtz’ Konzeption eines experimentalistischen (bzw. konstruktivistischen) Empirismus korrespondiert dabei grundsätzlich dem dreigliedrigen Reflexschema (Glasersfeld ((29))) und damit den Begriffen der Assimilation und der Akkomodation von Piaget (Leiber 1998, Kap. 11).
  18. Auf jeder Entwicklungsstufe des Wissenssystems wird etwas als “gegeben” oder "real” vorausgesetzt; die Voraussetzung der Existenz solcher Entitäten bleibt jedoch stets hypothetisch und steht insbesondere unter der Möglichkeit eingehenderer Analyse seiner Struktur und Genese; inbesondere muß natürlich ab initio angenommen werden, daß es überhaupt “irgendetwas" zu wissen gibt. EvG lehnt letztlich nur einen “Realismus" im Sinne des Glaubens an die Erlangbarkeit eines (apriorischen und letztbegründbaren) Wissens von der “Welt an sich“ (als einer vollständig erkenntnissubjektunabhängigen Entität) ab; er gesteht jedoch zu, daß es ontische Beschränkungen unserer Erkenntnis gibt, die festlegen, was uns unmöglich ist (d.h. die bestimmte Hypothesen als bloße Fiktionen und als nichtviabel erweisen). Vielleicht wird der (Typ des) Minimalrealismus bei EvG manchem Kritiker des Radikalen Konstruktivismus nicht immer deutlich genug, wobei letztere ihrerseits in aller Regel deutlich mehr als einen Minimalrealismus (und damit zu viel) postulieren (wie sich z.B. an den neuerdings bei einigen ehemaligen funktionalistischen Instrumentalisten wieder in Mode gekommenen “Realdispositionen” der “Natur* oder des “Geistes” zeigt).
  19. Siehe z.B. die Bestimmung identischer Foci für Farbbezeichnungen und die Forschung über Prototypen: Werlen, 1989, 168ff; Rosch, 1987, 274ff.
  20. Ernst Machs “Stabilität der Tatsachen" behält in dieser Perspektive ihre realistische Konnotation, auf die von Glasersfeld in seiner Interpretation gar nicht eingeht. ((32)), ((24)). ((27))
  21. Dieser genetische Aspekt wild von von Glasersfeld völlig ignoriert, wie er auch den Beitrag der Gehirnforschung zur Begründung des Radikalen Konstruktivismus nicht einbezieht.
  22. An dieser Stelle bietet sich die Verbindung der Piagetschen Handlungsanalyse mit der neurophysiologischen Gehirnforschung an, die die Parallelität von “Objektkontak“ im Handeln", “Bedeutungsaufbau” und "Aufbau des Nervensystems” aufweist, und in der plausibel werden kann, in welcher Weise “Objektbeschaffenheit” die Ausbildung neuronaler Muster (und damit den Bedeutungsgehalt von Kognitionen) beeinflussen kann: vgl. Meinefeld 1995, 139-141.
  23. Demnach konstruiert das isolierte Subjekt nach den Kriterien seines Erkenntnissystems - korrigiert nur durch sein Scheitern in der Welt - eine Wirklichkeitsvorstellung; aufgrund der Parallelität dieses Prozesses bei verschiedenen Individuen gelingt die Kommunikation in Form des wechselseitigen “Unterschiebens” von Bedeutungen, das - im Falle des Scheiterns in der Interaktion - ebenfalls modifiziert wird. (Von Glasersfeld 1988, 405f, 411ff, 416f, 421)
  24. Für eine Diskussion dieser Ansätze und für einen umfassenderen Entwurf des Erkenntnisprozesses siehe Meinefeld 1995, 145ff, 244-254
  25. Der Realist versucht dabei den Konstruktivisten häufig mit Hilfe von Beispielen aus dem Alltagsrealismus zu widerlegen, - genau jenem Bereich für den viele Konstruktivisten - nicht aber Glasersfeld - ihren Konstruktivismus suspendieren.
  26. Glasersfeld, E. von (1996). Radikaler Konstruktivismus: Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt: Suhrkamp. S. 193.
  27. Glasersfeld. E. von ( 1996). A.a.O., S. 324.
  28. Popper. K. (1983).' Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit, in: Franz Kreuzer (Hg.) Offene Gesellschaft - Offenes Universum, Wien: Deuticke 1983. S. 106.
  29. Zum Begriff der Technoscience vgl. Haraway 1997, Latour 1995.