Gerhard Grössing – Globale Bilder in lokalen Farben

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Gerhard Grössing – Globale Bilder in lokalen Farben
Title Gerhard Grössing – Globale Bilder in lokalen Farben
Author Gerhard Grössing
Date of Publication 1998
Published in Ethik und Sozialwissenschaften
Location Opladen/Deutschland
File:Gerhard Grössing – Globale Bilder in lokalen Farben.pdf
Gerhard Grössing – Globale Bilder in lokalen Farben



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Gerhard Grössing – Globale Bilder in lokalen Farben

((1)) Selbst in vergleichsweise kleinen Kreisen, die sich eingehend mit epistemologischen oder ontologischen Grundsatzfragen beschäftigen, gilt das von Zygmunt Bauman (1995) formulierte Gesetz, daß “die öffentliche Aufmerksamkeit die knappste aller Waren” ist. Dies bedeutet auch, daß - heute vermutlich mehr denn je - für das “kulturelle Gedächtnis” (Jan Assmann 1992) in jeder Generation eine “Auffrischung” selbst von Erkenntnissen oder Einsichten vonnöten ist, die eine oder mehrere Generationen zuvor als selbstverständliche kulturelle Errungenschaft gegolten hat. So ist zu verstehen, warum es noch immer und schon wieder einen Streit um den Begriff der “ontischen Wahrheit” gibt.

((2)) Man wäre sicherlich erstaunt, wie hoch etwa unter Physikern der Prozentsatz jener ist, die noch immer am Phantasma der “einen Wahrheit” festhalten. Aber auch eine radikale Gegenposition, die ausschließlich (soziale u.a.) “Konstruktionen” physikalischer Sachverhalte anerkennen will (wie z.B. Bruno Latour 1993), übersieht, daß die Physik numerische Daten sammelt, die zumeist per se kontextfreie Verhältnisgrößen repräsentieren[1], und diese Daten in durchwegs kontext-gebundenen narrativen Schablonen oder “Erzählungen” (d.h, in den Theorien mit ihren “Prinzipien”, “Naturgesetzen”, etc.) miteinander verknüpft. Man könnte auch von einem hermeneutisch-zirkulären Verhältnis zwischen Empirie und Prinzipien sprechen, wobei wichtig ist, daß nicht eine der beiden Seiten als die “fundamentalere” angesehen wird.

((3)) Dies führt uns zur Kybernetik und zu Ernst von Glasersfelds Erwähnung eines “grundlegenden konstruktivistischen Prinzips" bei Jean Piaget, “daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget 1937, p.311)...” ((36)). Nun sind im Laufe eines Forscherlebens durchaus Entwicklungen anzunehmen, die mitunter zu mehr oder weniger geringfügigen Verschiebungen oder Korrekturen führen und somit ein Lebenswerk üblicherweise nicht in einem Guß modellieren lassen. In diesem Sinn würde mir der zitierte Rekurs auf Piaget als etwas zu verkürzte Darstellung seines “konstruktivistischen Prinzips” erscheinen. In Biologie und Erkenntnis beschreibt nämlich Piaget 1974 organische und kognitive Regulationen in aufeinander bezogenen Evolutionsstadien, wobei deren Verlauf gleichermaßen von endogenen wie von Umweltfaktoren gesteuert wird: “Die kognitiven Prozesse erscheinen ... zugleich als die Resultante der organischen Selbstregelung, deren Hauptmechanismen sie reflektieren, und als die differenziertesten Organe dieser Regulation innerhalb der Interaktion mit der Außenwelt.” (S. 27) Dies entspricht einer grundsätzlich dynamischen Sichtweise der Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt: “Die Erkenntnisse kommen tatsächlich weder aus dem Subjekt (somatische Erkenntnis oder Introspektion) noch aus dem Objekt (denn die Wahrnehmung selbst besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Organisation), sondern aus den anfangs ebenso durch die spontanen Aktivitäten des Organismus wie durch äußere Reize in Gang gebrachten Interaktionen zwischen Subjekt und Objekt.” (S. 29)

