Text:Michael Drieschner - Was ist die Wirklichkeit nun wirklich
Michael Drieschner – Was ist die Wirklichkeit nun wirklich?
((1)) Ich möchte hier nur auf einen, allerdings fundamentalen Gesichtpunkt eingehen, den der Wirklichkeit. Meine Position, die von Ernst von Glasersfelds etwas abweicht, fasse ich so zusammen: Wir konstruieren unsere Wirklichkeit nach Viabilitäten selbst; aber die so konstruierte Wirklichkeit ist dann auch die Wirklichkeit, es gibt keine andere “hinter” ihr.
((2)) Sehr plausibel ist mir, wie Glasersfeld in seinem Radikal-Konstruktivistischen Ansatz zeigt, daß wir uns die Wirklichkeit um uns herum selbst konstruieren, und zwar nach unseren Bedürfnissen für das Überleben - im weitesten Sinn. Wir wären nicht in der Lage, eine etwa angenommene an sich vorhandene Welt als solche unmittelbar aufzunehmen. Schon sehr viel weniger plausibel ist mir der Skeptizismus, den Glasersfeld mit diesem Radikal-Konstruktivistischen Ansatz verbindet. Und noch viel weniger plausibel ist mir alles das, was Glasersfeld zu einer “ontologischen Realität” ((58)) oder “Wahrheit und ‘Wahrheit im philosophischen Sinn’” ((64)) sagt.
((3)) Wir konstruieren, mit Hilfe unseres Nervensystems und dem damit zusammenhängenden eigenen Leib die Wirklichkeit so, daß sie uns “viables” Verhalten ermöglicht: Wir konstruieren sie so, daß wir z.B. beim Gehen nicht anstoßen. Unsere Fähigkeiten auf diesem Gebiet sind so gut ausgeprägt, daß wir uns auf diese Weise eine sehr komplexe Wirklichkeit konstruieren, die nicht nur Gegenstände enthält, um die wir herumgehen müssen, sondern - wie es Glasersfeld beschreibt - ein System von kognitiven Theorien, bis hin zu einem höchst komplexen sozialen System. Dieses System kann sich bewähren, und es wird sich wegen seiner Konstruktion aufgrund von Viabilitäten im allgemeinen auch bewähren; wo es sich nicht bewährt - wo vermeintliche Viabilitäten sich als falsch erweisen -, können wir es korrigieren. Die so von mir konstruierte Realität ist aber - Glasersfeld scheint das zu bezweifeln - die Realität. Es ist nicht zu sehen, was eine andere, meinetwegen “ontologische” Realität, wie Glasersfeld sie einführt, daneben noch soll. Diese weitere Realität käme in die Nähe von Kants “Ding an sich”: Nach Kant können wir die Welt nur so erkennen, wie sie uns erscheint; wir könnten über Erscheinungen manches sagen, “niemals aber das Mindeste von dem Dinge an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegen mag” (KrV 46, zitiert nach Glasersfeld 1987). Kant beschreibt die Welt der Erscheinung so ausführlich und überzeugend, daß man ihm schließlich gar nicht mehr recht abnimmt, daß dahinter ein unerkennbares Ding an sich sein muß - etwas, worüber man ohnehin nichts sagen kann.
((4)) Wenn wir "radikal” genug damit Ernst machen, daß wir so die Wirklichkeit konstruieren, dann sind wir auch wieder legitimiert, von einer objektiven Beschreibung der Welt zu sprechen, wie sie ein Beobachter dieser Welt geben würde. Wie würde man denn im Radikal-Konstruktivistischen Bild die von der Naturwissenschaft beschriebene objektive Welt ansiedeln? - In der Sicht des radikalen Konstruktivismus kann das ja auch nur eine Konstruktion sein, vielleicht etwas raffinierter als die von mir allein erzeugte, von hohem sozialen Konsens getragen, aber eben doch auch Konstruktion. In dieser Konstruktion käme nun u. a. eine Beschreibung von Nervensystemen vor, z. B. Ernst von Glasersfeld, wie er sich seine Umwelt entsprechend seiner neurophysiologischen Ausstattung und nach Maßgabe seiner Viabilitäten konstruiert; so, wie er es eben wirklich macht. Diese Beschreibung ist legitim als Teil meiner Konstruktion der Welt (über die ich mich mit anderen verständigen kann). - Dann bekommt sogar die “Korrespondenztheorie der Wahrheit” einen guten Sinn: Wenn G.s Konstruktion, wie er sie mir mitteilt, mit meiner Konstruktion an der betreffenden Stelle übereinstimmt, dann ist G.s Mitteilung (soweit ich es beurteilen kann) wahr. Dies trifft dann auch auf die Radikal-Konstruktivistische Sicht selber zu: Was E. v. Glasersfeld in seinen Schriften behauptet und m. E. ganz plausibel darstellt, ist Teil unserer gemeinsamen Konstruktion von Wirklichkeit, über deren Wahrheit wir uns verständigen können. - Wenn er aber am Schluß seines Aufsatzes schreibt: “Diese Denkweise hat keinen Anspruch auf ‘Wahrheit’ im philosophischen Sinn", dann entzieht er sich damit m. E. auf unfaire Weise der Härte der Diskussion. Denn in Wirklichkeit behauptet er ja zweifellos im Ernst das, was er behauptet; er beansprucht also, daß seine Behauptungen wahr seien - was sonst sollte Wahrheit bedeuten, in welchem “philosophischen Sinn” auch immer. Und die Wahrheit besteht hier darin, daß die Konstruktion, die er leistet, Teil der Wirklichkeit ist - nämlich der Wirklichkeit, die u.a. ich mir konstruiere, dabei aber getragen vom Netz der sozialen Zustimmung der scientific community, die ihrerseits, zweifellos, Teil der von mir konstruierten Wirklichkeit ist.
((5)) In diesem Zusammenhang sehe ich jedenfalls keinen Grund für eine besondere Skepsis. Denn wenn ich weiß, daß meine Wirklichkeit, die um mich herum ist, von mir in der von Glasersfeld beschriebenen Weise konstruiert ist, kann ich umso besser beurteilen, inwiefern sie verläßlich ist und inwiefern vielleicht nicht. Wenn ich ohnehin zur Skepsis neige, dann gibt mir diese Einsicht vielleicht einen Zugang zur besseren Prüfung der Wahrheit meiner Beschreibung; und wenn ich ohnehin nicht von Skeptizismus geplagt bin, dann gibt mir diese Einsicht auch keinen neuen Grund, mich von Stund an demselben hinzugeben.
Literatur
Glasersfeld E. v. (1987), Wissen ohne Erkenntnis. In: Pasternack G. (Hg,), Philosophie und Wissenschaften: Das Problem des Apriorismus. Frankfurt etc. (Lang)