Text:Michael Flacke – Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie oder sozialkonstruktivistische Praxis

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Michael Flacke – Radikal-Konstruktivistische Wissenstheorie oder sozialkonstruktivistische Praxis?

((1)) Wie kann man einen Autor kritisieren, der von sich selber sagt, daß er sich nicht streiten will? Ernst von Glasersfeld trifft diese Feststellung im Zusammenhang mit der Frage, ob man von der Gesellschaft sprechen kann, ohne ein Modell vom Einzelnen zu haben. Für ihn gilt als ausgemacht: “Wenn ich kein Modell habe, wie die Einzelnen funktionieren, dann hängt alles Gerede über Gesellschaft in der Luft. Das scheint mir unwiderleglich." [1]

((2)) Im Gegensatz zu diesen Radikal-Konstruktivistischen Überzeugungen hängt für die Vertreter des sozialen Konstruktivismus die Konzeption einer Wissenstheorie eng mit “der Aufgabe des Konzeptes der inneren Subjektivität”[2] zusammen. Die Auffassung, individuell Handelnde besäßen Vernunftkräfte, die es ermöglichen, Bedeutung, Sprache und Gesellschaft hervorzubringen, wird abgelöst von einer Theorie, die die linguistische Praxis der Kultur betont: "Die rationalistische Behauptung, daß der Verstand bestimmt, was wir für die Welt halten, wird nun wiederbelebt (ohne Aufforderung zum Solipsismus) in dem Vorschlag, daß unsere linguistischen Systeme die Weise bestimmen, in der wir die Welt verständlich machen.” [3]

((3)) Vor dem Hintergrund dieser beiden Positionen kann meine Kritik an Ernst von Glasersfelds Artikel über die “Radikal- Konstruktivistische Wissenstheorie” in zwei Thesen zusammengefaßt werden:

  • Glasersfelds Wissensbegriff führt zu einem solipsistischen Cartesianismus. Damit verbleibt er im Subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophischen Paradigma und handelt sich die Erklärungslast für Intersubjektivität und Kommunikation ein.
  • Die kohärente Ausformulierung einer konstruktivistischen Wissenstheorie führt zum sozialen Konstruktivismus, da Wissen immer sozial geteiltes Wissen, d.h. Ergebnis diskursiver Praxis ist.

Im folgenden sollen diese Thesen anhand des Textes von Glasersfeld erläutert werden.

((4)) Im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung will Glasersfeld ‘Wissen’ als “interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts” (l) auffassen. Dieses Wissenskonzept will er im folgenden “solide begründen” und “plausibel darstellen“. Es stellt sich die Frage, wie er diese Wissensauffassung begründen und darstellen will.

((5)) Um zu begründen, bedarf es eines Kriteriums (eines Grundes), welches die Angemessenheit dieses Wissenskonzeptes garantiert. Dieses Kriterium kann nicht außerhalb des Subjekts liegen, da alles, was man überhaupt weiß, interne Konstruktion ist. Welches ‘interne’ Kriterium kann Begründungslasten übernehmen?

((6)) Hierrekurriert Glasersfeld auf den Wert praktischen Wissens. Praxis ist das Wissen, “das der handelnde Mensch aufgrund der Erfahrung aufbaut und täglich benützt” (15). Auch wissenschaftliches Wissen kann seine Begründung nicht durch Bezug auf externe metaphysische Annahmen erhalten, es muß “nicht nur in der Lebenswelt brauchbar sein, es muß(te) auch in ihr gefunden werden”(22). ‘Lebenswelt’ meint hier wohl die individuelle Biographie eines Wissenschaft treibenden Subjekts.