((4)) Diese Kernaussagen Piagets legen eine ausgewogene Balance zwischen internen und externen Determinanten der Kognition nahe, die eine entsprechende wechselseitig ko-determinierte Geschichte zur Folge hat. Demgegenüber schreibt Ernst von Glasersfeld: “Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, daß wir sie nicht rational erfassen können.” ((58)) Hier würde ich gerne das Wort “rational" durch “vollständig" ersetzt sehen. Denn einerseits ist auch die mögliche Implikation, daß wir Realität anders als rational - also etwa “irrational" - “erfassen” könnten, zweifelhaft, andererseits wäre die generelle Unmöglichkeit eines vollständigen Erfassens der Realität methoden-unabhängig und ließe die Möglichkeit eines temporären und/ oder teilweisen Erfassens offen. Dies scheint mit dem Hinweis auf die Historizität der Kognition mehr als plausibel, ja nachgerade unabdingbar: Da es überhaupt lebensfähige und viable Formen der Kognition gibt, müssen die “inneren” Prozesse ein “Echo” von Prozessen beinhalten, die sich in der Außenwelt abspielen. Beliebige Viabilitäten lassen sich nicht einfach ausdenken. [2] Und: Wie anders als über - zumindest teilweise - gegenseitige Abstimmung zwischen inneren und äußeren Prozessen könnten sich überhaupt komplexere biologische “Kognitionsapparate” entwickelt haben?

((5)) Abgesehen von der eingangs erwähnten Notwendigkeit permanenten “Auffrischens” kultureller Errungenschaften, zu denen zweifellos auch die Einsichten in die konstruktive Natur kognitiver Prozesse gehören, stellt sich aber heute die Frage nach weiteiführenden Konsequenzen. Die binäre Opposition zwischen “Realismus” und “Konstruktivismus” ist schon längst zu einfach, um den akademischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre auch nur in einer Kurzformel Rechnung tragen zu können. Die dominante Frage ist nicht mehr, zu welchem “Lager” man sich heute eher zählen würde, sondern wohin die Gesamtentwicklung der Diskussionen tendiert. Das von J.-F. Lyotard (1979) ausgerufene Ende der “großen Erzählungen” und die entsprechende Aufwertung “lokalen Wissens” in der Gefolgschaft von Clifford Geertz (1983) und anderen hat dazu geführt daß heute Heterogenität als die einzig adäquate Herangehensweise an komplexe Themenbereiche gilt, in eindeutiger Abgrenzung zur kohärenten, monolithischen Gesamt-Erzählung in einem globalen Bild.

((6)) In einer Sondernummer der Zeitschrift Configurations (Frühling 1998) zum Thema “The Scientific Revolution as Narrative” schreibt Peter Dear unter Verwendung des Begriffs der master narrative {Haupt-Erzählung) anstelle der Ausschließlichkeit beanspruchenden Großen Erzählung, daß es heute darum gehe, multiple master narratives zu erzeugen: “[A]ny single narrative necessarily forgrounds some things and backgrounds others, but there should be no Suggestion that any such narrative by itself exhorts everything of importance in the period and place under examination.” (S. 172) Haupt-Erzählungen wären also gewissermaßen “relativierte Große Erzählungen” und als solche mitunter von größerer Bedeutung (z.B. für die Wissenschaftsgeschichte) als ein Ballast von Marginalien lokalen Wissens. In bezug auf entsprechende Tendenzen in der neueren Wissenschaftstheorie und -Geschichte könnte man auch von “Großen Erzählungen mit lokaler Einfärbung” sprechen. Diese neueren Arbeiten, etwa von der Edinburgh-Schule, Bruno Latour oder Karin Knorr-Cetina, liefern nicht wirklich “lokale Erzählungen” über wissenschaftliche Praktiken, und zwar aus dem einfachen Grund, daß ihr soziologischer Ansatz insgesamt effektiv “paradigmatisch” geworden ist: eine Große Erzählung über die Lokalität von Wissen und Wissenserwerb.

((7)) Wir sehen uns also heute in einer Situation, in der Große Erzählungen "lokalen Sinn” machen - was, rückblickend auf die Geschichte, im Grunde ohnehin nie anders war. Es ist bloß das Bewußtsein für die Begrenztheit jeglicher Großen Erzählung aufgrund ihrer kontext-situierten und konstruktiven Natur enorm gewachsen. Daß sie dennoch, oft mit weitreichendem Anspruch, zu viablen Lösungen führt, spricht für eine “real” verankerte Kongruenz zwischen dem Werden der Erzählung und dem Geschehen des Erzählten, die sich nicht auf eine der beiden Ebenen reduzieren läßt.

((8)) Gleichermaßen gilt es, die grundsätzlich dynamische Bedingtheit des hermeneutischen Zirkels anzuerkennen. Auch wenn wir globale Bilder mit lokalen Farben malen, entscheidet erst die Auswahl eines bestimmten Auflösungsbereiches, was wir sehen werden: Konzentrieren wir uns auf eine lokale Färbung und steigern die Auflösung bis zur mikroskopischen Wahrnehmung der Materialität des verwendeten Stoffes, kann das Gesehene unversehens in etwas Globales umkippen, das wir uns wiederum in anderen Farben auszumalen hätten, und so weiter....

Literatur

Assmann, J. (1992). Das kulturelle Gedächtnis. München.
Bauman, Z. (1995). Ansichten der Postmodeme. Hamburg - Berlin.
Dear, P. (1998). Mathematical Principles of Natural Philosophy. Configurations 6, 2 (1998) 171 - 193.
Geertz. C. (1983). Local Knowledge. New York.
Latour, B. (1993). We have never been modern.
Cambridge. Lyotard. J.-F. (1979). La condition postmoderne. Paris.
Piaget, J. (1974). Biologie und Erkenntnis. Frankfurt am Main.

ArgumentationFremd
((4)) Diese Kernaussagen Piagets legen eine ausgewogene Balance zwischen internen und externen Determinanten der Kognition nahe, die eine entsprechende wechselseitig ko-determinierte Geschichte zur Folge hat. Demgegenüber schreibt Ernst von Glasersfeld: “Der Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, daß wir sie nicht rational erfassen können.” ((58)) Hier würde ich gerne das Wort “rational" durch “vollständig" ersetzt sehen. Denn einerseits ist auch die mögliche Implikation, daß wir Realität anders als rational - also etwa “irrational" - “erfassen” könnten, zweifelhaft, andererseits wäre die generelle Unmöglichkeit eines vollständigen Erfassens der Realität methoden-unabhängig und ließe die Möglichkeit eines temporären und/ oder teilweisen Erfassens offen. Dies scheint mit dem Hinweis auf die Historizität der Kognition mehr als plausibel, ja nachgerade unabdingbar: Da es überhaupt lebensfähige und viable Formen der Kognition gibt, müssen die “inneren” Prozesse ein “Echo” von Prozessen beinhalten, die sich in der Außenwelt abspielen. Beliebige Viabilitäten lassen sich nicht einfach ausdenken. [2] Und: Wie anders als über - zumindest teilweise - gegenseitige Abstimmung zwischen inneren und äußeren Prozessen könnten sich überhaupt komplexere biologische “Kognitionsapparate” entwickelt haben?
ArgumentationFremd
((3)) Dies führt uns zur Kybernetik und zu Ernst von Glasersfelds Erwähnung eines “grundlegenden konstruktivistischen Prinzips" bei Jean Piaget, “daß der menschliche Verstand die Wirklichkeit organisiert, indem er sich selbst organisiert (Piaget 1937, p.311)...” ((36)). Nun sind im Laufe eines Forscherlebens durchaus Entwicklungen anzunehmen, die mitunter zu mehr oder weniger geringfügigen Verschiebungen oder Korrekturen führen und somit ein Lebenswerk üblicherweise nicht in einem Guß modellieren lassen. In diesem Sinn würde mir der zitierte Rekurs auf Piaget als etwas zu verkürzte Darstellung seines “konstruktivistischen Prinzips” erscheinen. In Biologie und Erkenntnis beschreibt nämlich Piaget 1974 organische und kognitive Regulationen in aufeinander bezogenen Evolutionsstadien, wobei deren Verlauf gleichermaßen von endogenen wie von Umweltfaktoren gesteuert wird: “Die kognitiven Prozesse erscheinen ... zugleich als die Resultante der organischen Selbstregelung, deren Hauptmechanismen sie reflektieren, und als die differenziertesten Organe dieser Regulation innerhalb der Interaktion mit der Außenwelt.” (S. 27) Dies entspricht einer grundsätzlich dynamischen Sichtweise der Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt: “Die Erkenntnisse kommen tatsächlich weder aus dem Subjekt (somatische Erkenntnis oder Introspektion) noch aus dem Objekt (denn die Wahrnehmung selbst besteht zu einem beträchtlichen Teil aus Organisation), sondern aus den anfangs ebenso durch die spontanen Aktivitäten des Organismus wie durch äußere Reize in Gang gebrachten Interaktionen zwischen Subjekt und Objekt.” (S. 29)
  1. Dazu gehören auch die meisten in der Technik umgesetzten numerischen Daten. Wäre der in der Raketensteuerung implementierte Wert der Erdbeschleunigung nur um Promille größer oder kleiner, so könnte damit kein gewünschtes interplanetarisches Reiseziel erreicht werden. Multiple “Vtabilitat” als Alternative zur einen ontischen Wahrheit kann daher nur für kontextgebundene Prinzipien angenommen werden. Im Bereich der numerischen Daten bzw. Verhältnisgrößen ist hingegen nur ein “faktischer" Wert "viabel”.
  2. Hinsichtlich virtueller Realitäten ist dies freilich anders: Diese sind ja schon “ausgedachte” Erlebniswelten mit ihren eigenen, beliebig konstruierbaren Gesetzen. Bei einem Erdbeben wäre es allerdings vorteilhaft, die VR- Brille abzunehmen und ins reelle Freie zu laufen.