((7)) Glasersfeld versucht im folgenden, diese Praxis als individuelles Erleben zu beschreiben. Anhand von Piagets Schematheorie wird eine Theorie praktischen Lernens entwickelt, die Anpassung als internen Prozeß der Äquilibration beschreibt. Worauf es bei der Anpassung ankommt, ist nicht die Abänderung eines Inputs von der Außenwelt, sondern “wie der Organismus die gegebene Situation wahrnimmt’’ (30) und wie aufgrund aktiver, assimilierender Wahrnehmung die Stabilität des eigenen Wissens erzeugt wird. In diesem Zusammenhang zitiert Glasersfeld Ernst Mach.[4] Demnach beruhe auch bei Mach die Stabilität der Wahrnehmung und des Wissens auf der (internen) “Stabilität der Gedanken (Mach, 1917, p.283-84)” (32). Liest man in Machs ‘Erkenntnis und Irrtum’ aber weiter, so folgt auf die zitierte Passage: “Die letztere Stabilität (die der Gedanken, M.F.) läßt auf die erstere (die der Tatsachen, M.F.) schließen, setzt die erstere voraus, ist von der ersteren ein Teil”(S. 284). Gerade bei Mach lassen sich Individuum, Wissen, Sprache und Welt nur schwer voneinander trennen. Piaget andererseits rekurriert bei der Beschreibung der kognitiven Konstruktivität von Individuen auf gesellschaftliche Zusammenhänge: “Dem Individuum gelingen seine Erfindungen oder intellektuellen Konstruktionen nur in dem Maße, in dem es selbst ein Ort kollektiver Interaktionen ist, deren Niveau und Wert natürlich von der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit abhängen.” [5]

((8)) Es fällt schwer, für die gelungene Begründung des Wissens als interner Konstruktion historische Belege anzuführen. Glasersfeld unternimmt einen neuen Anlauf. Beim Spracherwerb konzediert er zwar, daß die Sozialpsychologen völlig recht haben, “wenn sie sagen, daß die Bedeutungen von Wörtern in der Gesellschaft ‘ausgehandelt’ werden”(42). Wichtiger sei jedoch, daß das Material, aus dem die Bedeutung besteht, immer aus der subjektiven Erfahrung stamme. Als Beispiele führt Glasersfeld den Erwerb solcher Konzepte wie ‘Mehrzahl’ und 'Objektkonstanz’ an, die nun mal nicht in der externen Welt zu entdecken seien. Allein die Viabilität dieser Konzepte für das subjektive Erleben sei entscheidend für den Aufbau des Wissens und begründe die Stabilität der jeweiligen Begriffe. Zumindest unklar wird diese interne Begriffserzeugung jedoch, wenn Glasersfeld einige Absätze später schreibt, daß “Piagets Idee der Objektpermanenz... einem Subjekt ... zugeschrieben werden” (49) kann, ‘Zuschreiben’ kann man nur, was als objektives Ergebnis empirischer Untersuchung - unabhängig vom subjektiven Erleben - vorhanden ist.

((9)) Zusammenfassend charakterisiert Glasersfeld am Ende seines Artikels Wissen als “das Repertoire von Handlungen und Operationen.... das kognitive Subjekte im Rahmen ihrer Erlebnisbereiche konstmieren” (57). Bestätigt wird dies Wissen durch seine “Brauchbarkeit angesichts der Hindernisse, denen wir beim Verfolgen unserer Ziele begegnen”(58). Diese Hindernisse sind natürlich nicht ontologischer Art. Sie sind das, was sich - für das erlebende Subjekt - als nicht-brauchbar erweist, womit Wissen, als ‘interne Konstruktion’, durch Viabilität, als 'internes Kriterium’, zirkulär begründet wird.

((10)) Wieso ist Glasersfelds Position als ‘solipsistischer Cartesianismus’ zu bezeichnen? Glasersfeld geht von einem Subjekt aus, das Gründe hat, an allen Weltreferenzen zu zweifeln. Woran es schließlich nicht zweifeln kann, ist die Tatsache, daß es zweifelt bzw. gerade dieser Zweifel das eigene, viable Erleben ausmacht. Damit gewinnt der Zweifel eine begründende Funktion. Er führt zu allen möglichen zirkulären Begründungen des Wissens als ‘interner Konstruktion’, einer so¬ lipsistischen Begründung aus sich selbst heraus, die ohne Berufung auf fremde Instanzen und Autoritäten eine stabile Grundlage garantiert, wenngleich diese Grundlage nicht als ontologisches ‘fundamentum inconcussum’ verstanden werden soll. Überflüssig zu bemerken, daß für Glasersfeld “die Vernunft die einzig richtige Quelle des Wissens ist.” [6]

((11)) Glasersfeld gibt (ungewollt?) am Ende seines Artikels selber Hinweise darauf, warum man als (Radikaler) Konstruktivist nicht in diesem solipsistischen Begründungszirkel gefangen bleiben muß. Wenn “das wichtigste Anwendungsgebiet des Konstruktivismus im täglichen Leben”(60) besteht, dann sind andere, mit denen man darüber diskutieren kann, “ob die eine oder andere Handlungs- oder Denkweise voraussichtlich zu dem gemeinsam erwünschten Ziel führen wird” (ebd.), nicht mehr fern. Dann wird das eigene Erleben eingebettet in intersubjektive Praxis, in deren Rahmen “Toleranz” und “Verhaltensregeln”, die “in der Gesellschaft ausgehandelt werden” (63) müssen, überhaupt nur Sinn machen.

((12)) Dies ist der Einsatzpunkt des sozialen Konstruktivismus. Für Kenneth J. Gergen gehört das moderne Subjekt (Glasersfelds erlebendes Individuum) einer vergangenen Epoche an. Die Moderne kannte das Subjekt als vernunftbegabte, intern kohärente und durch zahllose, nahezu unveränderbare Persönlichkeitseigenschaften charakterisierte Einheit. In Zeiten der ‚Postmodeme’ wird diese Beschreibung des Menschen aufgegeben. Nun erscheint das Subjekt durch seine Beziehungen definiert, wird durch Einstellungen, Wertvorstellungen, Ideologien und Lebensweisen anderer bestimmt, nimmt diese in sich auf, wird in zunehmendem Maße mit anderen Menschen ‘besetzt’. Gergen folgert hieraus: “Wenn Individuen das Resultat von Beziehungen sind, dann muß man daraus schließen, daß Beziehungen grundlegender sind als Individuen. Die Individuen sind nur Bestandteile der viel fundamentaleren Einheit der Beziehung.” [7]

((13)) Mit den ‘Beziehungen’ muß die intersubjektive Praxis zum Ausgangspunkt der konstruktivistischen Wissenstheorie gemacht werden. Gergen zieht die Konsequenzen aus Foucaults Archäologie des Wissens und Denidas Dekonstruktion der individuellen Subjektivität. Seine Analyse des ’postmodernen Selbst‘ macht klar, daß es “kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis”[8] gibt, daß Wissen nur durch ‘Aushandeln’ in kommunalen Systemen entsteht und begründet wird. Praxis ist immer sozial geteilte Praxis. Davon geht stillschweigend auch Ernst von Glasersfeld aus, wenn er seinen Artikel mit den Worten beschließt, daß sich der “Wert (der radikal konstruktivistischen Denkweise, M.F.)... nur in der Praxis denkender Individuen erweisen kann.”(64) Welchen Sinn sollte dieser Satz machen, wenn diese Praxis wiederum nichts anderes als die ‘interne Konstruktion’ eines Individuums ist? [9]

  1. Drittes Siegen« Gespräch über Radikalen Konstruktivismus, Ernst von Glasersfeld im Gespräch mit LUMIS, in: Ernst von Glasersfeld; Radikaler Konstruktivismus- Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt 1997, S. 310- 361, Zitat S. 348.
  2. Kenneth J. Gergen: Von der sozialer, Phänomenologie zum sozialen Konstruktivismus, in: Herzog, Max/Graumann Carl, F. (Hg.): Sinn und Erfahrung. Phänomenologische Methoden in den Human Wissenschaften. Heidelberg 1991. S. 133-151, Zitat S. 143.
  3. Geigen, a.a.0., S. 143.
  4. Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1917.
  5. Jean Piaget: Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen, Frankfurt 1974, S. 378.
  6. Glasersfeld, a.a.0., S. 329.
  7. Kenneth J. Geigen: Die Konstruktion des Selbst im Zeitalter der Postmoderne, in: Psychologische Rundschau 41 (1990), S. 191-199, Zitat S. 197.
  8. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, S. 260.
  9. Daß der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus mittlerweile zwischen den beiden Polen des individuellen Erlebens und der sozial geteilten Praxis oszilliert, zeigen schon die Buchtitel der letzten Jahre. Vgl. zJ). Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, Frankfurt 1994, Zu Schmidts Einschätzung der Lage folgendes Zitat: „Ohne aktive kognitive Systeme keine Sinnkonstruktion, aber auch keine Sinnkonstruktion ohne sozio-kulturelle ,Regeln‘.“(S. 29).